Portrait von Ellen White
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Kapitel 60: Das Gesetz des neuen Königreichs
Kapitel 60: Das Gesetz des neuen Königreichs
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Auf der Grundlage von Matthäus 20,20-28; Markus 10,32-45; Lukas 18,31-34. DM.431 Teilen

Die Zeit des Passahfestes kam näher, und Jesus wandte sich wieder nach Jerusalem. Sein Herz war erfüllt von dem Frieden einer vollkommenen Übereinstimmung mit dem Willen Seines Vaters. Schnell eilte Er nun der Stätte des Opfers zu. Die Jünger aber hatte ein Gefühl des Zweifels und der Furcht erfasst. Sie spürten, dass etwas Unabwendbares auf sie zukam. Der Herr Jesus „ging ihnen voran; und sie entsetzten sich; die ihm aber nachfolgten, fürchteten sich“. Markus 10,32. DM.431.1 Teilen

Erneut rief Jesus die Zwölf zu sich und eröffnete ihnen deutlicher als je zuvor die Geschehnisse Seines Leidensweges. „Seht, wir gehen hinauf nach Jerusalem, und es wird alles vollendet werden, was geschrieben ist durch die Propheten von dem Menschensohn. Denn er wird überantwortet werden den Heiden, und er wird verspottet und misshandelt und angespien werden, und sie werden ihn geißeln und töten; und am dritten Tage wird er auferstehen. Sie aber begriffen nichts davon, und der Sinn der Rede war ihnen verborgen, und sie verstanden nicht, was damit gesagt war.“ Lukas 18,31-34. DM.431.2 Teilen

Hatten sie nicht gerade noch überall verkündigt: „Das Himmelreich ist nahe herbeigekommen“? Matthäus 10,7. Hatte Christus nicht selbst verheißen, dass viele „mit Abraham, Isaak und Jakob im Himmelreich zu Tisch sitzen“ (Matthäus 8,11) werden? Hatte Er den zwölf Jüngern nicht darüber hinaus besondere Ehrenstellungen in Seinem Reich versprochen — dereinst würden sie „sitzen auf zwölf Thronen und richten die zwölf Stämme Israels“? Matthäus 19,28. Eben noch hatte Er versprochen, dass alles, was die Propheten von Ihm niedergeschrieben hatten, sich erfüllen würde. Hatten die Propheten nicht den Glanz der messianischen Herrschaft vorhergesagt? Wenn man daran dachte, schienen Jesu Worte über Verrat, Verfolgung und Tod unklar und verschwommen zu sein. Die Jünger glaubten, dass das Königreich Gottes trotz möglicherweise aufkommender Schwierigkeiten bald aufgerichtet werden würde. Johannes, der Sohn von Zebedäus, war einer der beiden ersten Jünger gewesen, die dem Herrn gefolgt waren. Er und sein Bruder Jakobus waren unter denen, die als erste alles verlassen hatten, um Ihm zu dienen. Freudig hatten sie sich von ihrer Familie und ihren Freunden getrennt, weil sie bei Ihm sein wollten. Sie waren mit Ihm gewandelt und hatten mit Ihm gesprochen. In der privaten Sphäre des Heimes wie auch in öffentlichen Versammlungen waren sie an Seiner Seite gewesen. Er hatte ihre Ängste besänftigt, sie aus Gefahren errettet, ihre Leiden gelindert, ihren Kummer gebannt und so lange geduldig und liebevoll mit ihnen gesprochen, bis ihre Herzen mit Seinem Herzen übereinzustimmen schienen und sie sich in inbrünstiger Liebe danach sehnten, einmal in Seinem Königreich ganz nahe bei Ihm zu sein. Bei jeder passenden Gelegenheit war Johannes an der Seite des Heilandes zu finden, und auch Jakobus wünschte nichts sehnlicher, als durch eine enge Verbindung mit Jesus geehrt zu werden. DM.431.3 Teilen

