Portrait von Ellen White
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Vorwort
Vorwort
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Was bedeuten die Vorgänge in der geistigen und religiösen Welt, die sich heute vor unseren Augen abspielen? Welches sind die Hintergründe der gewaltigen Umwälzungen, deren Zeuge wir sind? Welche Kräfte waren in der Vergangenheit am Werk, um im Geisteskampf der Gegenwart jene ungeheuren Spannungen hervorzurufen, in deren Kraftfeld wir hineingezogen sind? Wohin wird die Entwicklung schließlich führen? Was steht uns im weltweiten Ringen der verschiedenen Weltanschauungen und religiösen Systeme in allernächster Zukunft bevor? GK.5.1 Teilen

Das sind Fragen, die in unserer aufgewühlten Zeit jeden nachdenklichen Menschen bewegen, — Fragen, die das vorliegende Buch nicht nur zu beantworten versucht, sondern auf die es Antworten von seltener Klarheit und Überzeugungskraft, schlechthin die Antwort bereithält. Der gottbegnadeten Verfasserin ist eine Schau welt-, geistes- und kirchengeschichtlicher Entwicklungen geschenkt worden, die ihresgleichen sucht. Von jeher haben sich die scharfsinnigsten Denker und Forscher bemüht, den Schleier zu lüften, der über viele welt- und kirchengeschichtliche Ereignisse gebreitet ist und sie anscheinend in ein undurchdringliches Dunkel hüllt. Über die widerspruchsvollsten Mutmaßungen sind sie dabei fast nie hinausgekommen. Mit der vorliegenden Darstellung welt- und kirchengeschichtlicher Entwicklungen ist uns dagegen ein Buch in die Hand gegeben, das wirklich die Hintergründe aufhellt, das uns in geistige und religiöse Zusammenhänge Einblicke vermittelt, die jenseits aller menschlichen Spekulationen liegen. GK.5.2 Teilen

Was besonders überrascht, ist, dass diese geraffte Darstellung des inneren Ablaufs der Kirchengeschichte, die bereits am Ende des vergangenen Jahrhunderts entstanden ist, auch heute noch nichts von ihrer Ursprünglichkeit und Leuchtkraft eingebüßt hat. Neuere Forschungen und jüngste Erkenntnisse mögen auf die geschilderten Vorgänge ein zusätzliches Licht geworfen haben; die scharf gezeichneten Linien der Schau dieses Buches aber haben sich bis in unsere Tage hinein bestätigt und durch letzte Entwicklungen gleichsam als prophetisch erwiesen. Gerade diese Tatsache hat den Verlag bewogen, auf vielfachen Wunsch das Werk neu herauszugeben, nachdem es in der Zwischenzeit durch Übersetzungen in viele andere Sprachen eine segensreiche Wirkung entfaltet hat. GK.5.3 Teilen

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So möge denn dieses Buch, das sich im Laufe der Jahre viele Freunde im In- und Ausland erworben hat, auch in seiner neuen Gestalt den Menschen unserer Zeit die Augen öffnen für die Bedeutung all der Geschehnisse, die oft so verwirrend und furchterregend auf sie einstürmen, und ihnen Kraft und Mut geben, durch alle Ungewitter der Gegenwart und Zukunft hindurch unbeirrt auf das Ziel zuzusteuern, das allen Kampf und jedes Opfer lohnt! GK.6.1 Teilen

Der Verleger GK.6 Teilen

Einführung
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Ehe die Sünde in die Welt kam, erfreute sich Adam eines freien Verkehrs mit seinem Schöpfer; doch seit der Mensch sich durch die Übertretung von Gott trennte, wurde ihm diese hohe Segnung entzogen. Im Erlösungsplan entstand jedoch ein Weg, durch den die Bewohner der Erde noch immer mit dem Himmel in Verbindung treten können. Gott war durch seinen Geist mit den Menschen verbunden. Indem er sich seinen erwählten Dienern offenbarte, vermittelte er der Welt göttliches Licht. „Die heiligen Menschen Gottes haben geredet, getrieben von dem Heiligen Geist.“ 2.Petrus 1,21. GK.7.1 Teilen

Während der ersten 2500 Jahre der menschlichen Geschichte gab es keine geschriebene Offenbarung. Die Gott gelehrt hatte, teilten ihre Erkenntnis andern mit, die vom Vater über den Sohn auf die folgenden Geschlechter überliefert wurde. Die Niederschrift des überlieferten Wortes begann zurzeit Moses. Die vom Geist Gottes eingegebenen Offenbarungen wurden damals zu einem Buch vereinigt, dessen Worte von Gottes Geist durchweht waren. Dies wiederholte sich während eines Zeitraumes von 1600 Jahren, beginnend mit Mose, dem Geschichtsschreiber der Schöpfung und der Gesetzgebung, bis zu Johannes, dem Schreiber der erhabensten Wahrheiten des Evangeliums. GK.7.2 Teilen

Die Heilige Schrift bezeichnet Gott als ihren Urheber; doch sie wurde von Menschenhand geschrieben und zeigt auch in dem verschiedenartigen Stil ihrer einzelnen Bücher die wesenseigenen Züge der jeweiligen Verfasser. Ihre offenbarten Wahrheiten sind alle von Gott eingegeben, werden aber in menschlichen Worten ausgedrückt. Der Unendliche hat durch seinen Heiligen Geist den Verstand und das Herz seiner Diener erleuchtet. Er hat Träume und Gesichte, Symbole und Bilder gegeben, und alle, denen die Wahrheit auf diese Weise offenbart wurde, haben die Gedanken mit ihren Worten zum Ausdruck gebracht. GK.7.3 Teilen

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Die zehn Gebote sprach und schrieb Gott selbst. Sie sind göttlichen und nicht menschlichen Ursprungs. Die Heilige Schrift aber, mit ihren von Gott eingegebenen, in menschlichen Worten ausgedrückten Wahrheiten, stellt eine Verbindung des Göttlichen mit dem Menschlichen dar. Eine solche Verbindung bestand in Christus, der der Sohn Gottes und eines Menschen Sohn war. Mithin gilt von der Heiligen Schrift, was auch von Christus geschrieben steht: „Das Wort war Fleisch und wohnte unter uns.“ Johannes 1,14. GK.8.1 Teilen

In verschiedenen Zeitaltern von Menschen geschrieben, die ihrer gesellschaftlichen Stellung, ihrem Beruf, ihren geistigen und geistlichen Fähigkeiten nach sehr ungleich waren, sind die Bücher der Heiligen Schrift nicht nur besonders unterschiedlich in ihrem Stil, sondern auch mannigfaltig in der Art des dargebotenen Stoffes. Die verschiedenen Schreiber bedienten sich verschiedener Ausdrucksweisen; oft wird die gleiche Wahrheit von dem einen nachdrücklicher betont als von dem andern. Und wo mehrere Schreiber denselben Fall unter verschiedenen Gesichtspunkten und Beziehungen betrachten, mag der oberflächliche, nachlässige oder vorurteilsvolle Leser da Ungereimtheiten oder Widersprüche sehen, wo der nachdenkende, gottesfürchtige Forscher mit klarerer Einsicht die zugrunde liegende Übereinstimmung erblickt. GK.8.2 Teilen

Da verschiedene Persönlichkeiten die Wahrheit dargelegt haben, sehen wir sie auch unter deren verschiedenen Gesichtspunkten. Der eine Schreiber zeigt sich von der einen Seite des Gegenstandes stärker beeindruckt; er erfaßt die Dinge, die mit seiner Erfahrung oder mit seinem Verständnis und seiner Vorstellung übereinstimmen. Ein zweiter nimmt sie unter einem anderen Blickwinkel auf, aber jeder stellt unter der Leitung des Geistes Gottes das dar, was sein Gemüt am stärksten beeindruckt. So hat man in jedem eine bestimmte Seite der Wahrheit und doch eine vollkommene Übereinstimmung in allem. Die auf diese Weise offenbarten Wahrheiten verbinden sich zu einem vollkommenen Ganzen, das den Bedürfnissen der Menschen in allen Verhältnissen und Erfahrungen des Lebens angepaßt ist. GK.8.3 Teilen

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Es war Gottes Wille, der Welt die Wahrheit durch menschliche Werkzeuge mitzuteilen. Er selbst hat durch seinen Heiligen Geist die Menschen befähigt, diese Aufgabe durchzuführen. Was zu reden oder zu schreiben war, zu dieser Auswahl hat er die Gedanken geleitet. Der Schatz war irdischen Gefäßen anvertraut worden, aber nichtsdestoweniger ist er vom Himmel. Das Zeugnis wird mit Hilfe unvollkommener, menschlicher Worte mitgeteilt und ist dennoch das Zeugnis Gottes. Das gehorsame, gläubige Gotteskind sieht darin die Herrlichkeit einer göttlichen Macht voller Gnade und Wahrheit. GK.9.1 Teilen

In seinem Wort hat Gott den Menschen die für das Seelenheil nötige Erkenntnis anvertraut. Die Heilige Schrift soll als eine maßgebende, untrügliche Offenbarung seines Willens angenommen werden. Sie ist der Maßstab für den Charakter, die Verkünderin der Grundsätze, der Prüfstein der Erfahrung. „Alle Schrift, von Gott eingegeben, ist nütze zur Lehre, zur Strafe, zur Besserung, zur Züchtigung in der Gerechtigkeit, dass ein Mensch Gottes sei vollkommen, zu allem guten Werk geschickt.“ 2.Timotheus 3,16.17. GK.9.2 Teilen

Doch die Tatsache, dass Gott den Menschen seinen Willen durch sein Wort offenbart hat, ließ die beständige Gegenwart des Heiligen Geistes und seine Führung nicht überflüssig werden. Im Gegenteil, unser Heiland verhieß den Heiligen Geist, damit dieser seinen Dienern das Wort erschließe, dessen Lehren erhelle und bei ihrer Verwirklichung helfe. Da Gottes Geist die Heilige Schrift durchweht, ist es auch unmöglich, dass die Lehren des Geistes der Schrift je entgegen sein können. GK.9.3 Teilen

Der Geist wurde nicht gegeben — und kann auch nie dazu verliehen werden —, um die Heilige Schrift zu verdrängen; denn die Schrift erklärt ausdrücklich, dass das Wort Gottes der Maßstab ist, an dem alle Lehren und jede Erfahrung geprüft werden müssen. Der Apostel Johannes sagt: „Glaubet nicht einem jeglichen Geist, sondern prüfet die Geister, ob sie von Gott sind; denn es sind viel falsche Propheten ausgegangen in die Welt.“ 1.Johannes 4,1. Und Jesaja erklärt: „Ja, nach dem Gesetz und Zeugnis! Werden sie das nicht sagen, so werden sie die Morgenröte nicht haben.“ Jesaja 8,20. GK.9.4 Teilen

Durch die Irrtümer etlicher Menschen ist auf das Werk des Heiligen Geistes große Schmach geworfen worden. Sie beanspruchen, von ihm erleuchtet zu sein, und behaupten, einer weiteren Führung nach Gottes Wort nicht mehr zu bedürfen. Sie lassen sich von Eindrücken leiten, die sie für die Stimme Gottes im Herzen halten, aber der Geist, der sie beherrscht, ist nicht der Geist Gottes. Gefühlen nachzugeben, durch die das Studium der Heiligen Schrift vernachlässigt wird, kann nur zu Verwirrung, Täuschung und Verderben führen. Sie dienen nur dazu, die Vorhaben des Bösen zu fördern. Da die Wirksamkeit des Heiligen Geistes für die Gemeinde Christi außerordentlich bedeutsam ist, gehört es auch zu den listigen Anschlägen Satans, durch die Irrtümer der Überspannten und Schwärmer das Werk des Geistes zu schmähen und das Volk Gottes zu veranlassen, diese Kraftquelle, die uns der Herr selbst gegeben hat, zu vernachlässigen. GK.9.5 Teilen

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In Übereinstimmung mit dem Worte Gottes sollte der Heilige Geist seine Aufgabe während der ganzen Zeit der Evangeliumsverkündigung fortsetzen. Selbst in der Zeit, da die Schriften des Alten und des Neuen Testamentes gegeben wurden, hörte der Heilige Geist, abgesehen von den Offenbarungen, die dem heiligen Buche hinzugefügt werden sollten, nicht auf, auch die Seelen einzelner zu erleuchten. Die Heilige Schrift berichtet, dass Menschen durch den Heiligen Geist in Angelegenheiten, die in keiner Beziehung zur Übermittlung der Heiligen Schrift standen, gewarnt, getadelt, beraten und belehrt wurden. Zu verschiedenen Zeiten werden Propheten erwähnt, über deren Wirksamkeit nichts verzeichnet steht. Gleicherweise sollte auch nach Zusammenstellung des Kanons der Schrift der Heilige Geist seine Aufgabe, zu erleuchten, zu warnen und Gottes Kinder zu trösten, weiterführen. GK.10.1 Teilen

Jesus verhieß seinen Jüngern: „Aber der Tröster, der Heilige Geist, welchen mein Vater senden wird in meinem Namen, der wird euch alles lehren und euch erinnern alles des, das ich euch gesagt habe.“ Johannes 14,26. „Wenn aber jener, der Geist der Wahrheit, kommen wird, der wird euch in alle Wahrheit leiten ... und was zukünftig ist, wird er euch verkündigen.“ Johannes 16,13. Die Schrift lehrt deutlich, dass diese Verheißungen, weit davon entfernt, auf die Zeit der Apostel beschränkt zu sein, für die Gemeinde Christi in allen Zeiten gelten. Der Heiland versicherte seinen Nachfolgern: „Siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende“ (Matthäus 28,20), und Paulus erklärte, dass die Gaben und Bekundungen des Geistes der Gemeinde geworden seien, damit „die Heiligen zugerichtet werden zum Werke des Dienstes, dadurch der Leib Christi erbaut werde, bis dass wir alle hinankommen zu einerlei Glauben und Erkenntnis des Sohnes Gottes und ein vollkommener Mann werden, der da sei im Maße des vollkommenen Alters Christi“. Epheser 4,12.13. GK.10.2 Teilen

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Für die Gläubigen zu Ephesus betete der Apostel: „Der Gott unseres Herrn Jesus Christi, der Vater der Herrlichkeit, gebe euch den Geist der Weisheit und der Offenbarung zu seiner selbst Erkenntnis und erleuchtete Augen eures Verständnisses, dass ihr erkennen möget, welche da sei die Hoffnung eurer Berufung, ... und welche die da sei die überschwengliche Größe seiner Kraft an uns, die wir glauben.“ Epheser 1,17-19. Die Wirksamkeit des Geistes Gottes in der Erleuchtung des Verständnisses und dem Auftun der Tiefe der Heiligen Schrift war der Segen, den Paulus auf die Gemeinde zu Ephesus herabgefleht hatte. GK.11.1 Teilen

Nach der wunderbaren Ausgießung des Heiligen Geistes am Pfingsttage ermahnte Petrus das Volk zur Buße und taufte auf dem Namen Jesu Christi zur Vergebung ihrer Sünden, und er schloß mit den Worten: „So werdet ihr empfangen die Gabe des heiligen Geistes. Denn euer und eurer Kinder ist diese Verheißung und aller, die ferne sind, welche Gott, unser Herr, herzurufen wird.“ Apostelgeschichte 2,38.39. GK.11.2 Teilen

In unmittelbarem Zusammenhang mit dem Geschehen des großes Tages Gottes hat der Herr durch den Propheten Joel eine besondere Offenbarung seines Geistes verheißen. Joel 3,1. Diese Prophezeiung erfüllte sich teilweise in der Ausgießung des Heiligen Geistes am Pfingsttage; ihre volle Erfüllung wird sie jedoch in der Offenbarung der göttlichen Gnade erreichen, die die abschließende Verkündigung des Evangeliums begleiten wird. GK.11.3 Teilen

Der große Kampf zwischen dem Guten und dem Bösen wird bis zum Ende hin an Heftigkeit zunehmen. Zu allen Zeiten trat der Zorn Satans der Gemeinde Christi entgegen. Gott hat seinem Volk seine Gnade und seinen Geist verliehen, um es zu stärken, damit es vor der Macht des Bösen bestehe. Als die Apostel das Evangelium in die Welt hinaustragen und für alle Zukunft überliefern sollten, wurden sie in besonderer Weise von dem Geist Gottes erleuchtet. Wenn sich aber der Gemeinde Gottes die endgültige Befreiung naht, wird Satan mit größerer Macht wirken. Er kommt herab „und hat einen großen Zorn und weiß, dass er wenig Zeit hat“. Offenbarung 12,12. Er wird „mit allerlei lügenhaftigen Kräften und Zeichen und Wundern“ wirken. 2.Thessalonicher 2,9. Sechstausend Jahre lang hat jener mächtige Geist, einst der höchste unter den Engeln Gottes, es völlig auf Täuschung und Verderben abgesehen. In dem letzten Kampf wird er alle Mittel der Verlogenheit, Verschlagenheit und Grausamkeit, die er jahrhundertelang erprobt hat, in Vollendung gegen Gottes Volk einsetzen. In dieser gefahrvollen Zeit sollen die Nachfolger Christi der Welt die Botschaft von der Wiederkunft des Herrn bringen; ein Volk muss zubereitet werden, das bei seinem Kommen „unbefleckt und unsträflich“ (2.Petrus 3,14) vor ihm stehen kann. Zu dieser Zeit bedarf die Gemeinde der besonderen Gabe der göttlichen Gnade und Macht nicht weniger als in den Tagen der Apostel. GK.11.4 Teilen

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Durch die Erleuchtung des Heiligen Geistes sind mir, der Verfasserin dieser Seiten, die Erkenntnisse des langanhaltenden Kampfes zwischen dem Guten und dem Bösen enthüllt worden. Von Zeit zu Zeit wurde es mir gestattet, den großen Kampf zwischen Christus, dem Fürsten des Lebens, dem Herzog unserer Seligkeit, und Satan, dem Fürsten des Bösen, dem Urheber der Sünde, dem ersten Übertreter des heiligen Gesetzes Gottes, in verschiedenen Zeitaltern zu schauen. Satans Feindschaft gegen Christus bekundet sich gegen dessen Nachfolger. Der gleiche Haß gegen die Grundsätze des Gesetzes Gottes, die gleichen trügerischen Pläne, durch die der Irrtum als Wahrheit erscheint, durch die menschliche Gesetze an die Stelle des Gesetzes Gottes gestellt und die Menschen verleitet werden, eher das Geschöpf als den Schöpfer anzubeten, können durch die ganze Vergangenheit hindurch verfolgt werden. Satan ist seit jeher bemüht, Gottes Wesen falsch darzustellen, damit die Menschen dem Schöpfer nicht mit Liebe, sondern in Furcht und Haß begegnen. Aus diesem Grunde bemüht sich Satan, die Menschen dahin zu bringen, dass göttliche Gesetz beiseite zu setzen und sie glauben zu machen, dass sie von den Forderungen Gottes entbunden seien. In allen Jahrhunderten wurden nachweisbar alle, die sich seinen Täuschungen widersetzten, um ihres Glaubens willen verfolgt. Diese Verfolgung zeichnet sich ab in der Geschichte der Patriarchen, Propheten und Apostel, der Märtyrer und Reformatoren. GK.12.1 Teilen

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In dem letzten großen Kampf wird Satan dieselbe Klugheit anwenden, denselben Geist bekunden und nach demselben Ziel streben wie in allen vergangenen Zeitaltern. Was gewesen ist, wird wieder sein. Jedoch wird der kommende Kampf alles bisher Dagewesene an Heftigkeit übertreffen. Satans Täuschungen werden listiger, seine Angriffe entschlossener sein. Wenn es möglich wäre, würde er selbst die Auserwählten verführen. Markus 13,22. GK.13.1 Teilen

Als mir durch den Geist Gottes die großen Wahrheiten seines Wortes und die Ereignisse der Vergangenheit und der Zukunft erschlossen wurden, erhielt ich den Auftrag, anderen weiterzugeben, was mir offenbart worden war: die Geschichte des Kampfes in der Vergangenheit zu verfolgen und sie so nachzuzeichnen, dass dadurch Licht auf den rasch herannahenden Kampf der Zukunft geworfen werde. Um dieser Absicht zu dienen, habe ich mich bemüht, Ereignisse aus der Kirchengeschichte auszuwählen und so zusammenzustellen, dass sie die Entfaltung der großen entscheidenden Wahrheiten zeigen, die zu verschiedenen Zeiten der Welt gegeben wurden, die den Zorn Satans und die Feindschaft einer verweltlichten Kirche erregten und die durch das Zeugnis derer aufrechterhalten werden, die ihr Leben nicht geliebt haben bis an den Tod. Offenbarung 12,11. GK.13.2 Teilen

In diesen Berichten können wir ein Bild des uns bevorstehenden Kampfes erblicken. Wenn wir sie in dem Licht des Wortes Gottes und durch die Erleuchtung seines Geistes betrachten, sehen wir unverhüllt die Anschläge des Bösen und die Gefahren, denen alle ausweichen müssen, die beim Kommen des Herrn „unsträflich“ gefunden werden wollen. GK.13.3 Teilen

Die großen Ereignisse, die den Fortschritt der geistlichen Erneuerung in den vergangenen Jahrhunderten kennzeichneten, sind wohl bekannte und von der protestantischen Welt allgemein bestätigte geschichtliche Tatsachen, die niemand bestreiten kann. Dieses Geschehen habe ich in Übereinstimmung mit der Aufgabe des Buches und der Kürze, die notwendigerweise beachtet werden musste, deutlich dargestellt und so weit zusammengedrängt, wie es zu ihrem richtigen Verständnis möglich war. In etlichen Fällen, in denen ein Historiker die Ereignisse so zusammengestellt hat, dass sie in aller Kürze einen umfassenden Überblick gewährten, oder wo er die Einzelheiten in passender Weise zusammenfaßte, ist er wörtlich zitiert worden; aber in einigen Fällen wurden keine Namen angegeben, da die Zitate nicht in der Absicht angeführt wurden, den betreffenden Verfasser als Autorität hinzustellen, sondern weil seine Aussagen eine treffende und kraftvolle Darstellung der historischen Ereignisse boten. Von den Erfahrungen und den Ansichten der Männer, die das Erneuerungswerk in unserer Zeit vorwärts führen, wurde aus ihren veröffentlichten Werken in ähnlicher Weise zitiert. GK.13.4 Teilen

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Es ist nicht so sehr die Absicht dieses Buches, neue Wahrheiten über die Kämpfe früherer Zeiten zu bringen, als vielmehr Tatsachen und Grundsätze hervorzuheben, die die kommenden Ereignisse beeinflussen werden. Diese Berichte über die Vergangenheit erlangen, angesehen als ein Teil des Kampfes zwischen den Mächten des Lichts und der Finsternis, eine neue Bedeutung. Durch sie scheint ein Licht auf die Zukunft und erhellt den Pfad derer, die selbst auf die Gefahr hin, alle irdischen Güter zu verlieren, wie die früheren Reformatoren berufen werden, Zeugnis abzulegen um des Wortes Gottes und des Zeugnisses Jesus Christi willen. GK.14.1 Teilen