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Ihre Mutter war eine Nachfolgerin Jesu und hatte Ihm mit allem gedient, was sie hatte. Mit der Liebe und dem Ehrgeiz einer Mutter begehrte sie für ihre Söhne die ehrenvollsten Plätze im Königreich Jesu. Um diese regte sie ihre Söhne an, den Heiland zu bitten. Die Mutter und ihre zwei Söhne kamen daraufhin zusammen zu Jesus, um Ihm das Herzensanliegen vorzutragen. „Was wollt ihr, dass ich für euch tue?“ (Markus 10,36), fragte Er sie. Die Mutter erwiderte: „Lass diese meine zwei Söhne sitzen in deinem Reich, einen zu deiner Rechten und den andern zu deiner Linken.“ Matthäus 20,21. DM.432.1 Teilen

Jesus hatte Nachsicht und Geduld mit ihnen und tadelte nicht ihre Selbstsucht, mit der sie persönliche Vorteile vor ihren Brüdern suchten. Er las in ihren Herzen und kannte die Tiefe ihrer Zuneigung zu Ihm. Obwohl durch ihren irdischen Charakter verunreinigt, war ihre Liebe nicht nur eine menschliche Gemütsbewegung, sondern sie entsprang Seiner Erlöserliebe. Er wollte nicht verurteilen, sondern vertiefen und reinigen. „Könnt ihr den Kelch trinken, den ich trinken werde und euch taufen lassen mit der Taufe, mit der ich getauft werde?“, fragte Er sie. Sie erinnerten sich an Seine geheimnisvollen Worte, die von Verfolgung und Leiden redeten. Dennoch antworteten sie: „Ja, das können wir.“ Matthäus 20,22. Sie würden es sich zur höchsten Ehre anrechnen, wenn sie ihre Treue dadurch beweisen dürften, dass sie alles, was ihrem Herrn zustoßen sollte, mit Ihm teilten. „Ihr werdet zwar den Kelch trinken, den ich trinke, und getauft werden mit der Taufe, mit der ich getauft werde“ (Markus 10,39), sagte Jesus daraufhin. Vor Ihm lag ein Kreuz statt eines Thrones und zu Seiner Rechten und Linken zwei Übeltäter als Schicksalsgenossen. Johannes und Jakobus sollten an dem Leiden ihres Meisters teilhaben dürfen! Der eine sollte als erster der Brüder durch das Schwert umkommen und der andere am längsten von allen Mühsal, Schande und Verfolgung erdulden. „Aber das Sitzen zu meiner Rechten und Linken zu geben, steht mir nicht zu. Das wird denen zuteil, für die es bestimmt ist von meinem Vater.“ Matthäus 20,23. Im Reich Gottes erlangt man Stellung und Würde nicht durch Begünstigung. Weder kann man sie sich verdienen, noch werden sie einem willkürlich verliehen. Sie sind eine Frucht des Charakters. Krone und Thron sind Merkmale eines erreichten Zieles, sie sind Zeichen der Selbstüberwindung durch unseren Herrn Jesus Christus. DM.432.2 Teilen

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Lange danach, als Johannes durch die Teilhabe an den Leiden Jesu eng mit Christus verbunden war, offenbarte ihm der Herr, was es heißt, Seinem Königreich nahe zu sein. Ihm sagte Er: „Wer überwindet, dem will ich geben, mit mir auf meinem Thron zu sitzen, wie auch ich überwunden habe und mich gesetzt habe mit meinem Vater auf seinen Thron.“ Offenbarung 3,21. „Wer überwindet, den will ich machen zum Pfeiler in dem Tempel meines Gottes, und er soll nicht mehr hinausgehen, und ich will auf ihn schreiben den Namen meines Gottes ... und meinen Namen, den neuen.“ Offenbarung 3,12. DM.433.1 Teilen

Der Apostel Paulus drückt das so aus: „Ich werde schon geopfert, und die Zeit meines Abscheidens ist gekommen. Ich habe den guten Kampf gekämpft, ich habe den Lauf vollendet, ich habe Glauben gehalten; hinfort liegt für mich bereit die Krone der Gerechtigkeit, die mir der Herr, der gerechte Richter, an jenem Tag geben wird.“ 2.Timotheus 4,6-8. DM.433.2 Teilen

Dem Herzen Jesu am nächsten stehen wird, wer hier auf Erden am meisten von Christi aufopfernder Liebe in sich aufgenommen hat, von der es heißt: „Die Liebe treibt nicht Mutwillen, sie bläht sich nicht auf, sie verhält sich nicht ungehörig, sie sucht nicht das Ihre, sie lässt sich nicht erbittern, sie rechnet das Böse nicht zu.“ 1.Korinther 13,4.5. Diese Liebe treibt den Jünger an — wie sie auch unseren Herrn bewogen hat —, alles hinzugeben, zu leben, zu wirken und sich aufzuopfern, ja selbst den Tod zu erleiden, um die Menschheit zu retten. Dieser Geist wurde im Leben des Apostels Paulus sichtbar. Er schreibt: „Christus ist mein Leben“ — weil er durch sein Leben Christus den Menschen offenbarte — „und Sterben ist mein Gewinn“ (Philipper 1,21) — Gewinn für Christus. Selbst der Tod würde die Macht der göttlichen Gnade bekunden und dem Herrn Menschenseelen zuführen. Sein Wunsch war, dass „Christus verherrlicht werde an [seinem] Leibe, es sei durch Leben oder durch Tod“. Philipper 1,20. DM.433.3 Teilen

Als die zehn anderen Jünger von der Anfrage des Jakobus und Johannes hörten, waren sie sehr verärgert. Den höchsten Platz im Reich Gottes wünschte sich ja jeder von ihnen. Nun waren sie erbost darüber, dass diese beiden scheinbar einen Vorteil vor ihnen erlangt hatten. DM.433.4 Teilen

Wieder schien der alte Streit ausbrechen zu wollen, wer von ihnen der Größte wäre, als Jesus die empörten Jünger zu sich rief und sagte: „Ihr wisst, dass diejenigen, die als Herrscher der Heidenvölker gelten, sie unterdrücken und dass ihre Großen Gewalt über sie ausüben. Unter euch aber soll es nicht so sein.“ Markus 10,42.43. DM.433.5 Teilen

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In den Königreichen der Welt waren Rang und Würde gleichbedeutend mit Selbsterhöhung. Man meinte, dass das einfache Volk nur zum Nutzen der herrschenden Klassen existierte. Einfluss, Wohlstand und Bildung boten den Regierenden viele Möglichkeiten, die Massen zu ihrem eigenen Vorteil zu beherrschen. Sache der Oberschicht war es, zu denken, zu entscheiden, zu genießen und zu regieren. Die anderen aber hatten zu gehorchen und zu dienen. Über die Religion hatte, wie über alle anderen Dinge auch, allein die Obrigkeit zu befinden. Das Volk hatte nur zu glauben und das auszuführen, was die Vorgesetzen anordneten. Das natürliche Recht eines jeden Menschen, selbst zu denken und zu handeln, wurde dem Volk völlig aberkannt. DM.434.1 Teilen

Christus gründete Sein Reich auf andere Prinzipien. Er rief die Menschen nicht zur Herrschaft, sondern zum Dienst. Der Starke sollte die Gebrechlichkeit des Schwachen tragen. Wer über Macht, Stellung, Begabung oder Bildung verfügt, sollte damit in besonderer Weise zum Dienst an seinen Mitmenschen verpflichtet sein. Selbst von den Niedrigsten der Nachfolger Christi heißt es: „Es geschieht alles um euretwillen.“ 2.Korinther 4,15. DM.434.2 Teilen

„Der Menschensohn ist nicht gekommen, dass er sich dienen lasse, sondern dass er diene und sein Leben gebe als Lösegeld für viele.“ Markus 10,45. Unter Seinen Jüngern war Christus in jeder Weise darauf bedacht, für sie zu sorgen und ihre Lasten zu tragen. Er teilte ihre Armut, verleugnete sich selbst um ihretwillen, ging vor ihnen her, um Schwierigkeiten zu beseitigen und würde bald Seine irdische Aufgabe dadurch beenden, dass Er Sein Leben dahingab. Bei all Seinen Handlungen ging es Christus darum, die Glieder Seiner Gemeinde, die Seinen Leib darstellt, anzuspornen. Liebe hat die Erlösung geplant, Liebe ist deren Grundlage. Im Königreich Christi werden jene die größten sein, die Seinem Beispiel folgen und als Hirten Seiner Herde tätig sind. Der Apostel Paulus drückt die wahre Würde und Ehre eines christlichen Lebens so aus: „Obwohl ich frei bin von jedermann, habe ich doch mich selbst jedermann zum Knecht gemacht.“ 1.Korinther 9,19. „Ich ... suche nicht, was mir, sondern was vielen dient, damit sie gerettet werden.“ 1.Korinther 10,33. DM.434.3 Teilen