Die Begebenheiten des großen Kampfes zwischen Wahrheit und Irrtum zu beschreiben, Satans listige Anschläge und die Möglichkeiten, durch die wir ihm widerstehen können, zu offenbaren, eine befriedigende Lösung des großen Problems der Sünde zu geben, indem der Ursprung und die endgültige Abrechnung mit allem Bösen so erhellt werden, dass sich dadurch die Gerechtigkeit und die Güte Gottes in all seinem Handeln mit seinen Geschöpfen eindeutig bekundet, sowie die Heiligkeit und ewige Gültigkeit seines Gesetzes zu zeigen, das ist die Aufgabe dieses Buches. Möge der Einfluß dieses Buches helfen, Seelen von der Macht der Finsternis zu befreien, damit sie teilhaben am „Erbe der Heiligen im Licht“ zum Lobe dessen, der uns geliebt und sich selbst für uns gegeben hat! Dies ist mein aufrichtiges Gebet. GK.14.2 Teilen

E. G. White GK.14 Teilen

Kapitel 1: Die Zerstörung Jerusalems
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Vom Gipfel des Ölberges herab schaute Jesus auf Jerusalem. Lieblich und friedvoll breitete sich die Landschaft vor ihm aus. Es war die Zeit des Passahfestes, und aus allen Ländern hatten sich die Kinder Jakobs versammelt, um dies große Nationalfest zu feiern. Inmitten von Gärten, Weinbergen und grünen, mit Zelten der Pilger übersäten Abhängen erhoben sich die terrassenförmig abgestuften Hügel, die stattlichen Paläste und massiven Bollwerke der Hauptstadt Israels. Die Tochter Zion schien in ihrem Stolz zu sagen: „Ich sitze als Königin ..., und Leid werde ich nicht sehen.“ Offenbarung 8,7. Sie war so anmutig und wähnte sich der Gunst des Himmels sicher wie ehedem, als der königliche Sänger ausrief: „Schön ragt, empor der Berg Zion, des sich das ganze Land tröstet; ... die Stadt des großen Königs.“ Psalm 48,3. Unmittelbar vor ihm lagen die prächtigen Gebäude des Tempels. Die Strahlen der sinkenden Sonne ließen das schneeige Eis seiner marmornen Mauern aufblitzen und leuchteten von dem goldenen Tor, dem Turm und der Zinne wider. In vollendeter Schönheit stand Zion da, der Stolz der jüdischen Nation. Welches Kind Israels konnte dieses Bild ohne Freude und Bewunderung betrachten! Doch Jesus dachte an etwas ganz anderes. „Als er nahe hinzukam, sah er die Stadt an und weinte über sie.“ Lukas 19,41. GK.17.1 Teilen

In der allgemeinen Freude des triumphierenden Einzuges, während Palmzweige ihm entgegenwehten, fröhliche Hosiannarufe von den Hügeln widerhallten und Tausende von Stimmen ihn zum König ausriefen, überwältigte den Welterlöser ein plötzlicher und geheimnisvoller Schmerz. Der Sohn Gottes, der Verheißene Israels, dessen Macht den Tod besiegt und seine Gefangenen aus den Gräbern hervorgerufen hatte, weinte — keine Tränen gewöhnlichen Wehs, sondern Tränen eines unaussprechlichen, seelischen Schmerzes. GK.17.2 Teilen

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Christi Tränen flossen nicht um seinetwillen, obgleich er genau wußte, wohin sein Weg ihn führte. Vor ihm lag Gethsemane, der Schauplatz seines bevorstehenden Leidens. Das Schaftor, durch das seit Jahrhunderten die Schlachtopfer geführt worden waren, und das sich auch vor ihm auftun sollte, wenn er wie ein Lamm zur Schlachtbank geführt würde, war ebenfalls zu sehen. Jesaja 53,7. Nicht weit davon lag Golgatha, die Stätte der Kreuzigung. Auf den Pfad, den er bald zu betreten hatte, mussten die Schatten tiefer Finsternis fallen, da Christus seine Seele zu einem Sühnopfer für die Sünde geben sollte. Doch es war nicht der Anblick dieser Schauplätze, der in dieser Stunde allgemeiner Fröhlichkeit Schatten auf ihn warf. Keinerlei Ahnungen von seiner eigenen übermenschlichen Angst trübten das selbstlose Gemüt. Er beweinte das Los der Tausende in Jerusalem, die Blindheit und Unbußfertigkeit derer, die zu segnen und zu retten er gekommen war. GK.18.1 Teilen

„Wenn doch auch du erkenntest zu dieser deiner Zeit, was zu deinem Frieden dient! Aber nun ist’s vor deinen Augen verborgen. Denn es wird die Zeit über dich kommen, dass deine Feinde werden um dich und deine Kinder mit dir eine Wagenburg schlagen, dich belagern und an allen Orten ängsten; und werden dich schleifen und keinen Stein auf dem andern lassen, darum dass du nicht erkannt hast die Zeit, darin du heimgesucht bist.“ Lukas 19,42-44. GK.18.2 Teilen

Die Geschichte der besonderen Gunst und Fürsorge Gottes, die er seit über tausend Jahren dem auserwählten Volk bekundet hatte, lag offen vor den Blicken Jesu. Dort erhob sich der Berg Morija, auf dem der Sohn der Verheißung, ein ergebenes Opfer, auf dem Altar gebunden worden war (1.Mose 22,9) — ein Sinnbild des Opferweges des Sohnes Gottes. Dort war der Bund des Segens, die glorreiche messianische Verheißung, dem Vater der Gläubigen bestätigt worden. 1.Mose 22,16-18. Dort hatten die gen Himmel aufsteigenden Flammen des Opfers auf der Tenne Ornans das Schwert des Würgeengels abgewandt (1.Chronik 21) — ein passendes Symbol von des Heilandes Opfer für die schuldigen Menschen. Jerusalem war von Gott vor der ganzen Erde geehrt worden. Der Herr hatte „Zion erwählt“, er hatte „Lust, daselbst zu wohnen“. Psalm 132,13. Dort hatten die heiligen Propheten jahrhundertelang ihre Warnungsbotschaften verkündigt. Die Priester hatten ihre Rauchnäpfe geschwungen, und der Weihrauch war mit den Gebeten der Frommen zu Gott aufgestiegen. Auf diesem Berg hatte man täglich das Blut der geopferten Lämmer, die auf das Lamm Gottes hinwiesen, dargebracht. Dort hatte der Herr in der Wolke der Herrlichkeit über dem Gnadenstuhl seine Gegenwart offenbart. Dort hatte der Fuß jener geheimnisvollen Leiter geruht, die die Erde mit dem Himmel verband (1.Mose 28,12; Johannes 1,51) — jener Leiter, auf der die Engel Gottes auf- und niederstiegen und die der Welt den Weg in das Allerheiligste öffnete. Hätte Israel als Nation dem Himmel seine Treue bewahrt, so würde Jerusalem, die auserwählte Stadt Gottes, ewig gestanden haben. Jeremia 17,21-25. Aber die Geschichte jenes bevorzugten Volkes war ein Bericht über Abtrünnigkeit und Empörung. Es hatte sich der Gnade des Himmels widersetzt und die ihm gestellte Aufgabe mißachtet. GK.18.3 Teilen

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Die Israeliten „spotteten der Boten Gottes und verachteten seine Worte und äfften seine Propheten“ (2.Chronik 36,15.16), und doch hatte Gott sich ihnen immer noch als der „Herr, Gott, barmherzig und gnädig und geduldig und von großer Gnade und Treue“ (2.Mose 34,6) erwiesen. Ungeachtet wiederholter Zurückweisungen war ihnen immer wieder seine Gnade nachgegangen. Mit mehr als väterlicher, mitleidsvoller Liebe für das Kind seiner Fürsorge sandte Gott „zu ihnen durch seine Boten früh und immerfort; denn er schonte seines Volks und seiner Wohnung“. 2.Chronik 36,15. Nachdem alle Ermahnungen, Bitten und Zurechtweisungen erfolglos geblieben waren, sandte er ihnen die beste Gabe des Himmels, ja, er schüttete den ganzen Himmel in jener einen Gabe über sie aus. GK.19.1 Teilen

Der Sohn Gottes selbst wurde gesandt, um die unbußfertige Stadt zur Umkehr zu bewegen. War es doch Christus, der Israel als einen guten Weinstock aus Ägypten geholt hatte. Psalm 80,9. Seine eigene Hand hatte die Heiden vor ihm her ausgetrieben. Den Weinstock pflanzt er „an einen fetten Ort“. In seiner Fürsorge baute er einen Zaun um ihn herum und sandte seine Knechte aus seinen Weinstock zu pflegen. „Was wollte man doch mehr tun an meinem Weinberge, dass ich nicht getan habe?“, ruft er aus. Doch als er „wartete, dass er Tauben brächte“, hat er „Herlinge gebracht“. Jesaja 5,1-4. Dennoch kam er mit einer noch immer sehnsüchtigen Hoffnung auf Fruchtbarkeit persönlich in seinen Weinberg, damit dieser, wenn möglich, vor dem Verderben bewahrt bliebe. Er lockerte die Erde um den Weinstock herum; er beschnitt und pflegte ihn. Unermüdlich wahren seine Bemühungen, diesen mit eigenen Händen gepflanzten Weinstock zu retten. GK.19.2 Teilen

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Drei Jahre lang war der Herr des Lichts und der Herrlichkeit unter seinem Volk ein- und ausgegangen. Er war umhergezogen und hatte wohlgetan und gesund gemacht alle, die vom Teufel überwältigt waren; er hatte die zerstoßenen Herzen geheilt, die Gefangenen befreit, die Blinden sehend gemacht. Er hieß die Lahmen gehen und die Tauben hören, er reinigte die Aussätzigen, weckte die Toten auf und verkündigte den Armen das Evangelium. Apostelgeschichte 10,38; Lukas 4,18; Matthäus 11,5. Allen Menschen ohne Unterschied galt die gnadenreiche Einladung: „Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken.“ Matthäus 11,28. GK.20.1 Teilen

Obgleich ihm Gutes mit Bösem und Liebe mit Haß belohnt wurde (Psalm 109,5), war er doch unverwandt seiner Mission der Barmherzigkeit nachgegangen. Nie waren die Menschen abgewiesen worden, die seine Gnade gesucht hatten. Selbst ein heimatloser Wanderer, dessen tägliches Teil Schmach und Entbehrung hieß, hatte er gelebt, um den Bedürftigen zu dienen, das Leid der Menschen zu lindern und Seelen zur Annahme der Gabe des Lebens zu bewegen. Wenn sich auch die Wogen der Gnade an widerspenstigen Herzen brachen, sie kehrten mit einer noch stärkeren Flut mitleidsvoller, unaussprechlicher Liebe zurück. Aber Israel hatte sich von seinem besten Freund und einzigen Helfer abgewandt, hatte die Mahnungen seiner Liebe verachtet, seine Ratschläge verschmäht, seine Warnungen verlacht. GK.20.2 Teilen

Die Stunde der Hoffnung und der Gnade neigte sich dem Ende zu; die Schale des lange zurückgehaltenen Zornes Gottes war nahezu gefüllt. Die nunmehr unheildrohende Wolke, die sich in den Jahren des Abfalls und der Empörung gebildet hatte, war im Begriff, sich über ein schuldiges Volk zu entladen. Der allein sie vor dem bevorstehenden Schicksal hätte bewahren können, war verachtet, mißhandelt, verworfen worden und sollte bald gekreuzigt werden. Christi Kreuzestod auf Golgatha würde Israels Zeit als einer von Gott begünstigten und gesegneten Nation beenden. Der Verlust auch nur einer Seele ist ein Unglück, das unendlich schwerer wiegt als die Vorteile und Reichtümer der Welt. Als Christus auf Jerusalem blickte, sah er das Schicksal einer ganzen Stadt, einer ganzen Nation vor seinem inneren Auge abrollen — jener Stadt, jener Nation, die einst die Auserwählte Gottes, sein ausschließliches Eigentum gewesen war. GK.20.3 Teilen

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Propheten hatten über den Abfall der Kinder Israel und über die schrecklichen Verwüstungen, die ihre Sünden heraufbeschworen, geweint. Jeremia wünschte, dass seine Augen Tränenquellen wären, um Tag und Nacht die Erschlagenen der Tochter seines Volkes und des Herrn Herde, die gefangengenommenen worden war, beweinen zu können. Jeremia 8,23; Jeremia 13,17. Welchen Schmerz muss da Christus empfunden haben, dessen prophetischer Blick nicht Jahre, sondern ganze Zeitalter umfaßte! Er sah den Würgeengel mit dem gegen die Stadt erhobenen Schwert, die so lange Wohnstätte des Höchsten gewesen war. Von der Spitze des Ölberges, von derselben Stelle, die später von Titus und seinem Heer besetzt wurde, schaute er über das Tal auf die heiligen Höfe und Säulenhallen, und vor seinem tränenumflorten Auge tauchte eine schreckliche Vision auf: die Stadtmauern waren von einem feindlichen Heer umzingelt. Er hörte das Stampfen der sich sammelnden Horden, vernahm die Stimme der in der belagerten Stadt nach Brot schreienden Mütter und Kinder. Er sah ihren heiligen, prächtigen Tempel, die Paläste und Türme den Flammen preisgegeben, und dort, wo diese Bauwerke sich einst erhoben, schaute er nur einen rauchenden Trümmerhaufen. GK.21.1 Teilen

Den Zeitenfluß überblickend, sah er das Bundesvolk in alle Länder zerstreut wie Schiffbrüchige an einem öden Strand. In der irdischen Vergeltung, die sich anschickte, seine Kinder heimzusuchen, sah er die ersten Tropfen aus jener Zornesschale, die sie beim Gericht bis zur Neige leeren müssen. Sein göttliches Erbarmen und seine mitleidsvolle Liebe fanden ihren Ausdruck in den klagenden Worten: „Jerusalem, Jerusalem, die du tötest die Propheten und steinigst, die zu dir gesandt sind! wie oft habe ich deine Kinder versammeln wollen, wie eine Henne versammelt ihre Küchlein unter ihre Flügel; und ihr habt nicht gewollt!“ Matthäus 23,37. Oh, hättest, du, das vor allen andern bevorzugte Volk, die Zeit deiner Heimsuchung und das, was zu deinem Frieden diente, erkannt! Ich habe den Engel des Gerichts aufgehalten, ich habe dich zur Buße gerufen, aber umsonst. Nicht nur Knechte, Boten und Propheten hast du abgewiesen, auch den Heiligen Israels, deinen Erlöser, hast du verworfen. Wenn du vernichtet wirst, so bist du allein dafür verantwortlich. „Ihr wollt nicht zu mir kommen, dass ihr das Leben haben möchtet.“ Johannes 5,40. GK.21.2 Teilen

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Christus sah in Jerusalem ein Sinnbild der in Unglauben und Empörung verhärteten Welt, die dem vergeltenden Gericht Gottes entgegen eilt. Die Leiden eines gefallenen Geschlechtes bedrückten seine Seele, und seinen Lippen entrang sich jener außerordentlich bittere Aufschrei. Er sah im menschlichen Elend, in Tränen und Blut die Spuren der Sünde, sein Herz wurde von unendlichem Mitleid mit den Bedrängten und Leidenden auf dieser Erde bewegt; er sehnte sich danach, ihnen allen Erleichterung zu verschaffen. Aber selbst seine Hand konnte nicht die Flut menschlichen Elends abwenden; denn nur wenige würden die Quelle ihrer einzigen Hilfe suchen. Er war bereit, in den Tod zu gehen, um ihnen die Erlösung zu ermöglichen; aber nur wenige kämen zu ihm, um das Leben zu ererben. GK.22.1 Teilen

Die Majestät des Himmels in Tränen! Der Sohn des ewigen Gottes niedergebeugt von Seelenangst! Dieser Anblick setzte den ganzen Himmel in Erstaunen. Jene Szene offenbart uns die überaus große Verderbtheit der Sünde; sie zeigt, welch eine schwere Aufgabe es selbst für die göttliche Allmacht ist, die Schuldigen von den Folgen der Übertretung des Gesetzes zu retten. Auf das letzte Geschlecht herabblickend, sah Jesus die Welt von einer Täuschung befallen, ähnlich der, die zur Zerstörung Jerusalems führen sollte. Die große Sünde der Juden war die Verwerfung Christi; das große Vergehen der christlichen Welt wäre die Verwerfung des Gesetzes Gottes, der Grundlage seiner Regierung im Himmel und auf Erden. Die Gebote des Herrn würden verachtet und verworfen werden. Millionen Menschen in den Banden der Sünden, Sklaven Satans, verurteilt, den ewigen Tod zu erleiden, würden sich in den Tagen ihrer Heimsuchung weigern, auf die Worte der Wahrheit zu lauschen. Schreckliche Blindheit; seltsame Verblendung! GK.22.2 Teilen

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Als Christus zwei Tage vor dem Passahfest zum letztenmal den Tempel verließ, wo er die Scheinheiligkeit der jüdischen Obersten bloßgestellt hatte, ging er abermals mit seinen Jüngern nach dem Ölberg und setzte sich mit ihnen auf einen grasbewachsenen Abhang, von dem man die Stadt gut überblicken konnte. Noch einmal schaute er auf ihre Mauern, Türme und Paläste; noch einmal betrachtete er den Tempel in seiner blendenden Pracht, dieses Diadem der Schönheit, das den heiligen Berg krönte. GK.23.1 Teilen

1000 Jahre zuvor war die Güte Gottes gegenüber Israel von dem Psalmisten gepriesen worden, weil er ihr heiliges Haus zu seiner Wohnstätte gemacht hatte: „Zu Salem ist sein Gezelt, und seine Wohnung zu Zion.“ Er „erwählte den Stamm Juda, den Berg Zion, welchen er liebte, und baute sein Heiligtum hoch, wie die Erde, die ewiglich fest stehen soll“. Psalm 76,3; Psalm 78,68.69. Der erste Tempel war in der Glanzzeit der Geschichte Israels errichtet worden. Große Vorräte an Schätzen hatte einst zu diesen Zweck König David angesammelt. Die Baupläne waren durch göttliche Eingebung entworfen worden. 1.Chronik 28,12.19. Salomo, der weiseste der Herrscher Israels, hatte das Werk vollendet. Dieser Tempel war das herrlichste Gebäude, das die Welt je gesehen hatte, doch der Herr erklärte durch den Propheten Haggai betreffs des zweiten Tempels: „Es soll die Herrlichkeit dieses letzten Hauses größer werden, denn des ersten gewesen ist.“ „Ja, alle Heiden will ich bewegen. Da soll dann kommen aller Heiden Bestes; und ich will dies Haus voll Herrlichkeit machen, spricht der Herr Zebaoth.“ Haggai 2,9.7. GK.23.2 Teilen

Nach der Zerstörung des Tempels durch Nebukadnezar wurde er von 520 bis 560 v. Chr. wieder erbaut von einem Volk, dass aus einer ein Menschenleben währenden Gefangenschaft in ein verwüstetes und nahezu verlassenes Land zurückgekehrt war. Darunter befanden sich bejahrte Männer, die die Herrlichkeit des salomonischen Tempels gesehen hatten und nun bei der Grundsteinlegung des neuen Gebäudes weinten, dass es so sehr hinter dem ersten zurückstehen müsse. Das damals herrschende Gefühl wird von dem Propheten eindringlich beschrieben: „Wer ist unter euch übriggeblieben, der dies Haus in seiner vorigen Herrlichkeit gesehen hat? und wie seht ihr’s nun an? Ist’s nicht also, es dünkt euch nichts zu sein?“ Haggai 2,3; Esra 3,12. Dann wurde die Verheißung gegeben, dass die Herrlichkeit dieses letzten Hauses größer sein sollte denn die des vorigen. GK.23.3 Teilen

24

Der zweite Tempel erreichte jedoch weder die Großartigkeit des ersten, noch wurde er durch jene sichtbaren Zeichen der göttlichen Gegenwart geheiligt, die dem ersten Tempel eigen waren. Keine übernatürliche Macht offenbarte sich bei seiner Einweihung; die Wolke der Herrlichkeit erfüllte nicht das neuerrichtete Heiligtum; kein Feuer fiel vom Himmel hernieder, um das Opfer auf dem Altar zu verzehren. Die Herrlichkeit Gottes thronte nicht mehr zwischen den Cherubim im Allerheiligsten; die Bundeslade, der Gnadenstuhl und die Gesetzestafeln wurden nicht darin gefunden. Keine Stimme erscholl vom Himmel, um dem fragenden Priester den Willen des Höchsten kundzutun. GK.24.1 Teilen

Jahrhundertelang versuchten die Juden vergebens zu zeigen, inwiefern jene durch Haggai ausgesprochene Verheißung Gottes erfüllt worden war. Stolz und Unglauben verblendeten jedoch ihren Geist, so dass sie die wahre Bedeutung der Worte des Propheten nicht verstehen konnten. Der zweite Tempel wurde nicht durch die Wolke der Herrlichkeit des Herrn geehrt, sondern durch die lebendige Gegenwart des Einen, in dem die Fülle der Gottheit leibhaftig wohnte — der selbst Gott war, offenbart im Fleisch. Als der Mann von Nazareth in den heiligen Vorhöfen lehrte und heilte, war er tatsächlich als „aller Heiden Bestes“ zu seinem Tempel gekommen. Durch die Gegenwart Christi, und nur dadurch, übertraf der zweite Tempel die Herrlichkeit des ersten. Aber Israel stieß die angebotene Gabe des Himmels von sich. Mit dem demütigen Lehrer, der an jenem Tage durch das goldene Tor hinausging, wich die Herrlichkeit für immer vom Tempel, und damit waren die Worte des Heilandes schon erfüllt: „Siehe euer Haus soll euch wüst gelassen werden.“ Matthäus 23,38. GK.24.2 Teilen

Die Jünger waren bei Jesu Prophezeiung von der Zerstörung des Tempels mit Scheu und Staunen erfüllt worden, und sie wünschten, dass er ihnen die Bedeutung seiner Worte erläuterte. Reichtum, Arbeit und Baukunst waren über 40 Jahre lang in freigebiger Weise zur Verherrlichung des Tempels eingesetzt worden. Herodes der Große hatte dafür sowohl römischen Reichtum als auch jüdische Schätze dafür aufgewandt, und sogar der römische Kaiser hatte ihn mit seinen Geschenken bereichert. Massive Blöcke weißen Marmors von geradezu unwahrscheinlicher Größe, zu diesem Zweck aus Rom herbeigeschafft, bildeten einen Teil seines Baues; und darauf lenkten die Jünger die Aufmerksamkeit ihres Meisters, als sie sagten: „Meister, siehe, welche Steine und welch ein Bau ist das!“ Markus 13,1. GK.24.3 Teilen

25

Auf diese Worte gab Jesus die erste und bestürzende Erwiderung: „Wahrlich ich sage euch: Es wird hier nicht ein Stein auf dem andern bleiben, der nicht zerbrochen werde.“ Matthäus 24,2. GK.25.1 Teilen

Die Jünger verbanden mit der Zerstörung Jerusalems die Ereignisse der persönlichen Wiederkunft Christi in zeitlicher Herrlichkeit, um den Thron des Weltreiches einzunehmen, die unbußfertigen Juden zu strafen und das römische Joch zu zerbrechen. Der Herr hatte ihnen gesagt, dass er wiederkommen werde; deshalb richteten sich ihre Gedanken bei der Erwähnung der göttlichen Strafgerichte über Jerusalem auf jene Wiederkunft. Und als sie auf dem Ölberg um den Heiland versammelt waren, fragten sie ihn: „Sage uns, wann wird das geschehen? Und welches wird das Zeichen sein deiner Zukunft und des Endes der Welt?“ Matthäus 24,3. GK.25.2 Teilen

Die Zukunft war den Jüngern barmherzigerweise verhüllt. Hätten sie zu jener Zeit die zwei furchtbaren Tatsachen — des Heilandes Leiden und Tod sowie die Zerstörung ihrer Stadt und des Tempels — völlig verstanden, so wären sie von Entsetzen überwältigt worden. Christus gab ihnen einen Umriß der wichtigsten Ereignisse, die vor dem Ende der Zeit eintreten sollen. Seine Worte wurden damals nicht völlig begriffen; aber ihr Sinn sollte enthüllt werden, sobald sein Volk der darin gegebenen Belehrung bedurfte. Die von ihm ausgesprochene Prophezeiung galt einem doppelten Geschehen: sie bezog sich auf die Zerstörung Jerusalems, und gleichzeitig schilderte sie die Schrecken des Jüngsten Tages. GK.25.3 Teilen

Jesus erzählte den lauschenden Jüngern von den Strafgerichten, die über das abtrünnige Israel kommen würden, und sprach besonders von der vergeltenden Heimsuchung, die es wegen der Verwerfung und Kreuzigung des Messias ereilen sollte. Untrügliche Zeichen würden dem furchtbaren Ende vorausgehen. Die gefürchtete Stunde bräche schnell und unerwartet herein. Der Heiland warnte seine Nachfolger: „Wenn ihr nun sehen werdet den Greuel der Verwüstung (davon gesagt ist durch den Propheten Daniel), dass er steht an der heiligen Stätte (wer das liest, der merke darauf!), alsdann fliehe auf die Berge, wer im jüdischen Lande ist.“ Matthäus 24,15.16; Lukas 21,20. Wenn die Römer ihre Standarten mit den heidnischen Symbolen auf den heiligen Boden, der sich auch auf einige hundert Meter Landes außerhalb der Stadtmauern erstreckte, aufgepflanzt hätten, dann sollten sich die Nachfolger Christi durch die Flucht retten. Sobald das Warnungszeichen sichtbar würde, dürften alle, die entrinnen wollen, nicht zögern; im ganzen Land Judäa wie in Jerusalem selbst müßte man dem Zeichen der Flucht sofort gehorchen. Wer gerade auf dem Dache wäre, dürfte nicht ins Haus gehen, selbst nicht um seine wertvollsten Schätze zu retten. Wer auf dem Feld oder im Weinberg arbeitete, sollte sich nicht die Zeit nehmen, wegen des Oberkleides, das er wegen der Hitze des Tages abgelegt hatte, zurückzukehren. Sie dürften keinen Augenblick zögern, wenn sie nicht bei der allgemeinen Zerstörung mit zugrunde gehen wollten. GK.25.4 Teilen

26

Während der Regierungszeit des Herodes war Jerusalem nicht nur bedeutend verschönert worden, sondern durch die Errichtung von Türmen und Mauern und Festungswerken war die von Natur schon geschützte Stadt, wie es schien, uneinnehmbar geworden. Wer zu dieser Zeit öffentlich ihre Zerstörung vorhergesagt hätte, wäre wie einst Noah ein verrückter Schwarzseher genannt worden. Christus hatte jedoch gesagt: „Himmel und Erde werden vergehen; aber meine Worte werden nicht vergehen.“ Matthäus 24,35. Weil die Kinder Israel gesündigt hatten, war Jerusalem Gottes Zorn angedroht worden. Ihr hartnäckiger Unglaube besiegelte ihr Schicksal. GK.26.1 Teilen

Der Herr hatte durch den Propheten Micha erklärt: „So höret doch dies, ihr Häupter im Hause Jakob und ihr Fürsten im Hause Israel, die ihr das Recht verschmähet und alles, was aufrichtig ist, verkehret; die ihr Zion mit Blut bauet und Jerusalem mit Unrecht: Ihre Häupter richten um Geschenke, ihre Priester lehren um Lohn, und ihre Propheten wahrsagen um Geld, verlassen sich auf den Herrn und sprechen: Ist nicht der Herr unter uns? Es kann kein Unglück über uns kommen.“ Micha 3,9-11. GK.26.2 Teilen

27

Diese Worte schildern genau die verderbten und selbstgerechten Einwohner Jerusalems. Während sie behaupteten, die Vorschriften des Gesetzes Gottes streng zu beachten, übertraten sie alle seine Grundsätze. Sie haßten Christus, weil seine Reinheit und Heiligkeit ihre Bosheit offenbarte. Sie klagten ihn an, die Ursache all des Unglücks zu sein, das infolge ihrer Sünden sie bedrängte. Obwohl sie wußten, dass er sündlos war, erklärten sie für die Sicherheit ihrer Nation seinen Tod als notwendig. „Lassen wir ihn also“, sagten die jüdischen Obersten, „so werden sie also an ihn glauben; so kommen dann die Römer und nehmen uns Land und Leute.“ Wenn Christus geopfert würde, könnten sie noch einmal ein starkes, einiges Volk werden, so urteilten sie und stimmten der Entscheidung ihres Hohenpriesters zu, dass es besser sei, „ein Mensch sterbe ... denn dass das ganze Volk verderbe“. Johannes 11,48.50. GK.27.1 Teilen

Auf diese Weise hatten die führenden Juden „Zion mit Blut ... und Jerusalem mit Unrecht“ gebaut, und während sie ihren Heiland töteten, weil er ihre Sünden getadelt hatte, war ihre Selbstgerechtigkeit so groß, dass sie sich als das begnadete Volk Gottes betrachteten und vom Herrn erwarteten, er werde sie von ihren Feinden befreien. „Darum“, fuhr der Prophet fort, „wird Zion um euretwillen wie ein Acker gepflügt werden, und Jerusalem wird zum Steinhaufen werden und der Berg des Tempels zu einer Höhe wilden Gestrüpps.“ Micha 3,10.12. GK.27.2 Teilen

Nachdem das Schicksal Jerusalems von Christus selbst verkündet worden war, hielt der Herr seine Strafgerichte über Stadt und Volk fast 40 Jahre zurück. Bewundernswert war die Langmut Gottes gegen jene, die sein Evangelium verworfen und seinen Sohn gemordet hatten. Das Gleichnis vom unfruchtbaren Feigenbaum zeigt uns das Verhalten Gottes gegenüber dem jüdischen Volk. Das Gebot war ausgegangen: „Haue ihn ab! was hindert er das Land?“ Lukas 13,7. Aber die göttliche Gnade verschonte das Volk noch eine letzte Zeit. Es gab noch viele Juden, denen der Charakter und das Werk Christi unbekannt waren; die Kinder hatten nicht die günstigen Gelegenheiten gehabt und nicht das Licht empfangen, das ihre Eltern zurückgewiesen hatten. Durch die Predigt der Apostel und ihrer Glaubensgefährten wollte Gott auch ihnen das Licht scheinen lassen; sie durften erkennen, wie die Prophezeiung nicht nur durch die Geburt und das Leben Christi, sondern auch durch seinen Tod und seine Auferstehung erfüllt worden war. Die Kinder wurden nicht um der Sünden ihrer Eltern willen verurteilt; sobald sie aber trotz der Kenntnis alles Lichtes, das ihren Eltern gegeben worden war, das hinzugekommene, ihnen selbst gewährte Licht verwarfen, wurden sie Teilhaber der Sünden ihrer Eltern und füllten das Maß ihrer Missetat. GK.27.3 Teilen

28

Gottes Langmut gegen Jerusalem bestärkte die Juden nur in ihrer hartnäckigen Unbußfertigkeit. In ihrem Haß und in ihrer Grausamkeit gegen die Jünger Jesu verwarfen sie das letzte Anerbieten der Gnade. Daraufhin entzog Gott ihnen seinen Schutz; er beschränkte die Macht Satans und seiner Engel nicht länger, und die jüdische Nation wurde der Herrschaft des Führers überlassen, den sie sich erwählt hatte. Ihre Kinder verschmähten die Gnade Christi, die sie befähigt hätte, ihre bösen Triebe zu unterdrücken, und diese bekamen nun die Oberhand. Satan erweckte die heftigsten und niedrigsten Leidenschaften der Seele. Die Menschen handelten ohne Überlegung; sie waren von Sinnen, nur noch erfüllt von Begierde und blinder Wut. Sie wurden satanisch in ihrer Grausamkeit. In der Familie wie unter dem Volk, unter den höchsten wie unter den niedrigsten Klassen herrschten Argwohn, Neid, Haß, Streit, Empörung, Mord. Nirgends war Sicherheit zu finden. Freunde und Verwandte verrieten einander. Eltern erschlugen ihre Kinder und Kinder ihre Eltern. Die Führer des Volkes hatten nicht die Kraft sich selbst zu beherrschen. Ungezügelte Leidenschaften machten sie zu Tyrannen. Die Juden hatten ein falsches Zeugnis angenommen, um den unschuldigen Gottessohn zu verurteilen. Jetzt machten falsche Anklagen ihr eigenes Leben unsicher. Durch ihre Handlungen hatten sie lange genug zu erkennen gegeben: „Lasset den Heiligen Israels aufhören bei uns!“ Jesaja 30,11. Nun war ihr Wunsch erfüllt; Gottes Furcht beunruhigte sie nicht länger. Satan stand an der Spitze der Nation, und er beherrschte die höchste zivile und religiöse Obrigkeit. GK.28.1 Teilen

Die Führer der Gegenparteien vereinigten sich zeitweise, um ihre unglücklichen Opfer zu plündern und zu martern, und dann fielen sie übereinander her und mordeten ohne Gnade. Selbst die Heiligkeit des Tempels konnte ihre schreckliche Grausamkeit nicht zügeln. Die Anbetenden wurden vor dem Altar niedergemetzelt und das Heiligtum durch die Leichname der Erschlagenen verunreinigt. Dennoch erklärten die Anstifter dieses höllischen Werkes in ihrer blinden und gotteslästerlichen Vermessenheit öffentlich, dass sie nicht fürchteten, Jerusalem könnte zerstört werden; denn es sei Gottes eigene Stadt. Um ihre Macht zu stärken, bestachen sie falsche Propheten, die, selbst als die römischen Legionen bereits den Tempel belagerten, verkündigen mussten, dass das Volk der Befreiung durch Gott harren solle. Bis zum Ende hielt die Menge an dem Glauben fest, dass sich der Allerhöchste zur Vernichtung der Gegner ins Mittel legen werde. Israel aber hatte die göttliche Hilfe verschmäht und war nun den Feinden schutzlos preisgegeben. Unglückliches Jerusalem! Durch innere Zwistigkeiten zerrissen, die Straßen vom Blut seiner Söhne gefärbt, die sich gegenseitig erwürgten, während fremde Heere seine Festungswerke niederwarfen und seine Krieger erschlugen, so erfüllten sich buchstäblich alle Weissagungen Christi über die Zerstörung Jerusalems. Das jüdische Volk musste die Wahrheit der Warnungsbotschaften Christi am eigenen Leibe erfahren: „Mit welcherlei Maß ihr messet, wird euch gemessen werden.“ Matthäus 7,2. GK.28.2 Teilen

29

Als Vorboten des Unglücks und Untergangs erschienen Zeichen und Wunder. Mitten in der Nacht schwebte ein unnatürliches Licht über Tempel und Altar. Die Abendwolken glichen in ihren Umrissen sich zum Kampfe sammelnden Kriegern und Streitwagen. Die nachts im Heiligtum dienenden Priester wurden durch geheimnisvolle Töne erschreckt; die Erde erbebte, und einen Chor von Stimmen hörte man sagen: „Lasset uns von hinnen gehen!“ Das große östliche Tor, das so schwer war, dass es von 20 Männern nur mit Mühe geschlossen werden konnte und dessen ungeheure eiserne Riegel tief in der Steinschwelle befestigt waren, tat sich um Mitternacht von selbst auf. GK.29.1 Teilen

Sieben Jahre lang ging ein Mann durch die Straßen Jerusalems und verkündigte den der Stadt drohenden Untergang. Tag und Nacht sang er das wilde Trauerlied: „Stimme von Morgen, Stimme von Abend, Stimme von den vier Winden, Stimme über Jerusalem und den Tempel, Stimme über den Bräutigam und die Braut, Stimme über das ganze Volk.“ Dies seltsame Wesen wurde eingekerkert und gegeißelt; aber keine Klage kam über seine Lippen. Auf Schmähungen und Mißhandlungen antwortete er nur: „Wehe, wehe Jerusalem! Wehe, wehe der Stadt, dem Volk und dem Tempel!“ Dieser Warnungsruf hörte nicht auf, bis der Mann bei der Belagerung, die er vorhergesagt hatte, getötet wurde. 1 GK.29.2 Teilen

30

Nicht ein Christ kam bei der Zerstörung Jerusalems ums Leben. Christus hatte seine Jünger gewarnt, und alle, die seinen Worten glaubten, warteten auf das verheißende Zeichen. „Wenn ihr aber sehen werdet Jerusalem belagert mit einem Heer,“ sagte Jesus, „so merket, dass herbeigekommen ist seine Verwüstung. Alsdann, wer in Judäa ist, der fliehe auf das Gebirge, und wer drinnen ist, der weiche heraus.“ Lukas 21,20.21. Nachdem die Römer unter Cestius die Stadt eingeschlossen hatten, hoben sie unerwartet die Belagerung auf, gerade zu einer Zeit, als alles für den Erfolg eines sofortigen Angriffs sprach. Die Belagerten, die an einem erfolgreichen Widerstand zweifelten, waren im Begriff, sich zu ergeben, als der römische Feldherr ohne ersichtlichen Grund plötzlich seine Streitkraft zurückzog. Gottes gnädige Vorsehung gestaltete die Ereignisse zum Besten seines Volkes. Das war das verheißene Zeichen für die wartenden Christen. Nun wurde allen, die der Warnung des Heilandes Folge leisten wollten, dazu Gelegenheit geboten, und zwar konnten nach Gottes Willen weder die Juden noch die Römer die Flucht der Christen verhindern. Nach dem Rückzug des Cestius machten die Juden einen Ausfall aus Jerusalem und verfolgten das sich zurückziehende Heer, und während beider Streitkräfte auf diese Weise völlig in Anspruch genommen waren, verließen die Christen die Stadt. Um diese Zeit war auch das Land von Feinden frei, die hätten versuchen können, sie aufzuhalten. Zur Zeit der Belagerung waren die Juden in Jerusalem versammelt, um das Laubhüttenfest zu feiern, und dadurch hatten die Christen im ganzen Land die Möglichkeit, sich unbehelligt in Sicherheit zu bringen. Ohne Zögern flohen sie nach einem sicheren Ort — nach der Stadt Pella im Lande Peräa, jenseits des Jordans. GK.30.1 Teilen

31

Die jüdischen Streiter, die Cestius und sein Heer verfolgten, warfen sich mit solcher Wut auf dessen Nachhut, dass ihr vollständige Vernichtung drohte. Nur unter großen Schwierigkeiten gelang es den Römern, sich zurückzuziehen. Die Juden blieben nahezu ohne Verluste und kehrten mit ihrer Beute triumphierend nach Jerusalem zurück. Doch dieser scheinbare Erfolg brachte ihnen nur Unheil. Er beseelte sie mit einem außerordentlich hartnäckigen Widerstandsgeist gegen die Römer, wodurch schnell unaussprechliches Weh über die verurteilte Stadt hereinbrach. GK.31.1 Teilen

Schrecklich war das Unglück, das über Jerusalem kam, als Titus die Belagerung wieder aufnahm. Die Stadt wurde zurzeit des Passahfestes umlagert, als Millionen Juden in ihren Mauern weilten. Die Lebensmittelvorräte, die, sorgfältig aufbewahrt, jahrelang für die Bewohner ausgereicht hätten, waren schon durch die Mißgunst und der Rache der streitenden Parteien zerstört worden, und jetzt erlitten sie alle Schrecken der Hungersnot. Ein Maß Weizen wurde für ein Talent verkauft. Die Hungerqualen waren so schrecklich, dass manche an dem Leder ihrer Gürtel, an ihren Sandalen und an den Bezügen ihrer Schilde nagten. Viele Bewohner schlichen zur Nachtzeit aus der Stadt, um wilde Kräuter zu sammeln, die außerhalb der Stadtmauern wuchsen, obwohl etliche ergriffen und unter grausamen Martern getötet wurden, während man anderen, die wohlbehalten zurückgekehrt waren, die Kräuter wegnahm, die sie unter so großen Gefahren gesammelt hatten. Die unmenschlichsten Qualen wurden von den Machthabern auferlegt, um den vom Mangel Bedrückten die letzten spärlichen Vorräte, die sie möglicherweise verborgen hatten, abzuzwingen. Nicht selten begingen diese Grausamkeiten wohlgenährte Menschen, die nur danach trachteten einen Lebensmittelvorrat für die Zukunft aufzuspeichern. GK.31.2 Teilen

Tausende starben an Hunger und Seuchen. Die natürlichen Bande der Liebe schienen zerstört zu sein. Der Mann beraubte seine Frau und die Frau ihren Mann. Man sah Kinder, die den greisen Eltern das Brot vom Munde wegrissen. Der Frage des Propheten: „Kann auch ein Weib ihres Kindleins vergessen?“ Jesaja 49,15. wurde innerhalb der Mauern jener verurteilten Stadt die Antwort zuteil: „Es haben die barmherzigsten Weiber ihre Kinder selbst müssen kochen, dass sie zu essen hätten in dem Jammer der Tochter meines Volkes.“ Klagelieder 4,10. Wiederum erfüllte sich die warnende Weissagung, die vierzehn Jahrhunderte zuvor gegeben worden war: „Ein Weib unter euch, das zuvor zärtlich und in Üppigkeit gelebt hat, dass sie nicht versucht hat, ihre Fußsohle auf die Erde zu setzen, vor Zärtlichkeit und Wohlleben, die wird dem Manne in ihren Armen und ihrem Sohne und ihrer Tochter nicht gönnen die Nachgeburt, ... dazu ihre Söhne, die sie geboren hat; denn sie werden sie vor Mangel an allem heimlich essen in der Angst und Not, womit dich dein Feind bedrängen wird in deinen Toren.“ 5.Mose 28,56.57. GK.31.3 Teilen

32

Die römischen Anführer versuchten, die Juden mit Schrecken zu erfüllen und dadurch zur Übergabe zu bewegen. Israeliten, die sich ihrer Gefangennahme widersetzten, wurden gegeißelt, gefoltert und vor der Stadtmauer gekreuzigt. Hunderte erlitten täglich auf diese Weise den Tod, und dieses grauenvolle Werk setzte man so lange fort, bis im Tal Josaphat und auf Golgatha soviel Kreuze aufgerichtet waren, dass kaum Raum blieb, sich zwischen ihnen zu bewegen. Schrecklich erfüllte sich die frevelhafte, vor dem Richterstuhl des Pilatus ausgesprochene Verwünschung: „Sein Blut komme über uns und über unsre Kinder!“ Matthäus 27,25. GK.32.1 Teilen

Titus hätte der Schreckensszene gern ein Ende gemacht und damit der Stadt Jerusalem das volle Maß ihres Gerichtes erspart. Entsetzen packte ihn, als er die Leichname der Erschlagenen haufenweise in den Tälern liegen sah. Wie überwältigt schaute er vom Gipfel des Ölberges auf den herrlichen Tempel und gab Befehl, nicht einen Stein davon zu berühren. Ehe er daranging, diese Stätte einzunehmen, beschwor er die jüdischen Führer in einem ernsten Aufruf, ihn nicht zu zwingen die heilige Stätte mit Blut zu entweihen. Wenn sie herauskommen und an irgendeinem andern Ort kämpfen wollten, so sollte kein Römer die Heiligkeit des Tempels verletzen. Josephus gar forderte sie mit höchst beredten Worten auf, den Widerstand einzustellen und sich selbst, ihre Stadt und die Stätte der Anbetung zu retten. Aber seine Worte wurden mit bitteren Verwünschungen beantwortet. Wurfspieße schleuderte man nach ihm, ihrem letzten menschlichen Vermittler, als er vor ihnen stand, um mit ihnen zu verhandeln. Die Juden hatten die Bitten des Sohnes Gottes verworfen, und nun machten die ernsten Vorstellungen und flehentlichen Bitten sie nur um so entschiedener, bis zum letzten Widerstand zu leisten. Die Bemühungen des Titus, den Tempel zu retten, waren vergeblich. Ein Größerer als er hatte erklärt, dass nicht ein Stein auf dem andern bleiben sollte. GK.32.2 Teilen

33

Die blinde Hartnäckigkeit der führenden Juden und die verabscheuungswürdigen Verbrechen, die in der belagerten Stadt verübt wurden, erweckten bei den Römern Entsetzen und Entrüstung, und endlich beschloß Titus, den Tempel im Sturm zu nehmen, ihn aber, wenn möglich, vor der Zerstörung zu bewahren. Seine Befehle wurden jedoch mißachtet. Als er sich abends in sein Zelt zurückgezogen hatte, unternahmen die Juden einen Ausfall aus dem Tempel und griffen die Soldaten draußen an. Im Handgemenge wurde von einem Soldaten ein Feuerbrand durch die Öffnung der Halle geschleudert, und unmittelbar darauf standen die mit Zedernholz getäfelten Räume des heiligen Gebäudes in Flammen. Titus eilte mit seinen Obersten und Legionären herbei und befahl den Soldaten, die Flammen zu löschen. Seine Worte blieben unbeachtet. In ihrer Wut schleuderten die Legionäre Feuerbrände in die an den Tempel stoßenden Gemächer und metzelten viele, die dort Zuflucht gesucht hatten, mit dem Schwert nieder. Das Blut floß gleich Wasser die Tempelstufen hinunter. Tausende und aber Tausende von Juden kamen um. Das Schlachtgetöse wurde übertönt von dem Ruf: „Ikabod!“, das heißt die Herrlichkeit ist dahin. GK.33.1 Teilen

„Titus war es unmöglich, der Wut der Soldaten Einhalt zu gebieten; er trat mit seinen Offizieren ein und besichtigte das Innere des heiligen Gebäudes. Der Glanz erregte ihre Bewunderung, und da die Flammen noch nicht bis zum Heiligtum vorgedrungen waren, unternahm er einen letzten Versuch, es zu retten. Er sprang hervor und forderte die Mannschaften auf, das Umsichgreifen der Feuersbrunst zu verhindern. Der Hauptmann Liberalis versuchte mit seinem Stab Gehorsam zu erzwingen; doch selbst die Achtung vor ihrem Feldherrn verging vor der rasenden Feindseligkeit gegen die Juden, der heftigen Aufregung des Kampfes und der unersättlichen Beutegier. Die Soldaten sahen alles um sich herum von Gold blitzen, das in dem wilden Lodern der Flammen einen blendenden Glanz ausstrahlte; sie wähnten unermeßliche Schätze im Heiligtum aufgespeichert. Unbemerkt warf ein Soldat eine brennende Fackel zwischen die Angeln der Tür, und im Nu stand das ganze Gebäude in Flammen. Die dichten Rauchschwaden und das Feuer zwangen die Offiziere, sich zurückzuziehen und das herrliche Gebäude seinem Schicksal zu überlassen. GK.33.2 Teilen