In Gewissensangelegenheiten dürfen niemandem Fesseln angelegt werden. Keiner ist berechtigt, eines anderen Denken zu beherrschen, für ihn zu entscheiden oder ihm seine Pflichten vorzuschreiben. Gott lässt jedem Menschen die Freiheit, selbst zu denken und seiner Überzeugung zu folgen. „So wird nun jeder für sich selbst Gott Rechenschaft geben.“ Römer 14,12. DM.434.4 Teilen

Niemand darf seine eigene Persönlichkeit in der eines anderen Menschen aufgehen lassen. In allen prinzipiellen Fragen muss es deshalb heißen: „Ein jeder sei in seiner Meinung gewiss.“ Römer 14,5. Im Reich Jesu Christi gibt es weder gebieterische Unterdrückung noch Zwang. Auch die Engel des Himmels kommen nicht zur Erde herab, um zu herrschen und Ehrerbietung zu fordern, sondern um als Botschafter der Gnade gemeinsam mit den Menschen auf Erden die menschliche Natur zu adeln. DM.434.5 Teilen

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Die Grundsätze und selbst die Worte aus den Lehren des Heilandes lebten in ihrer göttlichen Schönheit im Gedächtnis des Lieblingsjüngers Jesu weiter. Bis in seine letzten Tage fühlte sich Johannes für die Gemeinden verantwortlich. „Das ist die Botschaft, die ihr gehört habt von Anfang an, dass wir uns untereinander lieben sollen.“ 1.Johannes 3,11. DM.435.1 Teilen

„Daran haben wir die Liebe erkannt, dass er sein Leben für uns gelassen hat; und wir sollen auch das Leben für die Brüder lassen.“ 1.Johannes 3,16. Dies war der Geist, der die frühe Christenheit durchdrang. Nach der Ausgießung des Heiligen Geistes wird bezeugt: „Die Menge aber der Gläubigen war ein Herz und eine Seele; auch nicht einer sagte von seinen Gütern, dass sie sein wären.“ Apostelgeschichte 4,32. „Es war auch keiner unter ihnen, der Mangel hatte.“ Apostelgeschichte 4,34. „Und mit großer Kraft bezeugten die Apostel die Auferstehung des Herrn Jesus, und große Gnade war bei ihnen allen.“ Apostelgeschichte 4,33. DM.435.2 Teilen

Kapitel 61: Zachäus
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Auf der Grundlage von Lukas 19,1-10. DM.436 Teilen

Auf dem Weg nach Jerusalem zog Jesus durch Jericho. Diese Stadt lag inmitten einer tropischen Vegetation von üppiger Schönheit, einige Kilometer vom Jordan entfernt am westlichen Rand des Tales, das sich hier zu einer Ebene ausweitete. Mit ihren Palmen und den von quellenden Brunnen bewässerten fruchtbaren Gärten leuchtete die von Hügeln und Schluchten eingefasste Ebene wie ein Edelstein. Viele Reisekaravanen nahmen den Weg zum Fest über Jericho. Ihre Ankunft leitete stets eine festliche Jahreszeit ein, doch diesmal bewegte das Volk von Jericho ein tieferes Interesse. Es wurde bekannt, dass sich der galiläische Rabbi, der kürzlich Lazarus auferweckt hatte, in der Menge befand. Obwohl Gerüchte von Anschlägen der Priester verbreitet waren, wollte das Volk ihm huldigen. DM.436.1 Teilen