34

War es schon für die Römer ein erschreckendes Schauspiel, wie mögen es erst die Juden empfunden haben! Die ganze Höhe, die die Stadt weit überragte, erschien wie ein feuerspeiender Berg. Ein Gebäude nach dem andern stürzte mit furchtbarem Krachen zusammen und wurde von dem feurigen Abgrund verschlungen. Die Dächer aus Zedernholz glichen einem Feuermeer, die vergoldeten Zinnen glänzten wie flammende Feuerzungen, die Türme der Tore schossen Flammengarben und Rauchsäulen empor. Die benachbarten Hügel waren erleuchtet; gespenstisch wirkende Zuschauergruppen verfolgten in fürchterlicher Angst die fortschreitende Zerstörung; auf den Mauern und Höhen der oberen Stadt drängte sich Kopf an Kopf. Manche waren bleich vor Angst und Verzweiflung, andere blickten düster, in ohnmächtiger Rache. Die Rufe der hin und her eilenden römischen Soldaten, das Heulen der Aufständischen, die in den Flammen umkamen, vermischten sich mit dem Brüllen der Feuersbrunst und dem donnernden Krachen des stürzenden Gebälks. Das Echo antwortete von den Bergen und ließ die Schreckensrufe des Volkes auf den Höhen widerhallen; entlang der Wälle erscholl Angstgeschrei und Wehklagen; Menschen, die von der Hungersnot erschöpft im Sterben lagen, rafften alle Kraft zusammen, um einen letzten Schrei der Angst und der Verlassenheit auszustoßen. Das Blutbad im Innern war noch schrecklicher als der Anblick von außen. Männer und Frauen, alt und jung, Aufrührer und Priester, Kämpfende und um Gnade Flehende wurden unterschiedslos niedergemetzelt. Die Anzahl der Erwürgten überstieg die der Würger. Die Legionäre mussten über Berge von Toten hinwegsteigen, um ihr Vertilgungswerk fortsetzen zu können.“ 1 GK.34.1 Teilen

Nach der Zerstörung des Tempels fiel bald die ganze Stadt in die Hände der Römer. Die Obersten der Juden gaben ihre uneinnehmbar scheinenden Türme auf, und Titus fand sie alle verlassen. Staunend blickte er auf sie und erklärte, dass Gott sie in seine Hände gegeben habe; denn keine Kriegsmaschine, wie gewaltig sie auch sein mochte, hätte jene staunenswerten Festungsmauern bezwingen können. Sowohl die Stadt als auch der Tempel wurden bis auf die Grundmauern geschleift, und der Boden, auf dem das heilige Gebäude gestanden hatte, wurde „wie ein Acker gepflügt“. Jeremia 6,18. Während der Belagerung und bei dem darauffolgenden Gemetzel kamen über eine Million Menschen ums Leben; die Überlebenden wurden in die Gefangenschaft geführt, als Sklaven verkauft, nach Rom geschleppt, um den Triumph des Eroberers zu zieren, sie wurden in den Amphitheatern den wilden Tieren vorgeworfen oder als heimatlose Wanderer über die ganze Erde zerstreut. GK.34.2 Teilen

35

Die Juden hatten sich selbst die Fesseln geschmiedet, sich selbst den Becher der Rache gefüllt. In der vollständigen Vernichtung, die ihnen als Nation widerfuhr, und in all dem Weh, das ihnen in die Diaspora (Zerstreuung) nachfolgte, ernteten sie nur, was sie mit eigenen Händen gesät hatten. Ein Prophet schrieb einst: „Israel, du bringst dich in Unglück! ... denn du bist gefallen um deiner Missetat willen.“ Hosea 13,9; Hosea 14,2. Ihre Leiden werden oft als eine Strafe hingestellt, mit der sie auf direkten Befehl Gottes heimgesucht wurden. Auf diese Weise sucht der große Betrüger sein eigenes Werk zu verbergen. Durch eigensinnige Verwerfung der göttlichen Liebe und Gnade hatten die Juden den Schutz Gottes verwirkt, so dass Satan sie nach seinem Willen beherrschen konnte. Die schrecklichen Grausamkeiten, die bei der Zerstörung Jerusalems verübt worden waren, kennzeichnen Satans rachsüchtige Macht über jene, die sich seiner verderbenbringenden Herrschaft unterstellen. GK.35.1 Teilen

Wir können nicht ermessen, wie viel wir Christus für den Frieden und Schutz schuldig sind, deren wir uns erfreuen. Es ist die mäßigende Kraft Gottes, die verhindert, dass die Menschen völlig unter die Herrschaft Satans geraten. Die Ungehorsamen und die Undankbaren haben allen Grund, Gott für seine Gnade und Langmut dankbar zu sein, weil er die grausame, boshafte Macht des Bösen im Zaum hält. Überschreiten aber die Menschen die Grenzen der göttlichen Nachsicht, dann wird jene Einschränkung aufgehoben. Gott tritt dem Sünder nicht als Scharfrichter gegenüber, sondern er überläßt jene, die seine Gnade verwerfen, sich selbst, damit sie ernten, was sie gesät haben. Jeder verworfene Lichtstrahl, jede verschmähte oder unbeachtete Warnung, jede geduldete Leidenschaft, jede Übertretung des Gesetzes Gottes ist eine Saat, die ihre bestimmte Ernte hervorbringen wird. Der Geist Gottes wird sich schließlich von dem Sünder, der sich ihm beharrlich widersetzt, zurückziehen, und dann bleibt dem Betreffenden weder die Kraft, die bösen Leidenschaften der Seele zu beherrschen, noch der Schutz, der ihn vor der Bosheit und Feindschaft Satans bewahrt. Die Zerstörung Jerusalems ist eine furchtbare und ernste Warnung an alle, die das Anerbieten der göttlichen Gnade geringachten und den Mahnrufen der Barmherzigkeit Gottes widerstehen. Niemals wurde ein entscheidenderes Zeugnis für den Abscheu Gottes gegenüber der Sünde und für die sichere Bestrafung der Schuldigen gegeben. GK.35.2 Teilen

36

Die Weissagung des Heilandes, die die göttliche Heimsuchung Jerusalems ankündigte, wird noch eine andere Erfüllung finden, von der jene schreckliche Verwüstung nur ein schwacher Abglanz ist. In dem Schicksal der auserwählten Stadt können wir das Los einer Welt sehen, die Gottes Barmherzigkeit von sich gewiesen und sein Gesetz mit Füßen getreten hat. Grauenhaft sind die Berichte des menschlichen Elends, das die Erde während der langen Jahrhunderte des Verbrechens erlebte. Das Herz wird beklommen und der Geist verzagt, wenn wir über diese Dinge nachdenken. Schrecklich waren die Folgen, als die Macht des Himmels verworfen wurde. Doch ein noch furchtbareres Bild wird uns in den Offenbarungen über die Zukunft enthüllt. Die Berichte der Vergangenheit — die lange Reihe von Aufständen, Kämpfen und Revolutionen, alle Kriege „mit Ungestüm ... und die blutigen Kleider“ (Jesaja 9,4) —, was sind sie im Vergleich zu den Schrecken jenes Tages, an dem der mäßigend wirkende Geist Gottes den Gottlosen gänzlich entzogen und nicht länger die Ausbrüche menschlicher Leidenschaften und satanischer Wut zügeln wird! Dann wird die Welt wie niemals zuvor die entsetzlichen Folgen der Herrschaft Satans erkennen. GK.36.1 Teilen

An jenem Tage aber wird, wie zurzeit der Zerstörung Jerusalems, Gottes Volk errettet werden, „ein jeglicher, der geschrieben ist unter die Lebendigen“. Jesaja 4,3. Christus hat vorhergesagt, dass er wiederkommen will, um seine Getreuen um sich zu sammeln: „Und alsdann werden heulen alle Geschlechter auf Erden und werden sehen kommen des Menschen Sohn in den Wolken des Himmels mit großer Kraft und Herrlichkeit. Und er wird senden seine Engel mit hellen Posaunen, und sie werden sammeln seine Auserwählten von den vier Winden, von dem einen Ende des Himmels zu dem andern.“ Matthäus 24,30.31. Dann werden alle, die dem Evangelium nicht gehorchten, „mit dem Geist seines Mundes“ umgebracht und „durch die Erscheinung seiner Zukunft“ vernichtet werden. 2.Thessalonicher 2,8. Gleichwie einst Israel, so bringen auch die Gottlosen sich selbst um; sie fallen infolge ihrer Übertretungen. Durch ein sündenreiches Leben haben sie so wenig Gemeinschaft mit Gott, und ihr Wesen ist durch das Böse so verderbt und entwürdigt worden, dass die Offenbarung seiner Herrlichkeit für sie zu einem verzehrenden Feuer werden wird. GK.36.2 Teilen

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Hüteten sich die Menschen doch davor, die ihnen in Christi Worten gegebenen Lehren geringzuschätzen. Gleichwie er seine Jünger vor der Zerstörung Jerusalems warnte, indem er ihnen ein Zeichen des herannahenden Untergangs nannte, damit sie fliehen könnten, ebenso hat er die Welt vor dem Tag der endgültigen Vernichtung gewarnt und ihr Zeichen seines Nahens gegeben, damit alle, die dem zukünftigen Zorn entrinnen wollen, ihm auch entrinnen können. Jesus erklärt: „Es werden Zeichen geschehen an Sonne und Mond und Sternen; und auf Erden wird den Leuten bange sein.“ Lukas 21,25; Matthäus 24,29; Markus 13,24-26; Offenbarung 6,12-17. Wer diese Vorboten seines Kommens sieht, soll wissen „dass es Nahe vor der Tür ist“. „So wachet nun!“ lauten seine mahnenden Worte. Matthäus 24,33; Markus 13,35. Alle, die auf diese Stimme achten, sollen nicht in Finsternis bleiben, damit jener Tag sie nicht unvorbereitet überfalle; aber über alle, die nicht wachen wollen, wird der Tag des Herrn kommen wie ein Dieb in der Nacht. GK.37.1 Teilen

Die Welt ist jetzt nicht geneigter, die Warnungsbotschaften für diese Zeit anzunehmen, als damals die Juden, die sich der Botschaft unseres Heilandes über Jerusalem widersetzten. Mag er kommen, wann er will — der Tag des Herrn wird die Gottlosen unvorbereitet finden. Wenn das Leben seinen gewöhnlichen Gang geht, wenn die Menschheit von Vergnügungen, Geschäften, Handel und Gelderwerb in Anspruch genommen ist. Wenn religiöse Führer den Fortschritt und die Aufklärung der Welt verherrlichen, wenn das Volk in falsche Sicherheit gewiegt ist —, dann wird, wie ein Dieb sich um Mitternacht in die unbewachte Behausung einschleicht, das plötzliche Verderben die Sorglosen und Bösewichte überfallen, und sie werden keine Gelegenheit mehr haben, dem Verhängnis zu entfliehen. 1.Thessalonicher 5,2-5. GK.37.2 Teilen

Kapitel 2: Verfolgung in den ersten Jahrhunderten
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Als Christus auf dem Ölberg seinen Jüngern das Schicksal Jerusalems und die Ereignisse seiner Wiederkunft enthüllte, sprach er auch über die zukünftigen Erfahrungen seines Volkes von seiner Himmelfahrt an bis zu seiner Wiederkunft in Macht und Herrlichkeit zur Befreiung seines Volkes. Er sah die bald über die apostolische Gemeinde hereinbrechenden Stürme, und weiter in die Zukunft dringend, erblickte sein Auge die grimmigen, verwüstenden Wetter, die in den kommenden Zeiten der Finsternis und der Verfolgung über seine Nachfolger heraufziehen werden. In wenigen kurzen Äußerungen von furchtbarer Bedeutsamkeit sagte er ihnen voraus, in welchem Ausmaß die Herrscher dieser Welt die Gemeinde Gottes verfolgen werden. Matthäus 24,9.21.22. Die Nachfolger Christi müssen den gleichen Weg der Demütigung, der Schmach und des Leidens beschreiten, den ihr Meister ging. Die Feindschaft, die dem Erlöser der Welt entgegenschlug, erhebt sich auch gegen alle, die an seinen Namen glauben. GK.39.1 Teilen

Die Geschichte der ersten Gemeinde zeugt von der Erfüllung der Worte Jesu. Die Mächte der Erde und der Hölle vereinigten sich gegen den in seinen Nachfolgern lebendigen Christus. Das Heidentum sah sehr wohl voraus, dass seine Tempel und Altäre niedergerissen würden, falls das Evangelium triumphierte; deshalb bot es alle Kräfte auf, um das Christentum zu vernichten. Die Feuer der Verfolgung wurden angezündet. Christen beraubte man ihrer Besitztümer und vertrieb sie aus ihren Heimstätten. Sie erduldeten „einen großen Kampf des Leidens“. Hebräer 10,32. Sie „haben Spott und Geißeln erlitten, dazu Bande und Gefängnis; sie wurden gesteinigt, zerhackt, zerstochen, durchs Schwert getötet“. Hebräer 11,36. Eine große Anzahl besiegelte ihr Zeugnis mit ihrem Blut. Edelmann und Sklave, reich und arm, Gelehrte und Unwissende wurden ohne Unterschied erbarmungslos umgebracht. GK.39.2 Teilen

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Diese Verfolgungen, die unter Nero etwa zurzeit des Märtyrertums des Paulus begannen, dauerten mit größerer oder geringerer Heftigkeit jahrhundertelang fort. Christen wurden zu Unrecht der abscheulichsten Verbrechen angeklagt und als die Ursache großer Unglücksfälle, wie Hungersnot, Pestilenz und Erdbeben, hingestellt. Da sie allgemein gehaßt und verdächtigt wurden, fanden sich auch leicht Ankläger, die um des Gewinns willen Unschuldige verrieten. Die Christen wurden als Empörer gegen das Reich, als Feinde der Religion und als Schädlinge der Gesellschaft verurteilt. Viele warf man wilden Tieren vor oder verbrannte sie lebendig in den Amphitheatern. Manche wurden gekreuzigt, andere in die Felle wilder Tiere eingenäht und in die Arena geworfen, um von Hunden zerrissen zu werden. Die ihnen gewärtige Strafe bildete oft die Hauptunterhaltung bei öffentlichen Festen. Viele Menschen kamen zusammen, um sich an dem Anblick der Gepeinigten zu ergötzen. Sie begrüßten deren Todesschmerzen mit Gelächter und Beifallklatschen. GK.40.1 Teilen

Wo die Nachfolger Christi auch Zuflucht fanden, immer wurden sie gleich Raubtieren aufgejagt. Sie waren genötigt, sich an öden und verlassenen Stätten zu verbergen. „Mit Mangel, mit Trübsal, mit Ungemach (deren die Welt nicht wert war)“, sind sie „im Elend umhergeirrt in den Wüsten, auf den Bergen und in den Klüften und Löchern der Erde“. Hebräer 11,37.38. Die Katakomben boten Tausenden eine Zufluchtsstätte. Unter den Hügeln außerhalb der Stadt Rom gab es lange, durch Erde und Felsen getriebene Gänge, deren dunkles, verschlungenes Netzwerk sich kilometerweit über die Stadtmauern hinaus erstreckte. In diesen unterirdischen Zufluchtsorten begruben die Nachfolger Christi ihre Toten, und hier fanden sie auch, wenn sie verdächtigt und geächtet wurden, eine Heimstätte. Wenn der Heiland alle, die den guten Kampf gekämpft haben, auferwecken wird, werden viele, die um seinetwillen Märtyrer geworden sind, aus jenen Höhlen hervorkommen. GK.40.2 Teilen

Selbst unter heftigster Verfolgung hielten diese Zeugen für Jesus ihren Glauben rein. Obwohl jeder Bequemlichkeit beraubt, abgeschlossen vom Licht der Sonne, im dunklen aber freundschaftlichen Schoß der Erde ihre Wohnung aufschlagend, klagten sie nicht. Mit Worten des Glaubens, der Geduld und der Hoffnung ermutigten sie einander, Entbehrungen und Trübsale zu ertragen. Der Verlust aller irdischen Segnungen vermochte sie nicht zu zwingen, ihrem Glauben an Christus zu entsagen. Prüfungen und Verfolgungen waren nur Stufen, um sie ihrer Ruhe und ihrem Lohn näher zu bringen. GK.40.3 Teilen

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Viele wurden gleich den Dienern Gottes vorzeiten „zerschlagen und haben keine Erlösung angenommen, auf dass sie die Auferstehung, die besser ist erlangten.“ Hebräer 11,35. Sie riefen sich die Worte ihres Meisters ins Gedächtnis zurück, dass sie bei Verfolgungen um Christi willen fröhlich und getrost sein sollten; denn wunderbar würde ihr Lohn im Himmel sein. Auch die Propheten vor ihnen waren in gleicher Weise verfolgt worden. Die Nachfolger Jesu freuten sich, würdig erachtet worden zu sein, für die Wahrheit zu leiden, und Triumphgesänge stiegen aus den prasselnden Flammen empor. Im Glauben aufwärtsschauend, erblickten sie Christus und heilige Engel, die sich zu ihnen herabneigten, sie mit innigster Anteilnahme beobachteten und wohlgefällig ihre Standhaftigkeit betrachteten. Eine Stimme kam vom Thron Gottes zu ihnen hernieder: „Sei getreu bis an den Tod, so will ich dir die Krone des Lebens geben.“ Offenbarung 2,10. GK.41.1 Teilen

Vergeblich waren Satans Anstrengungen, die Gemeinde Christi mit Gewalt zu zerstören. Der große Kampf in dem Christi Jünger ihr Leben hingaben, hörte nicht auf, als diese treuen Bannerträger auf ihrem Posten fielen. Durch ihre Niederlage blieben sie Sieger. Gottes Mitarbeiter wurden erschlagen; sein Werk aber ging stetig vorwärts. Das Evangelium breitete sich aus, die Schar seiner Anhänger nahm zu, es drang in Gebiete ein, die selbst dem römischen Adler unzugänglich geblieben waren. Ein Christ, der mit den heidnischen Herrschern verhandelte, welche die Verfolgung eifrig betrieben, sagte: „Kreuzigt, martert, verurteilt uns, reibt uns auf, und ein Beweis unserer Unschuld ist eure Ungerechtigkeit! Und doch hilft all eure noch so ausgeklügelte Grausamkeit nichts; ein Lockmittel ist sie eher für unsere Gemeinschaft. Nur zahlreicher werden wir, so oft wir von euch niedergemäht werden: ein Same ist das Blut der Christen.“ 1 GK.41.2 Teilen

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Tausende wurden eingekerkert und umgebracht; aber andere standen auf, um diese Lücken auszufüllen. Die um ihres Glaubens willen den Märtyrertod erlitten, waren Christus gewiß und wurden von ihm als Überwinder angesehen. Sie hatten den guten Kampf gekämpft und werden die Krone der Gerechtigkeit empfangen, wenn Christus wiederkommt. Die Leiden, die die Christen erduldeten, verbanden sie inniger miteinander und mit ihrem Erlöser. Ihr beispielhaftes Leben, ihr Bekenntnis im Sterben waren ein unvergängliches Zeugnis für die Wahrheit. Wo es vielfach am wenigsten zu erwarten war, verließen Untertanen Satans seinen Dienst und stellten sich entschlossen unter das Banner Christi. GK.42.1 Teilen

Satan versuchte, erfolgreicher gegen die Herrschaft Gottes Krieg zu führen, indem er sein Banner in der christlichen Gemeinde aufpflanzte. Können die Nachfolger Christi getäuscht und verleitet werden, Gott zu mißfallen, dann wären ihre Kraft, Festigkeit und Beharrlichkeit dahin, ja, sie fielen ihm als leichte Beute zu. GK.42.2 Teilen

Der große Gegner suchte durch Hinterlist das zu erreichen, was er sich mit Gewalt nicht zu sichern vermochte. Die Verfolgungen hörten auf; an ihre Stelle traten die gefährlichen Lockungen irdischen Wohllebens und weltlichen Ruhms. Götzendiener wurden veranlaßt, einen Teil des christlichen Glaubens anzunehmen, wogegen sie andere wesentliche Wahrheiten verwarfen. Sie gaben vor, Jesus als den Sohn Gottes anzuerkennen und an seinen Tod und an seine Auferstehung zu glauben; aber sie erkannten nicht ihre Sünden und fühlten nicht das Bedürfnis, sie zu bereuen oder die Gesinnung ihres Herzens zu ändern. Zu einigen Zugeständnissen bereit, schlugen sie den Christen vor, um eines einheitlichen Glaubensbekenntnisses an Christus willen, auch ihrerseits Entgegenkommen zu zeigen. GK.42.3 Teilen

Die Gemeinde befand sich in einer furchtbaren Gefahr, gegen die Gefängnis, Folter, Feuer und Schwert als Segnungen gelten konnten. Einige Christen blieben fest und erklärten, dass sie auf keine Vergleichslösungen eingehen könnten. Andere stimmten für ein Entgegenkommen oder für Abänderung einiger ihrer Glaubensregeln und verbanden sich mit denen, die das Christentum teilweise angenommen hatten, indem sie geltend machten, es möchte jenen zur vollständigen Bekehrung dienen. Dies war für die treuen Nachfolger Christi eine angsterfüllte Zeit. Unter dem Deckmantel eines angeblichen Christentums verstand es Satan, sich in die Gemeinde einzuschleichen, um ihren Glauben zu verfälschen und ihre Sinne vom Wort der Wahrheit abzulenken. GK.42.4 Teilen

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Der größte Teil der Christen war schließlich bereit, von seiner höheren Ebene herabzusteigen, und eine Vereinigung zwischen Christentum und Heidentum kam zustande. Obwohl die Götzendiener angeblich bekehrt waren und sich der Gemeinde anschlossen, hielten sie doch noch am Götzendienst fest; sie wechselten nur den Gegenstand ihrer Anbetung; an die Stelle ihrer Götzen setzten sie Abbildungen von Jesus, von Maria und den Heiligen. Ungesunde Lehren, abergläubische Gebräuche und götzendienerische Zeremonien wurden mit ihrem Glauben und ihrem Gottesdienst vereinigt. Als sich die Nachfolger Christi mit den Götzendienern verbanden, verderbte die christliche Gemeinde und ihre Reinheit und Kraft ging verloren. Immerhin gab es etliche, die durch diese Täuschungen nicht irregeleitet wurden, die dem Fürsten der Wahrheit ihre Treue bewahrten und Gott allein anbeteten. GK.43.1 Teilen

Unter denen, die vorgaben Christi Nachfolger zu sein, hat es jederzeit zwei Gruppen gegeben. Während die eine das Leben des Heilandes erforscht und sich ernstlich bemüht, jeden ihrer Fehler zu verbessern und ihrem Vorbilde ähnlich zu werden, scheut die andere die klaren, praktischen Wahrheiten, die ihre Irrtümer bloßstellen. Selbst in ihrer besten Verfassung bestand die Gemeinde nicht nur aus wahren, reinen und aufrichtigen Seelen. Unser Heiland lehrte, dass die, welche sich willig der Sünde hingeben, nicht in die Gemeinde aufgenommen werden sollen; dennoch verband er sich mit Männern fehlerhaften Charakters und gewährte ihnen den Nutzen seiner Lehren und seines Beispiels, damit sie Gelegenheit hätten, ihre Fehler zu erkennen und zu berichtigen. Unter den zwölf Aposteln befand sich ein Verräter. Judas wurde nicht wegen, sondern trotz seiner Charakterfehler aufgenommen. Er wurde als Jünger berufen, damit er durch Christi Lehre und Vorbild lernte, worin ein christlicher Charakter besteht. Auf diese Weise sollte er seine Fehler erkennen, Buße tun und mit Hilfe der göttlichen Gnade seine Seele reinigen „im Gehorsam der Wahrheit“. Aber Judas wandelte nicht in dem Licht, das ihm so gnädig schien; er gab der Sünde nach und forderte dadurch die Versuchungen Satans heraus. Seine bösen Charakterzüge gewannen die Oberhand. Er ließ sich von den Mächten der Finsternis leiten, wurde zornig, wenn man seine Fehler tadelte, und gelangte auf diese Weise dahin, den furchtbaren Verrat an seinem Meister zu begehen. So hassen alle, die unter dem Schein eines gottseligen Wesens das Böse lieben, diejenigen, die ihren Frieden stören und dadurch ihren sündhaften Lebenswandel verurteilen. Bietet sich ihnen eine günstige Gelegenheit, so werden sie, wie auch Judas, die verraten, die versucht haben, sie zu ihrem Besten zurechtzuweisen. GK.43.2 Teilen