Jericho gehörte zu den Städten, die einst den Priestern vorbehalten waren. Und auch jetzt noch wohnte viele von ihnen dort. Zudem lebte in dieser Stadt eine Bevölkerung von sehr unterschiedlichem Charakter. Jericho war ein großer Handelsmittelpunkt, in dem sich neben Fremden aus verschiedenen Gegenden römische Beamte und Soldaten aufhielten. Das Eintreiben des Zolls machte die Stadt zur Heimat vieler Zöllner. Ein Oberster der Zöllner, Zachäus, war Jude und wurde von seinen Landsleuten verachtet. Sein Rang und sein Wohlstand waren der Lohn für einen Beruf, den diese verabscheuten und der nur als eine andere Bezeichnung für Ungerechtigkeit und Wucher angesehen wurde. Dennoch war der reiche Zöllner nicht der gefühllose Betrüger, der er zu sein schien. Unter dem Deckmantel von Eigennutz und Hochmut schlug ein Herz, das durchaus für göttliche Einflüsse empfänglich war. Zachäus hatte von Jesus gehört. Überallhin waren Informationen von dem Einen gedrungen, der sich auch gegenüber den geächteten Menschenklassen freundlich und höflich verhielt. Im Herzen des Obersten der Zöllner war die Sehnsucht nach einem besseren Leben erwacht. Nur wenige Kilometer von Jericho entfernt hatte Johannes der Täufer am Jordan gepredigt, und dessen Bußruf hatte auch Zachäus vernommen. Die an die Zöllner gerichtete Anweisung: „Fordert nicht mehr, als euch vorgeschrieben ist“ (Lukas 3,13), war ihm zu Herzen gegangen, obwohl er sie äußerlich missachtete. Er kannte die heiligen Schriften und war davon überzeugt, dass er falsch gehandelt hatte. Als er nun die Worte hörte, die von dem großen Lehrer stammten, spürte er, dass er in Gottes Augen ein Sünder war. Doch was er von Jesus gehört hatte, ließ Hoffnung in seinem Herzen aufflammen. Zu bereuen und sein Leben zu reformieren, war selbst bei ihm möglich. War nicht einer aus dem engsten Jüngerkreis des neuen Lehrers auch ein Zöllner gewesen? Zachäus begann sofort der Überzeugung zu folgen, die ihn ergriffen hatte, und an jenen Menschen, die er geschädigt hatte, wiedergutzumachen. DM.436.2 Teilen

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Schon hatte er begonnen, seinen bisherigen Weg zurückzuverfolgen, als die Nachricht durch Jericho eilte, dass Jesus in die Stadt kommt. Zachäus wollte unbedingt den Herrn sehen. Gerade erst begann er zu begreifen, wie bitter die Früchte der Sünde schmecken und wie mühsam der Pfad ist, auf dem er versuchte, sich von dem Unrecht abzuwenden. Missverstanden zu sein und beim Bemühen, seine Fehler wiedergutzumachen, argwöhnisch betrachtet zu werden, das war schwer zu ertragen. Der Zöllner sehnte sich danach, den Einen anzusehen, dessen Worte sein Herz so hoffnungsfroh gemacht hatten. DM.437.1 Teilen

Die Straßen waren überfüllt, und Zachäus, von kleiner Statur, konnte nicht über die Köpfe der anderen hinwegsehen. Keiner würde ihm Platz machen. So rannte er ein wenig der Menge voraus zu einem Feigenbaum, dessen Äste sich über den Weg breiteten. Der reiche Zöllner kletterte zu einem Platz in den Zweigen, von wo aus er die Kolonne überblicken konnte, wenn sie unter ihm vorüberzog. Die Menge kam näher und schritt vorbei, während Zachäus versuchte, den zu erkennen, den er sehen wollte. DM.437.2 Teilen

Durch das Geschrei der Priester und Rabbiner und die Willkommensrufe der Menge hindurch fand das unausgesprochene Verlangen des Obersten der Zöllner Eingang in Jesu Herz. Plötzlich, gerade unter dem Feigenbaum, blieb eine Gruppe stehen; die ganze Begleitung stockte, und Jesus, dessen Blick in der Seele zu lesen schien, schaute nach oben. Der Mann auf dem Baum glaubte nicht recht zu hören, als er vernahm: „Zachäus, steig eilend herunter; denn ich muss heute in deinem Haus einkehren“. Lukas 19,5. Die Menge gab den Weg frei, und Zachäus ging — wie in einem Traum — den Weg voran zu seinem Haus. Doch die Rabbiner blickten finster drein und murmelten unzufrieden und abschätzig: „Bei einem Sünder ist er eingekehrt“. Lukas 19,7. DM.437.3 Teilen

Zachäus war von der Liebe und Zuneigung, die Jesus ihm, dem Unwürdigen, entgegenbrachte, überwältigt und sehr verwundert, und er verstummte. Nur die Liebe und Ergebenheit gegenüber seinem neu gefundenen Meister öffneten ihm die Lippen. Er wollte sein Bekenntnis und seine Reue allen mitteilen. In Gegenwart der großen Volksmenge trat er „vor den Herrn und sprach: ‚Siehe, Herr, die Hälfte von meinem Besitz gebe ich den Armen, und wenn ich jemanden betrogen habe, so gebe ich es vierfach zurück.‘ Jesus aber sprach zu ihm: ‚Heute ist diesem Hause Heil widerfahren, denn auch er ist Abrahams Sohn‘“. Lukas 19,8f. DM.437.4 Teilen

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Als der reiche Jüngling von Jesus weggegangen war, hatten sich die Jünger über die Worte ihres Meisters gewundert: „Wie schwer ist‘s, dass die, so ihr Vertrauen auf Reichtum setzen, ins Reich Gottes kommen!“ Sie hatten einander gefragt. „Wer kann dann selig werden?“ Markus 10,24.26. Nun war ihnen die Wahrheit der Worte Christi demonstriert worden: „Was bei den Menschen unmöglich ist, das ist bei Gott möglich“. Lukas 18,27. Sie erkannten, wie ein Reicher dank der Gnade Gottes in das Himmelreich kommen konnte. DM.438.1 Teilen

Ehe Zachäus Jesus persönlich begegnet war, hatte er das begonnen, was ihn als echten Bußfertigen auswies. Bevor er von Menschen beschuldigt wurde, hatte er seine Sünde bekannt. Er hatte sich dem Wirken des Heiligen Geistes überlassen und begonnen, die Lehren umzusetzen, die für das alte Israel ebenso geschrieben waren wie für uns heute. Gott hatte gesagt: „Wenn dein Bruder verarmt neben dir und sich nicht mehr halten kann, so sollst du ihm Hilfe leisten, er sei ein Fremdling oder Gast, damit er bei dir leben kann. Du sollst keinen Zins noch Wucher von ihm nehmen, sondern sollst dich fürchten vor deinem Gott, damit dein Bruder neben dir leben kann. Du sollst ihm dein Geld nicht auf Zins geben noch deine Nahrungsmittel um einen Wucherpreis“. 3.Mose 25,35-37. DM.438.2 Teilen

„So soll nun keiner seinen Nächsten übervorteilen; sondern du sollst dich fürchten vor deinem Gott; denn ich, der HERR, bin euer Gott!“ 3.Mose 25,17. Diese Worte hatte Christus selbst gesprochen, als Er in der Wolkensäule verhüllt Sein Volk führte. Und die Antwort des Zachäus auf die Liebe Jesu zeigte sich im Mitleid mit den Armen und Leidenden. DM.438.3 Teilen

Unter den Zöllnern herrschte ein geheimes Einverständnis, so dass sie das Volk unterdrücken und sich gegenseitig in ihren betrügerischen Handlungen unterstützen konnten. Bei ihren Erpressungen führten sie nur aus, was schon eine fast allgemein übliche Sitte geworden war. Sogar die Priester und Rabbiner, die sonst verächtlich auf die Zöllner herab schauten, bereicherten sich unter dem Deckmantel ihres heiligen Amtes auf unehrliche Weise. Doch kaum gab Zachäus dem Einfluss des Heiligen Geistes nach, als er sich auch schon von jedem unredlichen Handeln abwandte. Keine Reue ist echt, wenn sie nicht eine völlige Umkehr bewirkt. Die Gerechtigkeit Christi ist kein Mäntelchen, um Sünden darunter zu verbergen, die nicht bekannt und nicht aufgegeben wurden. Sie ist vielmehr ein Lebensprinzip, das den Charakter umwandelt und das Verhalten prüft. Heiligkeit bedeutet völliges Aufgehen in Gott, die vollständige Übergabe des Herzens und des Lebens an den Willen Gottes. DM.438.4 Teilen