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Die Apostel fanden angeblich fromme Glieder in der Gemeinde, die jedoch im geheimen der Sünde huldigten. Ananias und Saphira waren Betrüger, denn sie behaupteten, Gott ein vollständiges Opfer darzubringen, obwohl sie habsüchtig einen Teil davon für sich zurückbehielten. Der Geist der Wahrheit offenbarte den Aposteln den wirklichen Charakter dieser Scheinheiligen, und Gottes Gericht befreite die Gemeinde von diesem Makel, der ihre Reinheit beschmutzte. Dieser offenkundige Beweis, dass der scharfsichtige Geist Christi in der Gemeinde gegenwärtig war, erschreckte die Heuchler und Übeltäter, die nicht lange mit jenen in Verbindung bleiben konnten, die ihrem Handeln und ihrer Gesinnung nach beständig Stellvertreter Christi waren. Als schließlich Prüfungen und Verfolgungen über seine Nachfolger hereinbrachen, wünschten nur die seine Jünger zu werden, die bereit waren, um der Wahrheit willen alles zu verlassen. Dadurch blieb die Gemeinde, solange die Verfolgung andauerte, verhältnismäßig rein. Nachdem aber die Verfolgung aufgehört hatte und Neubekehrte, die weniger aufrichtig waren, zur Gemeinde kamen, öffnete sich für Satan der Weg, in der Gemeinde Fuß zu fassen. GK.44.1 Teilen

Es gibt jedoch keine Gemeinschaft zwischen dem Fürsten des Lichts und dem Fürsten der Finsternis, mithin auch keine Verbindung zwischen ihren Nachfolgern. Als die Christen einwilligten, sich mit Seelen zu verbinden, die dem Heidentum nur halb abgesagt hatten, betraten sie einen Pfad, der sie von der Wahrheit immer weiter wegführte. Satan aber frohlockte, dass es ihm gelungen war, eine so große Zahl der Nachfolger Christi zu täuschen. Er übte nun seine Macht in noch stärkerem Grade über die Betrogenen aus und trieb sie an, die Gott Treugebliebenen zu verfolgen. Niemand konnte dem wahren Christenglauben so gut entgegentreten, wie jene, die ihn einst verteidigt hatten; und diese abtrünnigen Christen zogen mit ihren halbheidnischen Gefährten vereint, gegen die wesentlichsten Lehren in den Kampf. GK.44.2 Teilen

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Es bedurfte eines verzweifelten Ringens der Getreuen, fest zu stehen gegen die Betrügereien und Greuel, die in priesterlichem Gewande in die Gemeinde eingeführt wurden. Man bekannte sich nicht mehr zur Heiligen Schrift als Richtschnur des Glaubens. Der Grundsatz von wahrer Religionsfreiheit wurde als Ketzerei gebrandmarkt, seine Verteidiger gehaßt und geächtet. GK.45.1 Teilen

Nach langem und schwerem Kampf entschlossen sich die wenigen Getreuen, jede Gemeinschaft mit der abtrünnigen Kirche aufzuheben, falls diese sich beharrlich weigere, dem Irrtum und dem Götzendienst zu entsagen. Sie erkannten, dass die Trennung eine unbedingte Notwendigkeit war, wenn sie selbst dem Worte Gottes gehorchen wollten. Sie wagten weder Irrtümer zu dulden, die für ihre eigenen Seelen gefährlich waren, noch ein Beispiel zu geben, dass den Glauben ihrer Kinder und Kindeskinder gefährden würde. Um Frieden und Einheit zu wahren, zeigten sie sich bereit, irgendwelche mit ihrer Gottestreue vereinbare Zugeständnisse zu machen; sie fühlten aber, dass selbst der Friede unter Aufopferung ihrer Grundsätze zu teuer erkauft wäre. Einer Übereinstimmung auf Kosten der Wahrheit und Rechtschaffenheit zogen sie jedoch lieber die Uneinigkeit, ja selbst den Kampf vor. GK.45.2 Teilen

Es wäre für die Gemeinde und die Welt gut, wenn die Grundsätze, die jene standhaften Seelen zum Handeln bewogen, in den Herzen des Volkes Gottes wiederbelebt würden. Es herrscht eine beunruhigende Gleichgültigkeit bezüglich der Lehren, die Träger des christlichen Glaubens sind. Es tritt die Meinung stärker hervor, dass sie nicht so wichtig seien. Diese Geringschätzung stärkt die Hände der Vertreter Satans so sehr, dass jene falschen Lehrbegriffe und verhängnisvollen Täuschungen, zu deren Bekämpfung und Enthüllung die Getreuen in vergangenen Zeiten ihr Leben wagten, jetzt von Tausenden sogenannter Nachfolger Christi wohlgefällig betrachtet werden. GK.45.3 Teilen

Die ersten Christen waren in der Tat ein besonderes Volk. Ihr tadelloses Betragen und ihr unwandelbarer Glaube bildete einen beständigen Vorwurf, der die Ruhe der Sünder störte. Obwohl gering an Zahl, ohne Reichtum, Stellung oder Ehrentitel, waren sie überall, wo ihr Charakter und ihre Lehren bekannt wurden, den Übeltätern ein Schrecken. Deshalb wurden sie von den Gottlosen gehaßt, wie ehedem Abel von dem gottlosen Kain gehaßt worden war. Die gleiche Ursache, die Kain zu Abels Mörder werden ließ, veranlaßte diejenigen, die sich von dem zügelnden Einfluß des Geistes Gottes zu befreien suchten, Gottes Kinder zu töten. Aus dem gleichen Grunde verwarfen und kreuzigten die Juden den Heiland; denn die Reinheit und die Heiligkeit seines Charakters waren eine fortwährende Anklage gegen ihre Selbstsucht und Verderbtheit. Von den Tagen Christi an bis in unsere Zeit hinein haben seine getreuen Jünger den Haß und den Widerspruch der Menschen erweckt, die die Wege der Sünde lieben und ihnen nachgehen. GK.45.4 Teilen

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Wie kann aber das Evangelium eine Botschaft des Friedens genannt werden? Als Jesaja die Geburt des Messias vorhersagte, gab er ihm den Titel „Friedefürst“. Als die Engel den Hirten verkündigten, dass Christus geboren sei, sangen sie über den Ebenen Bethlehems: „Ehre sei Gott in der Höhe und Frieden auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen!“ Lukas 2,14. Zwischen diesen prophetischen Aussagen und den Worten Christi: „Ich bin nicht gekommen, Frieden zu senden, sondern das Schwert“ (Matthäus 10,34), scheint ein Widerspruch zu bestehen. Doch richtig verstanden, stimmen beide Aussprüche vollkommen überein. Das Evangelium ist eine Botschaft des Friedens. Das Christentum verbreitet, wenn es angenommen und ausgelebt wird, Frieden, Eintracht und Freude über die ganze Erde. Die Religion Christi verbindet alle, die ihre Lehren annehmen, in inniger Bruderschaft miteinander. Es war Jesu Aufgabe, die Menschen mit Gott und somit auch mit einander zu versöhnen. Aber die Welt befindet sich im großen und ganzen unter der Herrschaft Satans, des bittersten Feindes Christi. Das Evangelium zeigt ihr die Grundsätze des Lebens, die mit ihren Sitten und Wünschen völlig im Widerspruch stehen, und gegen die sie sich empört. Sie haßt die Reinheit, die ihre Sünden offenbart und verurteilt, und sie verfolgt und vernichtet alle, die ihr jene gerechten und heiligen Ansprüche vor Augen halten. In diesem Sinne — da die erhabenen Wahrheiten, die das Evangelium bringt, Haß und Streit zeitigen — wird es ein Schwert genannt. GK.46.1 Teilen

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Das geheimnisvolle Wirken der Vorsehung, die zuläßt, dass der Gerechte von der Hand des gottlosen Verfolgung erleidet, hat viele, die schwach im Glauben sind, schon in größte Verlegenheit gebracht. Manche sind sogar bereit, ihr Vertrauen zu Gott wegzuwerfen, weil er es zuläßt, dass es den niederträchtigsten Menschen wohlergeht, während die besten und aufrichtigsten von ihrer grausamen Macht bedrängt und gequält werden. Wie, fragt man, kann ein Gerechter und Barmherziger, dessen Macht unendlich ist, solche Ungerechtigkeit und Unterdrückung dulden? — Mit einer solchen Frage haben wir nichts zu tun. Gott hat uns ausreichende Beweise seiner Liebe gegeben, und wir sollen nicht an seiner Güte zweifeln, weil wir das Wirken seiner Vorsehung nicht zu ergründen vermögen. Der Heiland sagte zu seinen Jüngern, als er die Zweifel voraussah, die in den Tagen der Prüfung und der Finsternis ihre Seele bestürmen würden: „Gedenket an mein Wort, das ich euch gesagt habe: ‚Der Knecht ist nicht größer denn sein Herr.‘ Haben sie mich verfolgt, sie werden euch auch verfolgen.“ Johannes 15,20. Jesus hat für uns mehr gelitten, als irgendeiner seiner Nachfolger durch die Grausamkeit gottloser Menschen jemals zu leiden haben kann. Wer berufen ist, Qualen und Märtyertod zu erdulden, folgt nur den Fußtapfen des treuen Gottessohnes. GK.47.1 Teilen

„Der Herr verzieht nicht die Verheißung.“ 2.Petrus 3,9. Er vergißt oder vernachlässigt seine Kinder nicht; er gestattet aber den Gottlosen, ihren wahren Charakter zu offenbaren, damit keiner, der seinem Willen folgen will, über sie getäuscht werden kann. Wiederum läßt er die Gerechten durch den Feuerofen der Trübsal gehen, damit sie selbst gereinigt werden, damit ihr Beispiel andere von der Wirklichkeit des Glaubens und der Gottseligkeit überzeuge und ihr treuer Wandel die Gottlosen und Ungläubigen verurteile. GK.47.2 Teilen

Gott läßt es zu, dass die Bösen gedeihen und ihre Feindschaft gegen ihn bekunden, damit, wenn das Maß ihrer Ungerechtigkeit voll ist, alle Menschen in ihrer vollständigen Vernichtung seine Gnade und Gerechtigkeit sehen können. Der Tag seiner Vergeltung rückt rasch näher, da allen die sein Gesetz übertreten und sein Volk unterdrückt haben, der gerechte Lohn für ihre Taten zuteil werden wird; da jede grausame und ungerechte Handlung gegen die Getreuen Gottes bestraft werden wird, als wäre sie Christus selbst angetan worden. GK.47.3 Teilen

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Es gibt eine andere und wichtigere Frage, auf die sich die Aufmerksamkeit der Kirchen unserer Tage richten sollte. Der Apostel Paulus erklärt, dass „alle, die gottselig leben wollen in Christo Jesu, müssen Verfolgung leiden“. 2.Timotheus 3,12. Wie kommt es dann, dass die Verfolgung gewissermaßen zu schlummern scheint? Der einzige Grund ist, dass die Kirchen sich der Welt angepaßt haben und deshalb keinen Widerstand erwecken. Die heutzutage im Volk verbreitete Religion hat nicht den reinen und heiligen Charakter, der den christlichen Glauben in den Tagen Christi und seiner Apostel kennzeichnete. Weil man mit der Sünde gemeinsame Sache macht, weil man die großen Wahrheiten des Wortes Gottes so gleichgültig betrachtet und weil wenig echte Gottseligkeit in der Gemeinde herrscht, deshalb ist anscheinend das Christentum in der Welt so beliebt. Sobald eine Wiederbelebung des Glaubens und der Stärke der ersten Christengemeinde geschähe, erwachte auch wieder der Geist der Verfolgung und schürte aufs neue die Feuer der Trübsal. GK.48.1 Teilen

Kapitel 3: Der Abfall
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In seinem zweiten Brief an die Thessalonicher erklärte der Apostel Paulus, dass der Tag Christi nicht kommen werde, „es sei denn, dass zuvor der Abfall komme und offenbart werde der Mensch der Sünde, das Kind des Verderbens, der da ist der Widersacher und sich überhebt über alles, was Gott oder Gottesdienst heißt, also dass er sich setzt in den Tempel Gottes als ein Gott und gibt sich aus, er sei Gott“. Und weiter warnt der Apostel seine Brüder: „Es regt sich bereits das Geheimnis der Bosheit.“ 2.Thessalonicher 2,3.4.7. Schon zu jener frühen Zeit sah er, dass sich Irrtümer in die Gemeinde einschlichen, die den Weg für die Entwicklung des geweissagten Abfalls vorbereiteten. GK.49.1 Teilen

Das Geheimnis der Bosheit führte nach und nach, erst verstohlen und stillschweigend, dann, als es an Kraft zunahm und die Herrschaft über die Gemüter der Menschen gewann, offener sein betrügerisches und verderbliches Werk aus. Beinahe unmerklich fanden heidnische Gebräuche ihren Weg in die christliche Gemeinde. Zwar wurde der Geist des Ausgleichs und der Anpassung eine Zeitlang durch die heftige Verfolgung, die die Gemeinde unter dem Heidentum zu erdulden hatte, zurückgehalten; als aber die Verfolgung aufhörte und das Christentum die Höfe und Paläste der Könige betrat, vertauschte es die demütige Schlichtheit Christi und seiner Apostel mit dem Gepränge und dem Stolz der heidnischen Priester und Herrscher und ersetzte die Forderungen Gottes durch menschliche Theorien und Überlieferungen. Mit der angeblichen Bekehrung Konstantins Anfang des vierten Jahrhunderts, die große Freude auslöste, fanden jedoch unter dem Deckmantel der Gerechtigkeit weltliche Sitten und Gebräuche Eingang in die Kirche. Das Verderben schritt jetzt schnell voran. Das Heidentum wurde, während es besiegt schien, zum Sieger. Sein Geist beherrschte die Kirche. Seine Lehren, seine Zeremonien und seine Abgöttereien wurden mit dem Glauben und der Gottesverehrung der erklärten Nachfolger Christi vermischt. GK.49.2 Teilen

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Aus diesem Ausgleich zwischen Heidentum und Christentum folgte die Entwicklung des „Menschen der Sünde“, der nach der Prophezeiung der Widersacher ist und sich über Gott erhebt. GK.50.1 Teilen

Satan versuchte einmal, mit Christus zu einer Übereinkunft zu gelangen. Er kam in der Wüste der Versuchung zum Sohne Gottes, zeigte ihm alle Reiche der Welt und ihre Herrlichkeit und bot ihm an, alles in seine Hände zu geben, wenn er nur die Oberherrschaft des Fürsten der Finsternis anerkennte. Christus schalt den verwegenen Versucher und zwang ihn, sich zu entfernen. Satan hat aber größeren Erfolg, wenn er mit den gleichen Versuchungen an die Menschen herantritt. Um sich irdischen Gewinn und weltliche Ehren zu sichern, wurde die Kirche dazu verleitet, die Gunst und den Beistand der Großen dieser Erde zu suchen. GK.50.2 Teilen

Es ist eine der Hauptlehren der römischen Kirche, dass der Papst das sichtbare Haupt der allgemeinen Kirche Christi sei, angetan mit höchster Autorität über Bischöfe und Geistliche in allen Teilen der Welt. Mehr noch, man hat dem Papst sogar die Titel der Gottheit beigelegt. Er ist, „der Herr Gott Papst“ (Siehe Anm. 001) genannt und als unfehlbar (Siehe Anm. 002) erklärt worden. Er verlangt, dass alle Menschen ihm huldigen. Der gleiche Anspruch, den Satan in der Wüste bei der Versuchung Jesu geltend machte, wird auch heute noch von ihm erhoben, und zahllose Menschen sind nur allzugern bereit, ihm die geforderte Verehrung zu zollen. GK.50.3 Teilen

Jene aber, die Gott fürchten und ihn verehren, begegnen dieser den Himmel herausfordernden Anmaßung ebenso, wie Christus den Verlockungen des verschlagenen Feindes begegnete: „Du sollst Gott, deinen Herrn, anbeten und ihm allein dienen.“ Gott gab in seinem Wort keinerlei Hinweise, dass er irgendeinen Menschen zum Oberhaupt der Gemeinde bestimmt hätte. Die Lehre von der päpstlichen Obergewalt steht den Aussprüchen der Heiligen Schrift entgegen. Der Papst kann nicht über die Gemeinde Christi herrschen, es sei denn, er maßt sich diese Gewalt widerrechtlich an. GK.50.4 Teilen

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Die Katholiken haben darauf beharrt, die Protestanten der Ketzerei und der eigenwilligen Trennung von der wahren Kirche zu beschuldigen. Doch diese Anklagen lassen sich eher auf sie selbst anwenden; denn sie sind diejenigen, die das Banner Jesu Christi niederwarfen und von dem Glauben abwichen, „der einmal den Heiligen übergeben ist“. GK.51.1 Teilen

Satan wußte gar wohl, dass die Heilige Schrift die Menschen befähigen würde, seine Täuschungen zu erkennen und seiner Macht zu widerstehen; hatte doch selbst der Heiland der Welt seinen Angriffen durch das Wort Gottes widerstanden. Bei jedem Ansturm hielt Christus ihm den Schild der ewigen Wahrheit entgegen und sagte: „Es steht geschrieben.“ Lukas 4,1-13. Jeder Einflüsterung des Feindes widerstand er durch die Weisheit und Macht des Wortes. Um die Herrschaft über die Menschen aufrechtzuerhalten und seine Autorität zu festigen, musste Satan das Volk über die Heilige Schrift in Unwissenheit lassen. Die Bibel würde Gott erheben und den sterblichen Menschen ihre wahre Stellung anweisen; deshalb mussten ihre heiligen Wahrheiten geheimgehalten und unterdrückt werden. Diese Überlegung machte sich die Kirche zu eigen. Jahrhundertelang war die Verbreitung der Heiligen Schrift verboten; (Siehe Anm. 003) das Volk durfte sie weder lesen noch im Hause haben, und gewissenlose Geistliche legten ihre Lehren zur Begründung ihrer eigenen Behauptungen aus. Auf diese Weise wurde das Kirchenoberhaupt fast überall als Statthalter Gottes auf Erden anerkannt, der mit Autorität über Kirche und Staat ausgestattet worden sei. GK.51.2 Teilen

Da das einzig zuverlässige Mittel zur Entdeckung des Irrtums beseitigt worden war, wirkte Satan ganz nach seiner Willkür. In der Prophezeiung war erklärt worden, der Abtrünnige werde „sich unterstehen, Zeit und Gesetz zu ändern“ (Daniel 7,25), und er war nicht müßig, dies zu versuchen. Um den vom Heidentum Bekehrten einen Ersatz für die Anbetung von Götzen zu bieten und so ihre rein äußerliche Annahme des Christentums zu fördern, wurde stufenweise die Verehrung von Bildern und Reliquien in den christlichen Gottesdienst eingeführt. Der Beschluß eines allgemeinen Konzils endlich bestätigte dieses System der Abgötterei. Um das entheiligende Werk zu vervollständigen, maßte sich die Kirche an, das zweite Gebot des Gesetzes Gottes, das die Bilderanbetung (Siehe Anm. 004) verbietet, als selbständiges Gebot aufzuheben und das zehnte zu teilen, um die Zehnzahl beizubehalten. GK.51.3 Teilen

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Die Zugeständnisse gegenüber dem Heidentum öffneten den Weg für eine noch größere Mißachtung der Autorität des Himmels. Satan tastete auch das vierte Gebot an und versuchte, den seit alters bestehenden Sabbat, den Tag, den Gott gesegnet und geheiligt hatte (1.Mose 2,2.3), beiseitezusetzen und statt seiner den von den Heiden als „ehrwürdigen Tag der Sonne“ begangenen Festtag zu erheben. GK.52.1 Teilen

Diese Veränderung wurde anfangs nicht offen versucht. In den ersten Jahrhunderten war der wahre Sabbat von allen Christen gehalten worden. Sie eiferten für die Ehre Gottes, und da sie glaubten, sein Gesetz sei unveränderlich, wahrten sie eifrig die Heiligkeit seiner Vorschriften. Aber mit großer Schlauheit wirkte Satan durch seine Werkzeuge, um sein Ziel zu erreichen. Um die Aufmerksamkeit des Volkes auf den Sonntag zu richten, wurde dieser zu einem Festtag zu Ehren der Auferstehung Christi erklärt und an diesem Tag Gottesdienst gehalten; dennoch betrachtete man ihn nur als einen Tag der Erholung und hielt den Sabbat noch immer heilig. GK.52.2 Teilen

Damit der Weg für das von ihm beabsichtigte Werk vorbereitet würde, hatte Satan die Juden vor der Ankunft Christi verleitet, den Sabbat mit übermäßig strengen Anforderungen zu belasten, so dass seine Feier zur Bürde wurde. Jetzt benutzte er das falsche Licht, in dem er ihn auf diese Weise hatte erscheinen lassen, um auf diesen Tag, der eine jüdische Einrichtung war, Verachtung zu häufen. Während die Christen im allgemeinen fortfuhren, den Sonntag als einen Freudentag zu betrachten, veranlaßte Satan sie, um ihren Haß gegen alles Jüdische zu zeigen, den Sabbat zu einem Fasttag, einem Tag der Trauer und des Trübsinns zu gestalten. GK.52.3 Teilen

Anfang des vierten Jahrhunderts erließ Kaiser Konstantin eine für das ganze Römische Reich gültige Verordnung, derzufolge der Sonntag als öffentlicher Festtag eingesetzt wurde. Der Tag der Sonne wurde von den heidnischen Untertanen verehrt und von den Christen geachtet, und der Kaiser verfolgte die Absicht, die widerstreitenden Ansichten des Christentums und des Heidentums zu vereinen. (Siehe Anm. 005) Er wurde dazu von den Bischöfen der Kirche gedrängt, die, von Ehrgeiz und Machtgier beseelt, einsahen, dass den Heiden die äußerliche Annahme des Christentums erleichtert und somit die Macht und Herrlichkeit der Kirche gefördert würde, wenn sowohl Christen als auch Heiden den selben Tag heilighielten. Aber während viele fromme Christen allmählich dahin kamen, dem heidnischen Sonntag einen gewissen Grad von Heiligkeit beizumessen, hielten sie doch den wahren Sabbat dem Herrn heilig und beachteten ihn im Gehorsam gegen das vierte Gebot. GK.52.4 Teilen

53

Der Erzbetrüger hatte sein Werk nicht vollendet. Er war entschlossen, die ganze christliche Welt unter sein Banner zu sammeln und seine Macht geltend zu machen. GK.53.1 Teilen

Durch halbbekehrte Heiden, ehrgeizige kirchliche Würdenträger und weltliebende Geistliche erreichte er seine Absicht. Von Zeit zu Zeit wurden große Kirchenversammlungen abgehalten, zu denen die geistlichen Würdenträger aus allen Weltgegenden zusammenkamen. Auf fast jedem Konzil wurde der von Gott eingesetzte Sabbat mehr und mehr erniedrigt und der Sonntag entsprechend erhöht. So wurde der heidnische Festtag schließlich als eine göttliche Einrichtung verehrt, während man den biblischen Sabbat als Überbleibsel des Judentums verschrie und alle, die ihn feierten, verfluchte. GK.53.2 Teilen

Dem großen Abtrünnigen war es gelungen, sich über „alles, was Gott oder Gottesdienst heißt“ (2.Thessalonicher 2,4), zu erheben. Er hatte sich erkühnt, das einzige Gebot des göttlichen Gesetzes, das unverkennbar alle Menschen auf den wahren und lebendigen Gott hinweist, zu verändern. Im vierten Gebot wird Gott als der Schöpfer Himmels und der Erde offenbart und dadurch von allen falschen Göttern unterschieden. Zur Erinnerung an das Schöpfungswerk wurde der siebente Tag als Ruhetag für die Menschen geheiligt. Er war dazu bestimmt, den Menschen den lebendigen Gott als Quelle des Heils und Ziel der Verehrung und Anbetung ständig vor Augen zu halten. Satan ist jedoch bemüht, die Menschen von ihrer Treue zu Gott und von dem Gehorsam gegen sein Gesetz abwendig zu machen. Deshalb richtet er seine Angriffe besonders gegen jenes Gebot, das Gott als den Schöpfer kennzeichnet. GK.53.3 Teilen

Die Protestanten machen geltend, die Auferstehung Christi am Sonntag erhebe diesen Tag zum Ruhetag der Christen; hierfür fehlen jedoch die Beweise aus der Heiligen Schrift. Weder Christus noch seine Apostel haben diesem Tag eine solche Ehre beigelegt. Die Feier des Sonntags als eine christliche Einrichtung hat ihren Ursprung in jenem „Geheimnis der Bosheit“, dass sich schon in den Tagen des Paulus regte. 1 2.Thessalonicher 2,7. Wo und wann aber hat der Herr den Sonntag, dieses Erzeugnis des Abfalls, angenommen? Welcher rechtsgültige Grund kann für eine Veränderung genannt werden, die die Heilige Schrift nicht billigt? GK.53.4 Teilen

54

Im sechsten Jahrhundert hatte das Papsttum bereits eine feste Grundlage gewonnen. Der Sitz seiner Macht war in der kaiserlichen Stadt aufgerichtet und der Bischof von Rom zum Oberhaupt der ganzen Kirche bestimmt worden. Das Heidentum war dem Papsttum gewichen, der Drache hatte dem Tier „seine Kraft und seinen Thron und große Macht“ gegeben. Damit begannen die 1260 Jahre der Unterdrückung der Heiligen, die in der Prophezeiung von Daniel und der Offenbarung vorhergesagt sind. (Siehe Anm. 006 ) Daniel 7,25; Offenbarung 13,5-7. Die Christen wurden gezwungen zu wählen, ob sie entweder ihre Unbescholtenheit aufgeben und päpstliche Gebräuche und den päpstlichen Gottesdienst annehmen oder ihr Leben in Kerkerzellen verbringen, auf der Folterbank, auf dem Scheiterhaufen oder durch das Henkerbeil den Tod erleiden wollten. Jetzt wurden die Worte Jesu erfüllt: „Ihr werdet aber überantwortet werden von den Eltern, Brüdern, Verwandten und Freunden; und sie werden euer etliche töten. Und ihr werdet gehaßt sein von jedermann um meines Namens willen.“ Lukas 21,16.17. Verfolgungen erhoben sich mit größerer Wut über die Gläubigen als je zuvor, und die Welt wurde ein ausgedehntes Schlachtfeld. Jahrhundertelang fand die Gemeinde Zuflucht in der Einsamkeit und Verborgenheit. So sagt der Prophet: „Und das Weib entfloh in die Wüste, wo sie einen Ort hat, bereitet von Gott, dass sie daselbst ernährt würde tausendzweihundertundsechzig Tage.“ Offenbarung 12,6. GK.54.1 Teilen

Der Aufstieg der römischen Kirche zur Macht kennzeichnet den Beginn des finsteren Mittelalters. Je mehr ihre Macht zunahm, desto dichter wurde die Finsternis. Der Glaube wurde von Christus, dem wahren Grund, auf den Statthalter in Rom übertragen. Statt für die Vergebung der Sünden und das ewige Heil auf den Sohn Gottes zu vertrauen, sah das Volk auf den Papst und auf die von ihm bevollmächtigten Priester und Prälaten. Es wurde gelehrt, der Papst sei der irdische Mittler und niemand könne sich Gott nähern, es sei denn durch ihn. Ferner wurde verkündet, dass er für die Menschen Gottes Stelle einnehme und ihm deshalb unbedingt zu gehorchen sei. Ein Abweichen von seinen Forderungen genügte, um die Schuldigen mit härtesten Strafen für Leib und Seele zu belegen. So wurden die Gemüter des Volkes von Gott abgelenkt und auf fehlbare, irrende und grausame Menschen gerichtet, ja, mehr noch auf den Fürsten der Finsternis selbst, der durch diese Menschen seine Macht ausübte. Die Sünde war unter dem Gewand der Heiligkeit verborgen. Wenn die Heilige Schrift unterdrückt wird und Menschen sich selbst an die oberste Stelle setzen, können wir nichts anderes erwarten als Betrug, Täuschung und erniedrigende Ungerechtigkeit. Mit der Höherstellung menschlicher Gesetze, Überlieferungen und Verordnungen wurde die Verderbnis offenbar, die stets aus der Verwerfung göttlicher Gebote hervorgeht. GK.54.2 Teilen

55

Dies waren Tage der Gefahr für die Gemeinde Christi. Der treuen Bannerträger waren wahrlich wenige. Obwohl die Wahrheit nicht ohne Zeugen blieb, schien es doch zuweilen, als ob Irrtum und Aberglaube vollständig überhandnehmen wollten und die wahre Religion von der Erde verbannt würde. Man verlor das Evangelium aus den Augen, religiöse Bräuche hingegen wurden vermehrt und die Menschen mit übermäßig harten Anforderungen belastet. GK.55.1 Teilen

Sie wurden nicht nur gelehrt, den Papst als ihren Mittler zu betrachten, sondern auch zur Versöhnung ihrer Sünden auf ihre eigenen Werke zu vertrauen. Lange Pilgerfahrten, Bußübungen, die Anbetung von Reliquien, die Errichtung von Kirchen, Kapellen und Altären, das Bezahlen hoher Geldsummen an die Kirche — diese und viele ähnliche Werke wurden den Menschen auferlegt, um den Zorn Gottes zu besänftigen oder sich seiner Gunst zu versichern, als ob Gott, gleich einem Menschen, wegen Kleinigkeiten erzürnt oder durch Gaben und Bußübungen zufriedengestellt werden könnte. GK.55.2 Teilen

Obgleich die Sünde selbst unter den Führern der römischen Kirche überhandnahm, der Einfluß der Kirche schien dennoch ständig zu zu wachsen. Etwa Mitte des achten Jahrhunderts erhoben die Verteidiger des Papsttums den Anspruch, dass im ersten Zeitalter der Kirche die Bischöfe von Rom die gleiche geistliche Macht besessen hätten, die sie sich jetzt anmaßten. Um diesen Anspruch geltend zu machen, musste irgendein Mittel angewandt werden, um ihm den Schein von Autorität zu verleihen, und dies wurde von dem Vater der Lüge bereitwillig ins Werk gesetzt. Alte Handschriften wurden von Mönchen nachgeahmt; bis dahin unbekannte Beschlüsse von Kirchenversammlungen wurden entdeckt, die die allgemeine Oberherrschaft des Papstes von den frühesten Zeiten an bestätigten. Und eine Kirche, die die Wahrheit verworfen hatte, nahm diese Fälschungen begierig an. (Siehe Anm. 007) GK.55.3 Teilen

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Die wenigen Getreuen, die auf den wahren Grund bauten (vgl. 1.Korinther 3,10.11), wurden verwirrt und gehindert, als das Durcheinander falscher Lehren das Werk lähmte. Gleich den Bauleuten auf den Mauern Jerusalems in den Tagen Nehemias waren einige bereit zu sagen: „Die Kraft der Träger ist zu schwach, und des Schuttes ist zu viel; wir können an der Mauer nicht bauen.“ Nehemia 4,4. GK.56.1 Teilen

Zutiefst ermüdet von dem ständigen Kampf gegen Verfolgung, Betrug, Ungerechtigkeit und jedes andere Hindernis, das Satan ersinnen konnte, um ihren Fortschritt zu hindern, wurden manche, die treue Bauleute gewesen waren, entmutigt und wandten sich, um des Friedens, der Sicherheit ihres Eigentums und ihres Lebens willen von dem wahren Grund ab. Andere, unerschrocken bei dem Widerstand ihrer Feinde, erklärten furchtlos: „Fürchtet euch nicht vor ihnen; gedenket an den großen schrecklichen Herrn und streitet für eure Brüder, Söhne, Töchter, Weiber und Häuser!“ Und entschlossen setzten die Bauleute ihre Arbeit fort, jeder sein Schwert um seine Lenden gegürtet. Nehemia 4,8; vgl. Epheser 6,17. GK.56.2 Teilen

Der gleiche Geist des Hasses und des Widerstandes gegen die Wahrheit hat zu allen Zeiten Gottes Feinde angefeuert, und die gleiche Wachsamkeit und Treue ist von seinen Dienern verlangt worden. Die an die ersten Jünger gerichteten Worte Christi gelten allen seinen Nachfolgern bis ans Ende der Zeit: „Was ich aber euch sage, das sage ich allen: Wachet!“ Markus 13,37. GK.56.3 Teilen

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Die Finsternis schien dichter zu werden. Die Bilderverehrung breitete sich immer mehr aus. Vor den Bildern wurden Kerzen angezündet und Gebete dargebracht. Die widersinnigsten und abergläubischsten Gebräuche nahmen überhand. Die Gemüter der Menschen wurden so völlig vom Aberglauben beherrscht, dass die Vernunft ihre Macht verloren zu haben schien. Wenn Priester und Bischöfe vergnügungssüchtig, sinnlich und verderbt waren, konnte nichts anderes erwartet werden, als dass das zu ihnen als geistlichen Führern aufschauende Volk in Unwissenheit und Laster versank. GK.57.1 Teilen

Ein weiterer Schritt in der päpstlichen Anmaßung erfolgte, als im 11.Jahrhundert Papst Gregor der VII. die Vollkommenheit der römischen Kirche verkündigte. (Siehe Anm. 008) In den von ihm veröffentlichten Thesen erklärte er u.a., dass die Kirche nicht geirrt habe und nach der Heiligen Schrift niemals irren werde; aber biblische Beweise stützten diese Behauptung nicht. Der stolze Oberpriester beanspruchte auch die Macht, Kaiser absetzen zu können, und erklärte, dass kein von ihm verkündeter Rechtsspruch von irgend jemand umgestoßen werden könne, während er berechtigt sei, die Beschlüsse anderer aufzuheben. GK.57.2 Teilen

Einen schlagenden Beweis seines despotischen Charakters lieferte dieser Befürworter der Unfehlbarkeit in der Behandlung des deutschen Kaisers Heinrich IV. Weil dieser Fürst gewagt hatte, die Macht des Papstes zu mißachten, wurde er in den Kirchenbann getan und für entthront erklärt. Erschreckt über die Untreue und die Drohungen seiner eigenen Fürsten, die in ihrer Empörung gegen ihn durch den päpstlichen Erlaß ermutigt wurden, hielt Heinrich es für notwendig, mit Rom Frieden zu schließen. In Begleitung seiner Gemahlin und eines treuen Dieners überschritt er im Winter die Alpen, um sich vor dem Papst zu demütigen. Als er das Schloß Canossa, wohin Gregor sich zurückgezogen hatte, erreichte, wurde er ohne seine Leibwache in einen Vorhof geführt, und dort erwartete er in der strengen Kälte des Winters mit unbedeckten Haupt und nackten Füßen, bekleidet mit einem Büßergewand, die Erlaubnis des Papstes, vor ihm erscheinen zu dürfen. Erst nachdem er drei Tage mit Fasten und Beichten zugebracht hatte, ließ sich der Papst herab, ihm Verzeihung zu gewähren, und selbst dann geschah es nur unter der Bedingung, dass der Kaiser seine (des Papstes) Genehmigung abwarte, ehe er sich aufs neue mit dem Zeichen seiner Würde schmücke oder sein Königtum ausübe. Gregor aber, durch seinen Sieg kühn gemacht, prahlte, dass es seine Pflicht sei, den Stolz der Könige zu demütigen. GK.57.3 Teilen

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Wie auffallend ist der Unterschied zwischen der Überheblichkeit dieses Priesterfürsten und der Sanftmut und Milde Christi, der sich selbst als der an der Tür des Herzens um Einlaß Bittende darstellt, damit er einkehren kann, um Vergebung und Frieden zu bringen, und der seine Jünger lehrt: „Wer da will der Vornehmste sein, der sei euer Knecht.“ Matthäus 20,27. GK.58.1 Teilen

Die folgenden Jahrhunderte zeugen von einer beständigen Zunahme des Irrtums in den von Rom ausgehenden Lehren. Schon vor der Aufrichtung des Papsttums war den Lehren heidnischer Philosophen Aufmerksamkeit geschenkt worden, und sie hatten einen gewissen Einfluß in der Kirche ausgeübt. Viele angeblich Bekehrte hingen noch immer an den Lehrsätzen ihrer heidnischen Philosophie. Sie fuhren nicht nur fort, sie weiterhin zu erforschen, sondern drängten sie auch andern auf, um ihren Einfluß unter den Heiden auszudehnen. Auf diese Weise wurden bedenkliche Irrtümer in den christlichen Glauben eingeschleppt. An erster Stelle stand dabei der Glaube an die natürliche (seelische) Unsterblichkeit des Menschen und an sein Bewußtsein nach dem Tode. Auf der Grundlage dieser Lehre führte Rom die Anrufung der Heiligen und die Verehrung der Jungfrau Maria ein. (Siehe Anm. 009) Hieraus entsprang auch die dem päpstlichen Glauben schon früh hinzugefügte Irrlehre einer ewigen Qual für die bis zuletzt Unbußfertigen. GK.58.2 Teilen

Damit war der Weg für die Einführung einer weiteren Erfindung vorbereitet, die Rom das Fegfeuer nannte und anwandte, um der leichtgläubigen und abergläubischen Menge Furcht einzujagen. In dieser Irrlehre wird behauptet, dass es einen Ort der Qual gebe, an dem die Seelen derer, die keine ewige Verdammnis verdient haben, für ihre Sünden bestraft werden. Sobald sie von aller Unreinigkeit frei sind, werden auch sie in den Himmel aufgenommen. (Siehe Anm. 010) GK.58.3 Teilen

Noch eine andere Verfälschung war notwendig, um Rom in den Stand zu setzen, die Furcht und die Untugenden seiner Anhänger für sich auszunutzen. Diese fand sich in der Ablaßlehre. Volle Vergebung der vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Sünden, Erlaß aller sich dadurch zugezogenen Strafen und Qualen wurde allen zugesichert, die sich an den Kriegen des Papsttums beteiligten, sei es, um seine weltliche Herrschaft zu erweitern, seine Feinde zu züchtigen oder jene auszutilgen, die sich erkühnten, seiner geistlichen Oberherrschaft die Anerkennung zu versagen. Es wurde ferner gelehrt, dass man sich durch Zahlen von Geldern an die Kirche von Sünden nicht nur befreien, sondern dass man auch die Seelen verstorbener Freunde, die in den peinigenden Flammen gefangengehalten würden, erlösen könnte. Durch solche Mittel füllte Rom seine Kassen und unterhielt den Prunk, das Wohlleben und die Laster der angeblichen Vertreter dessen, der nicht hatte, wo er sein Haupt hinlegte. (Siehe Anm. 011) GK.58.4 Teilen

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Die schriftgemäße Verordnung des Abendmahls war durch das Meßopfer verdrängt worden. Die Priester behaupteten, dass einfaches Brot und Wein in den persönlichen Leib und das wirkliche Blut Christi verwandelt würden. Mit geradezu gotteslästerlicher Anmaßung beanspruchten sie öffentlich die Macht, Gott, den Schöpfer aller Dinge, „zu schaffen“. (Siehe Anm. 012) Von den Christen wurde bei Todesstrafe verlangt, ihren Glauben an diese entsetzliche, himmelschmähende Lehre zu bekennen. Scharenweise wurden solche, die sich weigerten, den Flammen übergeben. GK.59.1 Teilen

Im 13. Jahrhundert wurde jenes schrecklichste Mittel des Papsttums eingeführt: die Inquisition. (Siehe Anm. 013) Der Fürst der Finsternis wirkte mit den Würdenträgern der päpstlichen Hierarchie zusammen. In ihren geheimen Beratungen beherrschten Satan und seine Engel die Gemüter von schlechten Menschen, während ein Engel Gottes unsichtbar in ihrer Mitte stand und den furchtbaren Bericht ihrer ungerechten, gottlosen Verordnungen aufnahm und die Geschichte ihrer Taten niederschrieb, die zu scheußlich sind, um menschlichen Augen unterbreitet zu werden. Die große Babylon war „trunken von dem Blut der Heiligen“. Die verstümmelten Leiber von Millionen Blutzeugen schrien zu Gott um Vergeltung gegen jene abtrünnige Macht. GK.59.2 Teilen

Das Papsttum war zum Zwingherrn der Welt geworden. Könige und Kaiser beugten sich den Erlassen des römischen Bischofs. Das Schicksal der Menschen schien für Zeit und Ewigkeit von ihm abhängig zu sein. Jahrhundertelang waren die Lehren Roms weithin und unbedingt angenommen, seine Zeremonien ehrfurchtsvoll vollzogen, seine Feste allgemein beachtet worden. Seine Geistlichkeit wurde geehrt und freigebig unterstützt. Nie hat die römische Kirche größere Würde, Herrlichkeit oder Macht erlangt. GK.59.3 Teilen

60

Die Glanzzeit des Papsttums war für die Welt eine Zeit tiefster Finsternis. Die Heilige Schrift war nicht nur dem Volk, sondern auch den Priestern nahezu unbekannt. Gleich den Pharisäern vor alters haßten die päpstlichen Würdenträger das Licht, das ihre Sünden aufdecken würde. Da sie Gottes Gesetz, das Richtmaß der Gerechtigkeit, beiseite getan hatten, übten sie schrankenlos ihre Gewalt aus und verfielen moralischer Verderbtheit. Betrug, Habsucht und Verschwendung waren an der Tagesordnung. Die Menschen schreckten vor keiner Gewalttat zurück, wenn sie dadurch Reichtum oder Ansehen gewinnen konnten. Die Paläste der Päpste und Prälaten waren Schauplatz wüster Ausschweifungen. Manche der regierenden Päpste hatten sich derartig empörender Verbrechen schuldig gemacht, dass weltliche Herrscher diese Würdenträger der Kirche abzusetzen versuchten, die sich zu niederträchtig gebärdeten, als dass man sie hätte länger dulden können. Jahrhundertelang machte Europa auf wissenschaftlichem, kulturellem oder zivilisatorischem Gebiet keine Fortschritte. Eine sittliche und geistliche Lähmung hatte das Christentum befallen. GK.60.1 Teilen

Der Zustand der unter Roms Herrschaft stehenden Welt veranschaulicht deutlich die furchtbare und genaue Erfüllung der Worte des Propheten Hosea: „Mein Volk ist dahin, darum dass es nicht lernen will. Denn du verwirfst Gottes Wort; darum will ich dich auch verwerfen ... Du vergissest das Gesetz deines Gottes; darum will ich auch deine Kinder vergessen.“ „Es ist keine Treue, keine Liebe, keine Erkenntnis Gottes im Lande; sondern Gotteslästern, Lügen, Morden, Stehlen und Ehebrechen hat überhandgenommen und eine Blutschuld kommt nach der andern.“ Hosea 4,6.1.2. Derart waren die Folgen, die sich aus der Verbannung des Wortes Gottes ergaben. GK.60.2 Teilen

Kapitel 4: Die Waldenser
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Inmitten der Dunkelheit, die sich während der langen päpstlichen Herrschaft über die Erde lagerte, konnte das Licht der Wahrheit nicht völlig ausgelöscht werden. Zu jeder Zeit gab es Zeugen für Gott — Menschen, die den Glauben an Christus als den einzigen Vermittler zwischen Gott und den Menschen werthielten, denen die Bibel als einzige Richtschnur des Lebens galt und die den wahren Sabbat feierten. Wieviel die Welt diesen Menschen schuldet, wird die Nachwelt nie erkennen. Sie wurden als Ketzer gebrandmarkt, ihr Charakter verleumdet, ihre Beweggründe angefochten, ihre Schriften unterdrückt, mißdeutet oder entstellt; dennoch standen sie fest und bewahrten von Jahrhundert zu Jahrhundert ihren Glauben in seiner Reinheit als heiliges Erbteil für die kommenden Geschlechter. GK.61.1 Teilen

Die Geschichte des treuen Volkes Gottes während der langen Zeit der Finsternis, die dem Beginn der Oberherrschaft Roms folgte, steht im Himmel verzeichnet, aber in den menschlichen Berichten wird ihr nur wenig Platz eingeräumt. Außer den Anklagen ihrer Verfolger zeugen nur wenige Spuren von dem einstigen Dasein dieser Menschen. Es war Roms Verfahrensweise, die geringste sich zeigende Spur einer Abweichung von seinen Grundsätzen oder Verordnungen radikal auszulöschen. Alles ketzerische, ob Menschen oder Schriften suchte es auszutilgen. Geäußerte Zweifel oder Fragen hinsichtlich der Autorität der päpstlichen Glaubenssätze genügten, dass Reiche oder Arme, Hohe oder Niedrige ihr Leben verwirkten. Rom war bemüht, jeden Bericht über seine Grausamkeiten gegen Andersgläubige zu vernichten. Päpstliche Konzilien beschlossen, dass Bücher und Aufzeichnungen derartigen Inhalts den Flammen zu übergeben seien. Vor Erfindung der Buchdruckerkunst gab es nur wenige Bücher, die sich zudem kaum zur Aufbewahrung eigneten; daher fiel es Rom nicht schwer, seine Absicht zu verwirklichen. GK.61.2 Teilen

62

Keine Gemeinde innerhalb der Grenzen der römischen Gerichtsbarkeit blieb lange ungestört im Genuß der Gewissensfreiheit. Kaum hatte das Papsttum Macht erlangt, als es schon seine Arme ausstreckte, um alles zu vernichten, was sich weigerte, seine Oberherrschaft anzuerkennen. Eine Gemeinde nach der anderen unterwarf sich seiner Gewalt. GK.62.1 Teilen

In Großbritannien hatte das Urchristentum schon sehr früh Wurzeln gefaßt. (Siehe Anm. 014) Das von den Briten in den ersten Jahrhunderten angenommene Evangelium war damals noch frei von abtrünnigen römischen Lehren. Die Verfolgung durch heidnische Kaiser, die sich bis nach diesen entfernten Küsten ausdehnte, war das einzige „Geschenk“, das die ersten Gemeinden der Briten von Rom empfingen. Viele Christen, die vor der Verfolgung aus England flohen, fanden Zuflucht in Schottland, von dort wurde die Wahrheit nach Irland getragen, und in allen diesen Ländern nahm man sie mit Freuden auf. GK.62.2 Teilen