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Der Christ sollte in seinem geschäftlichen Umgang der Welt zeigen, wie unser Herr handeln würde. Bei jedem Geschäftsabschluss gilt es zu zeigen, dass Gott unser Lehrer ist. In der Buchhaltung, auf Urkunden, Quittungen und Wechseln sollte „Heilig dem Herrn“ geschrieben stehen. Wer vorgibt, ein Nachfolger Christi zu sein, jedoch unredlich handelt, legt ein falsches Zeugnis ab von dem heiligen, gerechten und barmherzigen Wesen des Herrn. Jeder bekehrte Mensch wird, wie Zachäus, den Eingang Christi in sein Herz dadurch offenbaren, dass er alle ungerechte Handlungen aufgibt, die sein Leben bisher bestimmt haben. Wie der Oberste der Zöllner wird er seine Aufrichtigkeit dadurch bezeugen, dass er das Unrecht wiedergutmacht. DM.439.1 Teilen

Gott sagt: Wenn er aber sich bekehrt „von seiner Sünde und tut, was recht und gut ist, so dass der Gottlose das Pfand zurückgibt und erstattet, was er geraubt hat, und nach den Satzungen des Lebens wandelt und nichts Böses tut, so soll er am Leben bleiben und nicht sterben und all seiner Sünden, die er getan hat, soll nicht mehr gedacht werden, denn er hat nun getan, was recht und gut ist; darum soll er am Leben bleiben“. Hesekiel 33,14-16. Haben wir andere durch irgendeinen ungerechten Geschäftsabschluss geschädigt, haben wir einen Menschen übervorteilt oder betrogen, selbst wenn es nicht gegen die gesetzlichen Grenzen verstieß, so sollten wir unser Unrecht bekennen und es wiedergutmachen, soweit es in unserer Macht liegt. Es ist unsere Schuldigkeit, nicht nur das zurückzuerstatten, was wir genommen haben, sondern auch den Zins, um den es anwüchse, wenn es richtig und sinnvoll genutzt würde. DM.439.2 Teilen

Der Heiland sagte zu Zachäus: „Heute ist diesem Hause Heil widerfahren.“ Lukas 19,9. Nicht nur Zachäus selbst wurde gesegnet, sondern mit ihm seine ganze Familie. Christus ging in sein Heim, um ihn in der Wahrheit zu unterrichten und seine Familie in den Dingen des Reiches Gottes zu unterweisen. Durch die Verachtung der Rabbiner und der Gläubigen war Zachäus und seinen Angehörigen der Besuch der Synagoge verwehrt gewesen, doch jetzt versammelten sie sich als die bevorzugteste Familie in ganz Jericho in ihrem eigenen Haus um den göttlichen Lehrer und hörten aufmerksam den Worten des Lebens. DM.439.3 Teilen

Wer Christus als seinen persönlichen Heiland aufnimmt, der bekommt Erlösung. Zachäus beherbergte Jesus nicht nur als einen vorübergehenden Gast seines Hauses, sondern als den Einen, der ständig in seinem Herzen wohnen sollte. Die Schriftgelehrten und Pharisäer beschuldigten ihn, ein Sünder zu sein, und sie murrten gegen Jesus, weil er Zachäus besuchte. Doch der Heiland erkannte in diesem „Obersten der Zöllner“ einen Sohn Abrahams, denn „die aus dem Glauben sind, das sind Abrahams Kinder“. Galater 3,7. DM.439.4 Teilen

Kapitel 62: Das Fest in Simons Haus
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Auf der Grundlage von Matthäus 26,6-13; Markus 14,3-11; Lukas 7,36-50; Johannes 11,55-57; Johannes 12,1-11. DM.440 Teilen

Auch Simon von Bethanien wurde als ein Jünger Jesu angesehen. Er war einer der wenigen Pharisäer, die sich offen Christi Nachfolgern anschlossen. Er hatte Jesus als Lehrer anerkannt und hoffte, dass Er der Messias wäre, doch als seinen Heiland hatte er ihn nicht angenommen. Sein Wesen war noch nicht umgestaltet, sein Denken blieb unverändert. DM.440.1 Teilen