Als die Sachsen in Britannien eindrangen, gewann das Heidentum die Herrschaft. Die Eroberer verschmähten es, sich von ihren Sklaven unterweisen zu lassen und zwangen die Christen, sich in die Berge und wilden Moore zurückzuziehen. Doch das eine Zeitlang verborgene Licht brannte weiter. In Schottland schien es ein Jahrhundert später mit einem Glanz, der sich über weit entlegene Länder erstreckte. Von Irland kamen der fromme Columban und seine Mitarbeiter; sie sammelten die zerstreuten Gläubigen auf der einsamen Insel Hy-Jona um sich, die sie zum Mittelpunkt ihrer Missionstätigkeit machten. Unter diesen Evangelisten befand sich einer, der den biblischen Sabbat hielt, und so wurde diese Wahrheit unter das Volk verbreitet. Auf Hy-Jona wurde ein Kloster errichtet, von dem aus Evangelisten nicht nur nach Schottland und England, sondern auch nach Deutschland, der Schweiz und sogar nach Italien gingen. GK.62.3 Teilen

Aber Rom hatte seine Augen auf Britannien gerichtet und war entschlossen, es seinem Machtbereich einzugliedern. Im 6. Jahrhundert begannen seine Sendboten die Bekehrung der heidnischen Sachsen. Sie wurden von den stolzen Barbaren günstig aufgenommen und brachten viele Tausende zum Bekenntnis des römischen Glaubens. Beim Fortschritt des Werkes trafen die päpstlichen Führer und ihre Bekehrten mit Gläubigen zusammen, die am ursprünglichen Christenglauben festhielten, die in ihrem Charakter, in ihrer Lehre und Lebensart einfach, bescheiden und schriftgemäß lebten. Die römischen Abgesandten verlangten, dass die Christengemeinden die Oberherrschaft des Papstes anerkennen sollten. Die Briten erwiderten freundlich, dass sie alle Menschen zu lieben wünschten, dass jedoch der Papst nicht zur Oberherrschaft in der Kirche berechtigt sei und sie ihm nur jene Untertänigkeit erweisen könnten, die jedem Nachfolger Christi gebühre. Wiederholte Versuche wurden unternommen, um sich ihrer Untertanentreue gegen Rom zu versichern; aber diese demütigen Christen, erstaunt über den von Roms Sendlingen zur Schau getragenen Stolz erwiderten standhaft, dass sie keinen andern Herrn als Christus kennten. Nun offenbarte sich der wahre Geist des Papsttums. Der Vertreter Roms sagte: „Wenn ihr die Bruderhand, die euch den Frieden bringen will, nicht annehmen mögt, so sollt ihr Feinde bekommen, die euch den Krieg bringen, wenn ihr nicht mit uns den Sachsen den Weg des Lebens verkündigen wollt, so sollt ihr von ihrer Hand den Todesstreich empfangen.“ 1 Das waren keine leeren Drohungen. Krieg, Intrigen und Betrügereien wurden gegen diese Zeugen eines biblischen Glaubens angewandt, bis die Gemeinden Britanniens zugrunde gerichtet waren oder sich gezwungen sahen, die Herrschaft des Papstes anzuerkennen. GK.62.4 Teilen

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In den Ländern außerhalb der Gerichtsbarkeit Roms bestanden jahrhundertelang Gemeinschaften von Christen, die sich von der päpstlichen Verderbnis beinahe freihielten. Sie waren vom Heidentum umgeben und litten im Laufe der Jahre durch dessen Irrtümer; aber sie betrachteten weiterhin die Bibel als alleinige Richtschnur des Glaubens und hielten an manchen Wahrheiten fest. Sie glaubten an die ewige Gültigkeit des Gesetzes Gottes und feierten den Sabbat des vierten Gebotes. Derartige Gemeinden fanden sich in Afrika und unter den Armeniern in Kleinasien. GK.63.1 Teilen

Unter denen aber, die sich den Eingriffen der päpstlichen Macht widersetzten, standen die Waldenser mit an erster Stelle. Gerade in dem Lande, in dem das Papsttum seinen Sitz aufgeschlagen hatte, wurde seiner Falschheit und Verderbtheit der entschlossenste Widerstand geleistet. Jahrhundertelang erhielten sich die Gemeinden in Piemont ihre Unabhängigkeit, aber schließlich kam die Zeit, da Rom auf ihrer Unterwerfung bestand. Nach erfolglosen Kämpfen gegen die römische Tyrannei erkannten die Leiter dieser Gemeinden widerstrebend die Oberherrschaft der Macht an, der sich die ganze Welt zu beugen schien. Eine Anzahl jedoch weigerte sich, der Autorität des Papstes oder der geistlichen Würdenträger nachzugeben, und war entschlossen, Gott die Treue zu halten und die Reinheit und Klarheit des Glaubens zu bewahren. Als Folge dieser Entwicklung zerfiel die Einheit dieser Gemeinden. Die dem alten Glauben treu blieben, zogen sich zurück; einige verließen ihre heimatlichen Alpen und richteten das Banner der Wahrheit in fremden Ländern auf; andere zogen sich in entlegene Schluchten und felsige Bergfesten zurück und bewahrten sich dort ihre Freiheit, Gott zu verehren. GK.63.2 Teilen

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Der Glaube, der Jahrhunderte hindurch von den Waldensern bewahrt und gelehrt wurde, stand in scharfem Gegensatz zu den von Rom verkündeten Lehrsätzen. Ihre religiöse Auffassung gründete sich auf das geschriebene Wort Gottes, auf die Grundsätze des wahren Christentums. Doch waren jene einfachen Landleute in ihren dunklen Zufluchtsorten, abgeschlossen von der Welt und an ihre täglichen Pflichten unter ihren Herden und in ihren Weingärten gebunden, nicht von selbst zu der Wahrheit gekommen, die im Widerspruch zu den Lehrsätzen und Irrlehren der gefallenen Kirche stand; ihre religiöse Überzeugung war nicht erst neu angenommen worden, sondern sie war ein Erbgut ihrer Väter. Sie kämpften für den Glauben der apostolischen Kirche, „der einmal den Heiligen übergeben ist“. Judas 3. Die Gemeinde in der Wüste und nicht die stolze Priesterherrschaft auf dem Thron Roms war die wahre Gemeinde Christi, der Wächter der Schätze der Wahrheit, die Gott seinem Volk anvertraut hatte, um sie der Welt zu übermitteln. GK.64.1 Teilen

Zu den hauptsächlichsten Ursachen, die zur Trennung der wahren Gemeinde von Rom geführt hatten, gehörte dessen Haß gegen den biblischen Sabbat. Wie von der Prophezeiung vorhergesagt, warf die päpstliche Macht die Wahrheit zu Boden. Das Gesetz Gottes wurde in den Staub getreten, während man die Überlieferungen und Gebräuche der Menschen erhob. Die Kirchen, die unter der Herrschaft des Papsttums standen, zwang man schon sehr früh, den Sonntag als einen heiligen Tag zu ehren. Der vorherrschende Irrtum und Aberglaube verwirrte selbst viele Angehörige des wahren Volkes Gottes, so dass sie den Sabbat feierten und auch am Sonntag nicht arbeiteten. Dies aber genügte den päpstlichen Würdenträgern nicht. Sie verlangten, dass der Sonntag geheiligt und der Sabbat entheiligt würde, und sie verurteilten mit den stärksten Ausdrücken alle jene, die es wagten, nach wie vor den biblischen Sabbat zu feiern. Nur wer der römischen Macht entronnen war, konnte dem Gesetz Gottes in Frieden gehorchen. GK.64.2 Teilen

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Die Waldenser gehörten mit zu den ersten Völkern Europas, die in den Besitz einer Übersetzung der Heiligen Schrift gelangten. (Siehe Anm. 015) Jahrhunderte vor der Reformation besaßen sie eine Abschrift der Bibel in ihrer Muttersprache; damit besaßen sie die Wahrheit unverfälscht und zogen sich dadurch in besonderer Weise Haß und Verfolgung zu. Sie erklärten die römische Kirche für das abtrünnige Babylon aus der Offenbarung und erhoben sich unter Gefahr ihres Lebens, um seinen Verführungen zu widerstehen. 1 Unter dem Druck einer langanhaltenden Verfolgung wurden etliche in ihrem Glauben schwankend und ließen nach und nach seine unterscheidenden Grundsätze fahren; andere hielten an der Wahrheit fest. Auch in den finsteren Zeiten des Abfalls gab es Waldenser, die die Oberherrschaft Roms bestritten, die Bilderverehrung als Götzendienst verwarfen und den wahren Sabbat feierten. (Siehe Anm. 016) Unter den grimmigsten Stürmen des Widerstandes bewahrten sie ihren Glauben. Obwohl von savoyischen Speeren durchbohrt und von römischen Brandfackeln versengt, standen sie unentwegt für Gottes Wort und Gottes Ehre ein. GK.65.1 Teilen

Hinter den hohen Bollwerken des Gebirges — zu allen Zeiten der Zufluchtsort für die Verfolgten und Unterdrückten — fanden die Waldenser ein Versteck. Hier leuchtete das Licht der Wahrheit auch während der Finsternis des Mittelalters; hier bewahrten 1000 Jahre lang Zeugen der Wahrheit den alten Glauben. GK.65.2 Teilen

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Gott hatte für sein Volk ein Heiligtum von erhabener Würde vorgesehen, den gewaltigen Wahrheiten entsprechend, die ihm anvertraut worden waren. Jenen getreuen Verbannten waren die Berge ein Sinnbild der unwandelbaren Gerechtigkeit des Höchsten. Sie wiesen ihre Kinder auf die Höhen hin, die sich in unveränderlicher Majestät vor ihnen auftürmten, und erzählten ihnen von dem Allmächtigen, bei dem weder Unbeständigkeit noch Wechsel ist, dessen Wort ebenso festgegründet ist wie die ewigen Hügel. Gott hatte die Berge gesetzt und sie mit Stärke umgürtet; kein Arm außer dem der unendlichen Macht konnte sie von ihrem Ort bewegen. In gleicher Weise hatte Gott sein Gesetz, die Grundlage seiner Regierung im Himmel und auf Erden, aufgerichtet. Wohl konnte der Arm des Menschen seine Mitmenschen erreichen und deren Leben vernichten; aber er vermochte ebensowenig die Berge aus ihren Grundfesten zu reißen und sie ins Meer zu schleudern wie eines der Gebote Gottes zu verändern oder eine seiner Verheißungen auszutilgen, die denen gegeben sind, die seinen Willen tun. In ihrer Treue zu Gottes Gesetz sollten seine Diener ebenso fest stehen wie die unveränderlichen Berge. GK.66.1 Teilen

Die Gebirge, die ihre tiefen Täler umrahmten, waren ständige Zeugen von Gottes Schöpfungsmacht und eine untrügliche Bürgschaft seiner schützenden Fürsorge. Jene Pilger gewannen die stummen Sinnbilder der Gegenwart des Allmächtigen lieb. Sie klagten nicht über die Härte ihres Schicksals und fühlten sich inmitten der Einsamkeit der Berge nie allein. Sie dankten Gott, dass er ihnen einen Zufluchtsort vor dem Zorn und der Grausamkeit der Menschen bereitet hatte. Sie freuten sich ihrer Freiheit, vor ihm anzubeten. Oft, wenn sie von ihren Feinden verfolgt wurden, erwies sich die Feste der Höhen als sicherer Schutz. Von manchem hohen Felsen sangen sie das Lob Gottes, und die Heere Roms konnten ihre Dankeslieder nicht zum Schweigen bringen. GK.66.2 Teilen

Rein, einfältig und inbrünstig war die Frömmigkeit dieser Nachfolger Christi. Sie schätzten die Grundsätze der Wahrheit höher als Häuser, Güter, Freunde, Verwandte, ja selbst höher als das Leben. Ernstlich versuchten sie, diese Grundsätze den Herzen der Jugend einzuprägen. Von frühester Kindheit an wurden die Kinder in der Heiligen Schrift unterwiesen und gelehrt, die Forderungen des Gesetzes Gottes unverbrüchlich zu achten. Da es nur wenige Abschriften der Bibel gab, wurden ihre köstlichen Worte dem Gedächtnis eingeprägt, und viele Waldenser wußten große Teile des Alten und Neuen Testaments auswendig. Gedanken an Gott wurden sowohl mit der majestätischen Natur als auch mit den bescheidenen Segnungen des täglichen Lebens verknüpft. Bereits die Kleinsten wurden angehalten, dankbar zu Gott als den Geber aller Hilfe und allen Trostes aufzublicken. GK.66.3 Teilen

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Die Eltern, so zärtlich und liebevoll sie auch ihren Kindern entgegenkamen, in ihrer Liebe zu ihnen waren sie zu klug, um sie daran zu gewöhnen, gegen sich selbst nachsichtig zu sein. Vor ihnen lag ein Leben voller Prüfungen und Schwierigkeiten, vielleicht der Märtyrertod. Sie wurden von Kindheit an dazu erzogen, Schwierigkeiten zu ertragen, etwaige Befehle zu befolgen und doch selbstständig zu denken und zu handeln. Schon früh wurden sie gelehrt, Verantwortungen zu übernehmen, ihre Worte genau zu wägen und die Klugheit des Schweigens zu verstehen. Ein unbedachtes Wort, das in Gegenwart von Feinden fiel, konnte nicht nur das Leben des Sprechers, sondern auch das von Hunderten seiner Brüder gefährden; denn gleich den Wölfen, die ihre Beute jagen, verfolgten die Feinde der Wahrheit jene, die es wagten, Glaubensfreiheit zu beanspruchen. GK.67.1 Teilen

Die Waldenser hatten ihre weltliche Wohlfahrt um der Wahrheit willen geopfert und arbeiteten mühselig und beharrlich für ihr tägliches Brot. Jeder Fleck bestellbaren Bodens in den Gebirgen wurde sorgfältig ausgenutzt; die Täler und die wenigen fruchtbaren Abhänge wurden urbar gemacht. Sparsamkeit und strenge Selbstverleugnung bildeten einen Teil der Erziehung, die die Kinder als einziges Vermächtnis erhielten. Man lehrte sie, dass Gott das Leben zu einer Schule bestimmt habe und dass ihre Bedürfnisse nur durch persönliche Arbeit, durch Vorsorge, Mühe und Glauben gedeckt werden könnten. Wohl war diese Methode mühevoll und beschwerlich, aber es war heilsam und gerade das, was allen Menschen in ihrem gefallenen Zustand Not tut; es war die Schule, die Gott für ihre Erziehung und Entwicklung vorgesehen hatte. Während die Jugend an Mühsal und Ungemach gewöhnt wurde, vernachlässigte man nicht die Bildung des Verstandes. Man lehrte, dass alle Kräfte Gott gehören und dass sie für seinen Dienst vervollkommnet und entfaltet werden müssen. GK.67.2 Teilen

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Die Gemeinden der Waldenser glichen in ihrer Reinheit und Schlichtheit der Gemeinde zu den Zeiten der Apostel. Indem sie die Oberherrschaft des Papstes und seiner Würdenträger verwarfen, hielten sie die Heilige Schrift für die höchste und einzig unfehlbare Autorität. Ihre Prediger folgten dem Beispiel ihres Meisters, der nicht gekommen war, „dass er sich dienen lasse, sondern, dass er diene“. Sie weideten die Herde Gottes, indem sie sie auf die grüne Aue und zu dem frischen Wasser seines heiligen Wortes führten. Weit abgelegen von den Denkmälern weltlicher Pracht und Ehre versammelte sich das Volk nicht in stattlichen Kirchen oder großartigen Kathedralen, sondern im Schatten der Gebirge, in den Alpentälern oder in Zeiten der Gefahr in dieser oder jener Felsenfeste, um den Worten der Wahrheit aus dem Munde der Diener Christi zu lauschen. Die Geistlichen predigten nicht nur das Evangelium, sie besuchten auch die Kranken, unterrichteten die Kinder, ermahnten die Irrenden und versuchten, Streitigkeiten zu schlichten und Eintracht und brüderliche Liebe zu fördern. In friedlichen Zeiten wurden sie durch die freiwilligen Gaben des Volkes unterhalten; doch gleich Paulus, dem Zeltmacher, erlernte jeder ein Handwerk oder einen Beruf, durch den er im Notfall für seinen eigenen Unterhalt sorgen konnte. GK.68.1 Teilen

Die Prediger unterrichteten die Jugend. Während die Zweige des allgemeinen Wissens beachtet wurden, gehörte doch der Bibel das Hauptstudium. Die Schüler lernten neben vielen paulinischen Briefen das Matthäus- und das Johannesevangelium auswendig und befaßten sich mit dem Abschreiben der Heiligen Schrift. Etliche Handschriften enthielten die ganze Bibel, andere nur kurze Auszüge, denen von Personen, die imstande waren, die Bibel auszulegen, einige einfache Texterklärungen beigefügt waren. Auf diese Weise wurden die Schätze der Wahrheit zutage gefördert, die jene, die sich über Gott erheben wollten, so lange verborgen hatten. GK.68.2 Teilen

Durch geduldige, unermüdliche Arbeit, oft in den tiefen, finsteren Felsenhöhlen bei Fackellicht, wurden die heiligen Schriften Vers für Vers, Kapitel für Kapitel abgeschrieben. So ging das Werk voran, indem der offenbarte Wille Gottes wie reines Gold hervorleuchtete; wie viel strahlender, klarer und mächtiger infolge der Prüfungen, die um seinetwillen erduldet wurden, konnten nur die erkennen, die sich an dieser großartigen Aufgabe beteiligten. Engel Gottes umgaben ständig diese treuen Diener des Evangeliums. GK.68.3 Teilen

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Priester und Prälaten versuchten das Wort der Wahrheit unter dem Schutt des Irrtums, der Ketzerei und des Aberglaubens zu begraben; aber in höchst wunderbarer Weise wurde es in dem finsteren Zeitalter unverfälscht bewahrt. Es trug nicht das Gepräge des Menschen, sondern das Siegel Gottes. Die Menschen sind unermüdlich gewesen in ihren Anstrengungen, die klare, einfache Bedeutung der Schrift zu verdunkeln und sie so hinzustellen, als widerspräche sie ihrem eigenen Zeugnis; aber gleich der Arche auf den Wogen der Tiefe widerstand das Wort Gottes den Stürmen, die ihm mit Vernichtung drohten. Wie eine Mine reiche Gold- und Silberadern durchziehen, die unter der Oberfläche verborgen liegen, so dass alle, die ihre köstlichen Schätze entdecken wollen, danach graben müssen, hat die Heilige Schrift Schätze der Wahrheit, die nur dem ernsten, demütigen, inständig betenden Sucher offenbar werden. Dass die Bibel ein Lehrbuch für alle Menschen, und zwar für die Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen sein soll, ist Gottes eindeutiger Wille. Immer sollte es erforscht werden. Gott gab den Menschen sein Wort als eine Offenbarung seines Wesens. Mit jeder neuerkannten Wahrheit wird der Charakter ihres Urhebers deutlicher enthüllt. Das Studium der Heiligen Schrift ist das von Gott verordnete Mittel, Menschen in engere Verbindung mit ihrem Schöpfer zu bringen und ihnen eine klarere Erkenntnis seines heiligen Willens zu geben. Es knüpft die Verbindung zwischen Gott und dem Menschen. GK.69.1 Teilen

Während die Waldenser die Furcht des Herrn als der Weisheit Anfang erkannten, übersahen sie keineswegs die Wichtigkeit einer Berührung mit der Welt, einer Kenntnis der Menschen und des tätigen Lebens, um den Geist zu erweitern und den Verstand zu schärfen. Aus ihren Schulen in den Bergen wurden etliche Jünglinge auf Erziehungsanstalten in Frankreich oder Italien gesandt, wo sie ein ausgedehnteres Feld zum Studieren, Denken und Beobachten haben konnten als in ihren heimatlichen Alpen. Die auf diese Weise hinausgesandten Jünglinge waren Versuchungen ausgesetzt; sie sahen Laster und begegneten Satans verschlagenen Dienern, die ihnen die verfänglichsten Irrlehren und die gefährlichsten Täuschungen aufzudrängen suchten. Aber ihre Erziehung von Kind auf war dazu angelegt, sie auf alle diese Gefahren vorzubereiten. GK.69.2 Teilen

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In den Schulen, die sie besuchten, sollten sie niemanden zum Vertrauten machen. Ihre Kleider waren so zugeschnitten, dass sie ihren größten Schatz — die wertvollen Abschriften der Heiligen Schrift — darin verbergen konnten. Diese Handschriften, die Frucht monate- und jahrelanger harter Arbeit, führten sie mit sich, und wenn es ihnen, ohne Verdacht zu erregen, möglich war, boten sie diese denen an, deren Herzen für die Wahrheit empfänglich zu sein schienen. Von klein auf waren die waldensischen Jünglinge mit diesem Ziel vor Augen erzogen worden; sie verstanden ihr Werk und führten es gewissenhaft aus. Viele wurde in diesen Lehranstalten zum wahren Glauben bekehrt, ja, häufig durchdrangen dessen Grundsätze die ganze Schule, und doch konnten die päpstlichen Leiter trotz sorgfältigen Nachforschens der sogenannten verderblichen Ketzerei nicht auf den Grund kommen. Der Geist Christi offenbart sich als ein Missionsgeist. Das erneuerte Herz drängt zu allererst dahin, andere Menschen zum Heiland zu bringen. Derart war auch der Geist der Waldenser. Sie fühlten, dass Gott mehr von ihnen verlangte, als nur die Wahrheit in ihrer Lauterkeit unter den eigenen Gemeinden zu erhalten; dass auf ihnen die feierliche Verpflichtung ruhte, ihr Licht denen leuchten zu lassen, die in der Finsternis waren, und durch die gewaltige Macht des Wortes suchten sie die Knechtschaft, die Rom auferlegt hatte, zu sprengen. Die Prediger der Waldenser wurden als Missionare ausgebildet, und jeder, der ins Predigtamt eintreten wollte, musste zuerst Erfahrungen als Evangelist sammeln — musste drei Jahre lang in dem einen oder anderen Missionsfeld wirken, ehe er als Leiter einer Gemeinde in der Heimat eingesetzt wurde. Dieser Dienst, der von vornherein Selbstverleugnung und Opfer forderte, war eine geeignete Einführung in die Erfahrungen eines Predigers in jenen Zeiten, welche die Menschenherzen auf die Probe stellten. Die jungen Menschen, die zum heiligen Amt eingesegnet wurden, hatten keineswegs irdische Reichtümer und Ehren in Aussicht, sondern sahen einem Leben voller Mühen und Gefahren und möglicherweise dem Märtyrertod entgegen. Die Sendboten gingen zu zweien hinaus, wie Jesus einst seine Jünger ausgesandt hatte. Jeden Jüngling begleitete gewöhnlich ein erfahrener Alter, der dem Jüngeren als Führer diente und für dessen Ausbildung er verantwortlich war. Seinen Anweisungen musste jener folgen. Diese Mitarbeiter waren nicht immer beisammen, trafen sich aber oft, um zu beten und zu beraten. Auf diese Weise stärkten sie sich gegenseitig im Glauben. GK.70.1 Teilen

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Es würde sicherlich zu Niederlagen geführt haben, wenn diese Leute das Ziel ihrer Missionstätigkeit bekanntgegeben hätten; deshalb verbargen sie sorgfältig ihre wirkliche Aufgabe. Jeder Prediger verstand irgendein Handwerk oder Gewerbe, und diese Glaubensboten führten ihre Aufgabe unter dem Gewand eines weltlichen Berufes, gewöhnlich dem eines Verkäufers oder Hausierers, durch. „Sie boten Seide, Schmucksachen und andere Gegenstände, die zu jener Zeit nur aus weit entfernten Handelsplätzen zu beziehen waren, zum Verkauf an und wurden dort als Handelsleute willkommen geheißen, wo sie als Missionare zurückgewiesen worden wären.“ 1 Sie erhoben ihre Herzen zu Gott um Weisheit, damit sie einen Schatz, köstlicher als Gold und Edelsteine, ausbreiten konnten. Sie trugen Abschriften der ganzen Heiligen Schrift oder Teile derselben verborgen bei sich, und wenn sich eine Gelegenheit bot, lenkten sie die Aufmerksamkeit ihrer Kunden auf diese Handschriften. Oft wurde auf diese Weise das Verlangen wachgerufen, Gottes Wort zu lesen, und ein Teil der Schrift denen mit Freuden überlassen, die es annehmen wollten. GK.71.1 Teilen

Das Werk dieser Sendboten begann in den Ebenen und Täler am Fuße ihrer eigenen Berge, erstreckte sich jedoch weit über diese Grenzen hinaus. Barfuß, in groben, von der Reise beschmutzten Gewändern, gleich denen ihres Herrn, zogen sie durch große Städte und drangen bis in entlegene Länder vor. Überall streuten sie die köstliche Saat aus. Gemeinden entstanden auf ihrem Wege, und das Blut von Märtyrern zeugte für die Wahrheit. Der Tag Gottes wird eine reiche Ernte an Seelen offenbaren, die durch die Arbeit dieser Männer eingesammelt wurde. Heimlich und schweigend bahnte sich Gottes Wort seinen Weg durch die Christenheit und fand in vieler Menschen Herz und Haus freundliche Aufnahme. GK.71.2 Teilen

Den Waldensern war die Heilige Schrift nicht nur ein Bericht über Gottes Handlungsweise mit den Menschen in der Vergangenheit und eine Offenbarung der Verantwortungen und Pflichten in der Gegenwart, sondern auch eine Enthüllung der Gefahren, aber auch der Herrlichkeit der Zukunft. Sie glaubten, dass das Ende aller Dinge nicht mehr fern sei. Indem sie die Heilige Schrift unter Gebet und Tränen erforschten, machten ihre köstlichen Aussagen einen umso tieferen Eindruck, und sie erkannten deutlicher ihre Pflicht, anderen die darin enthaltenen heilsbringenden Wahrheiten mitzuteilen. Durch das heilige Buch wurde vor ihnen der Erlösungsplan klar ausgebreitet, und sie fanden Trost, Hoffnung und Frieden im Glauben an Jesus. Je mehr das Licht ihr Verständnis erleuchtete und ihre Herzen fröhlich machte, desto stärker sehnten sie sich danach, seine Strahlen auch auf die zu lenken, die noch in der Finsternis des päpstlichen Irrtums schmachteten. GK.71.3 Teilen

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Sie sahen, dass sich unter Führung des Papstes und der Priester viele Menschen umsonst mühten, durch Peinigung ihrer Leiber Vergebung der Sünden zu empfangen. Belehrt, ihre Seligkeit durch gute Werke zu verdienen, waren diese Menschen ständig mit sich selbst beschäftigt; ihre Gedanken verweilten bei ihrem sündigen Zustand, sie wähnten sich dem Zorn Gottes ausgesetzt, kasteiten den Leib und fanden doch keine Erleichterung. So wurden gewissenhafte Menschen durch die Lehren Roms gebunden. Tausende verließen Freunde und Verwandte und brachten ihr Leben in Klosterzellen zu. Durch häufiges Fasten und grausame Geißelungen, durch nächtliche Andachten und stundenlanges Knien auf den kalten, feuchten Steinen ihrer armseligen Behausungen, durch lange Pilgerfahrten, erniedrigende Bußübungen und furchtbare Qualen versuchten Tausende vergebens den Frieden des Gewissens zu erlangen. Niedergebeugt von dem Bewußtsein der Sünde und verfolgt von der Furcht vor dem strafenden Zorn Gottes litten viele Menschen so lange, bis ihre erschöpfte Natur vollständig unterlag und sie ohne einen Licht- oder Hoffnungsstrahl ins Grab sanken. GK.72.1 Teilen

Diesen schmachtenden Seelen das Brot des Lebens zu brechen, ihnen die Botschaft des Friedens in den Verheißungen Gottes zu erschließen und sie auf Christus, des Menschen einzige Hoffnung, hinzuweisen, war das Lebensziel der Waldenser. Die Lehre, dass gute Werke die Übertretung des Gesetzes Gottes aufzuheben vermögen, betrachteten sie als Irrtum. Sich auf menschliches Verdienst zu verlassen, versperrt dem Blick die unendliche Liebe Christi. Jesus starb als Opfer für die Menschen, weil die sündige Menschheit nichts tun kann, um das Wohlgefallen Gottes zu erringen. Die Verdienste eines gekreuzigten und auferstandenen Heilandes bilden die Grundlage des christlichen Glaubens. Die Seele ist von Christus genauso abhängig, wie ein Glied von dem Leibe oder eine Rebe von dem Weinstock; ebenso innig, wie diese verbunden sind, muss die Verbindung mit ihm durch den Glauben sein. GK.72.2 Teilen

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Die Lehren der Päpste und Priester hatten die Menschen verleitet, Gottes und selbst Christi Charakter für hart, finster und abstoßend zu halten. Der Heiland wurde dargestellt, als ob es ihm an Anteilnahme mit den Menschen in ihrem gefallenen Zustand so sehr fehlte, dass die Vermittlung von Priestern und Heiligen notwendig sei. Die Gläubigen, deren Verständnis durch das Wort Gottes erleuchtet war, verlangten danach, diese Menschen auf Jesus als ihren barmherzigen, liebenden Heiland hinzuweisen, der mit ausgestreckten Armen alle einlädt, mit ihren Sündenlasten, ihren Sorgen und Schwierigkeiten zu ihm zu kommen. Sie sehnten sich danach, die Hindernisse wegzuräumen, die Satan aufgetürmt hatte, damit die Menschen weder die Verheißungen erkennen noch unmittelbar zu Gott kommen sollten, um ihre Sünden zu bekennen und Vergebung und Frieden zu erlangen. GK.73.1 Teilen

Eifrig enthüllte der waldensische Glaubensbote den forschenden Seelen die köstlichen Wahrheiten des Evangeliums und holte vorsichtig die sorgfältig geschriebenen Teile der Heiligen Schrift hervor. Es bereitete ihm die größte Freude, solchen aufrichtig Suchenden, die von ihren Sünden überzeugt waren, die Hoffnung einzuflößen, dass sie es nicht mit einem Gott der Rache zu tun haben, der nur darauf wartet, seiner Gerechtigkeit freien Lauf lassen zu können. Mit bebenden Lippen und tränenden Augen, manchmal kniend, entfaltete er seinen Brüdern die köstlichen Verheißungen, die des Sünders einzige Hoffnung offenbaren. Auf diese Weise durchdrang das Licht der Wahrheit manches verfinsterte Gemüt und vertrieb die dunkle Wolke, bis die Sonne der Gerechtigkeit mit ihren heilenden Strahlen in das Herz schien. Oft wurde ein Teil der Heiligen Schrift immer wieder gelesen, weil der Hörer es wünschte, als ob er sich vergewissern wollte, dass er recht gehört habe. Besonders jene Worte wollten die Gläubigen immer wieder hören: „Das Blut Jesu Christi, seines Sohnes, macht uns rein von aller Sünde.“ 1.Johannes 1,7. — „Wie Mose in der Wüste eine Schlange erhöht hat, also muss des Menschen Sohn erhöht werden, auf dass alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben.“ Johannes 3,14.15. GK.73.2 Teilen

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Vielen wurden die Ansprüche Roms deutlich vor Augen geführt. Sie erkannten, wie vergeblich die Vermittlung von Menschen oder Engeln zugunsten des Sünders ist. Als ihnen das Licht aufging, riefen sie mit Freuden aus: „Christus ist mein Priester, sein Blut ist mein Opfer; sein Altar ist mein Beichtstuhl.“ Sie stützten sich völlig auf die Verdienste Jesu und wiederholten die Worte: „Ohne Glauben ist’s unmöglich, Gott zu gefallen.“ Es ist „kein anderer Name unter dem Himmel den Menschen gegeben, darin wir sollen selig werden.“ Hebräer 11,6; Apostelgeschichte 4,12. GK.74.1 Teilen

Die Gewißheit der Liebe des Heilandes schien einigen dieser armen, sturmumwehten Seelen unfaßbar. Die verursachte Erleichterung war so groß, die Flut des Lichtes so hell, dass sie sich in den Himmel versetzt glaubten. Ihre Hand ruhte vertrauensvoll in der Hand Christi, ihre Füße standen auf dem Fels des Heils. Alle Todesfurcht war verbannt, ja, sie wollten gern Gefängnis und Scheiterhaufen auf sich nehmen, wenn sie dadurch den Namen ihres Erlösers preisen konnten. GK.74.2 Teilen

An geheimen Orten wurde das Wort Gottes hervorgeholt und vorgelesen, zuweilen einem einzelnen, manchmal einer kleinen Schar, die sich nach Licht und Wahrheit sehnte. Oft brachte man die ganze Nacht auf diese Weise zu. Das Erstaunen und die Bewunderung der Zuhörer waren so groß, dass der Evangeliumsbote sich nicht selten gezwungen sah, mit dem Lesen innezuhalten, bis der Verstand die frohe Botschaft des Heils erfassen konnte. Häufig wurden ähnliche Worte wie diese laut: „Wird Gott wirklich mein Opfer annehmen? Wird er gnädig auf mich herabschauen? Wird er mir vergeben?“ Als Antwort wurde gelesen: „Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken.“ Matthäus 11,28. GK.74.3 Teilen

Der Glaube erfaßte die Verheißung, und als freudige Erwiderung vernahm man die Worte: Keine langen Pilgerfahrten mehr; keine beschwerlichen Reisen nach heiligen Reliquienschreinen! Ich kann zu Jesus kommen, so wie ich bin, sündhaft und unrein, und er wird das bußfertige Gebet nicht verachten. „Deine Sünden sind dir vergeben“; auch meine — sogar meine können vergeben werden! GK.74.4 Teilen

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Eine Flut heiliger Freude erfüllte die Herzen, und der Name Jesu wurde durch Lobgesänge und Danksagungen verherrlicht. Jene glücklichen Seelen kehrten in ihre Wohnungen zurück, um Licht zu verbreiten und andern, so gut sie konnten, ihre neue Erfahrung zu wiederholen, dass sie den wahren und lebendigen Weg gefunden hätten. Es lag eine seltsame und feierliche Macht in den Worten der Heiligen Schrift, die jenen, die sich nach der Wahrheit sehnten, unmittelbar zu Herzen ging. Es war die Stimme Gottes, welche die Hörer zur Überzeugung führte. GK.75.1 Teilen

Der Bote der Wahrheit ging seinen Weg; doch waren sein demütiges Auftreten, seine Aufrichtigkeit, sein Ernst und seine tiefe Inbrunst häufig Gegenstand von Gesprächen. In vielen Fällen hatten seine Zuhörer ihn weder gefragt, woher er käme noch wohin er ginge. Sie waren erst so überrascht und später dankbar und freudig überwältigt gewesen, dass sie nicht daran gedacht hatten, Fragen an ihn zu richten. Hatten sie ihn gebeten, sie nach ihren Wohnungen zu begleiten, so hatte er erwidert, dass er die verlorenen Schafe der Herde besuchen müsse. Konnte es möglich sein, dass er ein Engel Gottes gewesen war? fragten sie sich. GK.75.2 Teilen

In vielen Fällen sahen sie den Wahrheitsboten nie wieder. Er war vielleicht in andere Länder gegangen oder verbrachte sein Leben in irgendeinem unbekannten Gefängnis oder seine Gebeine bleichten gar dort, wo er für die Wahrheit gezeugt hatte. Die Worte aber, die er zurückließ, konnten nicht ausgelöscht werden; sie arbeiteten in den Menschenherzen, und ihr segensreiches Wirken wird erst im Gericht völlig erkannt werden. GK.75.3 Teilen

Die waldensischen Sendboten fielen in Satans Reich ein und regten dadurch die Kräfte der Finsternis zu größerer Wachsamkeit an. Jeder Versuch, die Wahrheit zu fördern, wurde von dem Fürsten der Bosheit überwacht, und er erweckte die Befürchtungen seiner Helfershelfer. Die führenden Männer der Kirche sahen in dem Wirken dieser bescheidenen Wanderer ein Anzeichen der Gefahr für ihre Sache. Wenn sie das Licht der Wahrheit ungehindert scheinen ließen, zerstreute es die schweren Wolken des Irrtums, die das Volk einhüllten, lenkte die Gemüter der Menschen auf Gott allein und richtete am Ende die Herrschaft Roms zugrunde. GK.75.4 Teilen

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Schon allein das Vorhandensein dieser Leute, die den Glauben der alten Gemeinde aufrechterhielten, war ein beständiges Zeugnis für Roms Abfall und erregte deshalb bittersten Haß und Verfolgung. Ihre Weigerung, die Heilige Schrift auszuliefern, galt ebenfalls als eine Beleidigung, die Rom nicht zu dulden gewillt war. Es beschloß deshalb, die Anhänger des wahren Glaubens von der Erde zu vertilgen. Jetzt begannen die schrecklichsten Kreuzzüge gegen Gottes Volk in seinen Gebirgswohnungen. Inquisitoren spürten ihm nach, und oft geschahen Dinge, die den Brudermord Kains an dem unschuldigen Abel von einst wiederholten. GK.76.1 Teilen

Immer wieder wurden ihre fruchtbaren Äcker verwüstet, ihre Wohnungen und Kapellen dem Erdboden gleichgemacht, so dass dort, wo einst blühende Felder und die Behausungen eines unschuldigen, arbeitsamen Volkes standen, nur eine wüste Einöde übrigblieb. Viele dieser Zeugen eines reinen Glaubens wurden bis über die Berge verfolgt und in den Tälern aufgescheucht, in denen sie sich, von mächtigen Wäldern und Felsspitzen umgeben, verborgen hatten. GK.76.2 Teilen

Der sittliche Charakter dieser geächteten Christen war über jede Beschuldigung erhaben. Sogar ihre Feinde bezeugten, dass sie ein friedfertiges, stilles, frommes Volk seien. Ihr großes Vergehen lag nur darin, dass sie Gott nicht nach dem Willen des Papstes dienen wollten. Wegen dieses Vergehens erlitten sie jede Demütigung, Beschimpfung und Folter, die Menschen oder Teufel nur ersinnen können. GK.76.3 Teilen

Als Rom einst beschloß, diese verhaßte Sekte auszurotten, wurde eine Bulle erlassen, die die Waldenser als Ketzer verdammte und sie der Niedermetzelung preisgab. (Siehe Anm. 017) Sie wurden nicht als Müßiggänger wegen Unredlichkeit oder Ausschweifung angeklagt, sondern es wurde erklärt, sie bewahrten einen Schein von Frömmigkeit und Heiligkeit, die die Schafe der wahren Herde verführten. Deshalb wurde angeordnet, diese heimtückische und abscheuliche Sekte von Bösewichtern gleich giftigen Schlagen zu zermalmen, falls sie sich weigerte abzuschwören. 1 Erwarteten die Machthaber diese Worte je wieder zu hören? Wußten sie, dass diese in den Büchern des Himmels aufgezeichnet wurden, um ihnen beim Gericht vorgehalten zu werden? Jesus sagte: „Was ihr getan habt, einem unter diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.“ Matthäus 25,40. GK.76.4 Teilen

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Eine Bulle forderte alle Glieder der Kirche auf, sich dem Kreuzzug der Ketzer anzuschließen. Zur Ermunterung zu diesem grausamen Werk sprach sie alle, die am Kreuzzug teilnahmen, von allen Kirchenbußen und von allen Strafen, den allgemeinen und den persönlichen, frei, entband sie von sämtlichen Eiden, die sie geleistet haben mochten, erklärte ihre etwaigen unrechtmäßigen Ansprüche auf irgendein Besitztum als rechtsgültig und verhieß jedem, der einen Ketzer tötete, den Erlaß aller Sünden. Sie erklärte alle zugunsten der Waldenser geschlossenen Verträge für nichtig, befahl den Dienstboten, ihren Dienst bei den Waldensern aufzugeben, verbot allen, jenen irgendwelche Hilfe zu gewähren, und berechtigte jeden, sich des Eigentums jener zu bemächtigen. Dies Schriftstück offenbarte deutlich den Geist, der diese Maßnahmen beherrschte; das Gebrüll des Drachen, und nicht die Stimme Christi war hier zu vernehmen. GK.77.1 Teilen

Die päpstlichen Würdenträger waren nicht bereit, ihren Charakter dem Anspruch des Gesetzes Gottes zu unterwerfen; sie schufen sich selbst einen ihnen passenden Maßstab. Sie beschlossen, alle zu zwingen, sich danach zu richten, weil Rom es so wünsche. Die schrecklichsten Tragödien spielten sich ab. Unwürdige und gotteslästerliche Priester und Päpste erfüllten den Auftrag, den Satan ihnen zugewiesen hatte. Die Barmherzigkeit fand keinen Raum in ihren Herzen. Der gleiche Geist, der Christus kreuzigte, die Apostel tötete und den blutdürstigen Nero gegen die treuen Christen wüten ließ, war auch am Wirken, um die Erde von denen zu befreien, die von Gott geliebt wurden. GK.77.2 Teilen

Die Verfolgungen, von denen diese gottesfürchtigen Menschen viele Jahrhunderte lang heimgesucht wurden, ertrugen sie mit einer Geduld und Ausdauer, die ihren Erlöser ehrte. Ungeachtet der gegen sie unternommenen Kreuzzüge, ungeachtet der unmenschlichen Metzelei, der sie ausgesetzt waren, sandten sie weiterhin ihre Sendboten aus, um die köstliche Wahrheit zu verbreiten. Sie wurden zu Tode gejagt, doch ihr Blut tränkte die ausgestreute Saat, die gute Frucht brachte. So zeugten die Waldenser für Gott schon Hunderte von Jahren vor der Geburt Luthers. Über viele Länder verstreut, warfen sie den Samen der Reformation aus, die zurzeit Wiklifs begann, in den Tagen Luthers weit um sich griff und bis zum Ende der Zeit von denen fortgeführt werden soll, die ebenfalls willig sind, alles zu leiden „um des Wortes Gottes willen und des Zeugnisses Jesu Christi“. Offenbarung 1,9. GK.77.3 Teilen

Kapitel 5: John Wiklif
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Vor der Reformation waren zeitweise nur wenige Exemplare der Bibel vorhanden, aber Gott hatte sein Wort nicht völlig untergehen lassen. Seine Wahrheiten sollten nicht für immer verborgen bleiben. Er konnte ebenso leicht das Wort des Lebens entketten wie Gefängnistüren öffnen und eiserne Tore entriegeln, um seine Diener zu befreien. In den verschiedenen Ländern Europas wurden Menschen vom Geist Gottes angetrieben, nach der Wahrheit wie nach verborgenen Schätzen zu suchen. Durch die Vorsehung zur Heiligen Schrift geführt, erforschten sie diese mit größtem Eifer. Sie waren willig, das Licht anzunehmen, koste es, was es wolle. Konnten sie auch nicht alles deutlich wahrnehmen, so wurden sie doch befähigt, manche lange Zeit begrabene Wahrheit zu erkennen. Als vom Himmel gesandte Boten gingen sie hinaus, zerbrachen die Ketten des Aberglaubens und des Irrtums und forderten Menschen auf, die lange Sklaven gewesen waren, sich zu erheben und ihre Freiheit zu behaupten. GK.79.1 Teilen

Das Wort Gottes war, ausgenommen bei den Waldensern, jahrhundertelang durch die Sprachen, die nur den Gelehrten verständlich waren, versiegelt geblieben; doch die Zeit kam, da es übersetzt und den Völkern verschiedener Länder in ihrer Muttersprache in die Hand gegeben werden sollte. Die Welt hatte ihre Mitternachtszeit überschritten. Die Stunden der Finsternis schwanden dahin, und in vielen Ländern erschienen Anzeichen der anbrechenden Morgendämmerung. GK.79.2 Teilen

Im 14.Jahrhundert ging in England der „Morgenstern der Reformation“ auf. John Wiklif war der Herold der Erneuerung nicht allein für England, sondern für die ganze Christenheit. Der mächtige Protest gegen Rom, den er einleiten durfte, konnte nicht mehr zum Schweigen gebracht werden, sondern er sollte den Kampf eröffnen, der zur Befreiung des Einzelnen, zur Befreiung der Gemeinden und der Völker führte. GK.79.3 Teilen

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Wiklif erhielt eine gute Erziehung. Für ihn galt die Furcht des Herrn als der Weisheit Anfang. Er war auf der Universität seiner inbrünstigen Frömmigkeit, seiner hervorragenden Talente und seiner gründlichen Gelehrsamkeit wegen bekannt. In seinem Wissensdrang suchte er jeden Zweig der Wissenschaft kennenzulernen. Er wurde mit den Gedanken der Scholastik, mit den Glaubensvorschriften der Kirche und den bürgerlichen Gesetzen, besonders denen seines eigenen Landes, vertraut gemacht. In seiner späteren Arbeit trat der Wert seiner genossenen Schulung klar zutage. Seine gründliche Kenntnis der spekulativen Philosophie seiner Zeit befähigte ihn, deren Irrtümer bloßzustellen, und durch seine Studien der Landes- und Kirchenrechte war er vorbereitet, sich an dem großen Kampf um die bürgerliche und religiöse Freiheit zu beteiligen. Während er die dem Wort Gottes entnommenen Waffen zu führen verstand, hatte er sich auch die Geisteswelt der Schulen erarbeitet und war mit der Kampfesweise der Gelehrten vertraut. Dank seiner natürlichen Anlagen und dem Umfang und der Gründlichkeit seines Wissens erwarb er sich die Achtung von Freund und Feind. Wiklifs Anhänger sahen mit Genugtuung, dass er unter den tonangebenden Geistern der Nation einen führenden Platz einnahm, und seinen Feinden war es nicht möglich, die Sache der Erneuerung durch Bloßstellen irgendeiner Unwissenheit oder Schwäche ihres Verteidigers in Verruf zu bringen. GK.80.1 Teilen

Noch auf der Universität nahm Wiklif das Studium der Heiligen Schrift auf. In den damaligen Zeiten, als es nur Bibeln in den alten Sprachen gab, waren allein die Gelehrten imstande, den Pfad zur Quelle der Wahrheit zu finden, der den in den Sprachen ungebildeten Klassen verschlossen blieb. Somit war der Weg für Wiklifs zukünftiges Werk als Reformator bereits gebahnt worden. Gelehrte Männer hatten die Heilige Schrift studiert und die große Wahrheit von der darin offenbarten freien Gnade Gottes gefunden. In ihrem Unterricht hatten sie die Erkenntnis dieser Wahrheit ausgestreut und andere veranlaßt, sich zu dem lebendigen Gotteswort zu kehren. GK.80.2 Teilen

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