Jesus hatte ihn vom Aussatz geheilt und ihn dadurch zu sich gezogen. Aus Dankbarkeit dafür gab Simon bei Jesu letztem Besuch in Bethanien für Ihn und Seine Jünger ein großes Fest, bei dem auch viele Juden teilnahmen. Gerade zu dieser Zeit herrschte in Jerusalem große Aufregung. Jesus und Seine Sendung wurden mehr beachtet als je zuvor. Die zum Fest gekommen waren, verfolgten genau jeden Seiner Schritte, manche sogar mit feindseligen Blicken. DM.440.2 Teilen

Sechs Tage vor dem Passahfest war der Heiland nach Bethanien gekommen und nach Seiner Gewohnheit im Haus von Lazarus eingekehrt, um Ruhe zu finden. Die Schar der Mitreisenden, die zur Hauptstadt weiterzog, verbreitete die Nachricht, dass Er auf dem Weg nach Jerusalem sei und den Sabbat über in Bethanien ruhe. Die Menschen dort waren begeistert und viele strömten nach Bethanien, manche aus Zuneigung zu Jesus, andere aus Neugier den zu sehen, der von den Toten auferweckt worden war. DM.440.3 Teilen

Viele erwarteten von Lazarus einen großartigen Bericht über seine Erlebnisse nach dem Tod, und sie waren erstaunt, dass er nichts erzählte. Er hatte ja auch nichts zu berichten, denn „die Toten ... wissen nichts; ... sie haben kein Teil mehr auf der Welt an allem, was unter der Sonne geschieht“. Prediger 9,5f. Lazarus gab jedoch ein herrliches Zeugnis für das Wirken Christi. Dafür war er von den Toten auferweckt worden. Kraftvoll und deutlich erklärte er, dass Jesus der Sohn Gottes sei. Die Berichte, die von den Besuchern Bethaniens nach Jerusalem gelangten, erhöhten noch die Aufregung. Jeder wollte Jesus sehen und hören. Man fragte sich allgemein, ob Lazarus denn den Herrn nach Jerusalem begleiten würde und ob der Prophet am Passahfest zum König gekrönt werden würde. Priester und Oberste erkannten, dass ihr Einfluss auf das Volk immer mehr nachließ, und ihre Wut auf Jesus wuchs ständig. Kaum konnten sie die Gelegenheit erwarten, Ihn für immer aus dem Weg zu räumen. Als nun die Zeit verstrich, befürchteten sie schon, dass Er nach all den Geschehnissen nicht nach Jerusalem kommen würde. Sie dachten daran, wie oft Jesus schon ihre mörderischen Absichten vereitelt hatte, und sie befürchteten, dass Er auch jetzt ihre gegen Ihn gerichteten Absichten erkannt hatte und wegbliebe. Sie konnten nur schlecht ihre Ängstlichkeit verbergen und fragten sich: „Was meint ihr? Er wird doch nicht zum Fest kommen?“ Johannes 11,56. DM.440.4 Teilen

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Eine Versammlung der Priester und Pharisäer wurde einberufen. Seit der Auferweckung von Lazarus waren die Sympathien des Volkes so völlig auf der Seite Jesu, dass es gefährlich schien, Ihn offen zu ergreifen. Deshalb beschlossen sie, Ihn heimlich festzunehmen und den Prozess so unbemerkt wie nur möglich zu führen. Sie hofften, dass sich die wankelmütige Gunst des Volkes ihnen wieder zukehrte, wenn erst Seine Verurteilung bekannt würde. DM.441.1 Teilen

Auf diese Weise sollte Jesus vernichtet werden. Doch die Priester und Gelehrten wussten auch, dass sie sich nicht sicher waren, solange Lazarus lebte. Die bloße Existenz eines Mannes, der vier Tage im Grab gelegen hatte und durch ein Wort Jesu wieder zum Leben erweckt worden war, konnte früher oder später eine Gegenreaktion hervorrufen. Das Volk würde dann an ihren Führern den Tod des Einen rächen, der so ein Wunder hatte vollbringen können. Darum beschloss der Hohe Rat auch den Tod von Lazarus. So weit führten Neid und Vorurteil ihre Sklaven. Der Hass und der Unglaube bei den jüdischen Führern nahm so zu, dass sie sogar einem Menschen das Leben nehmen wollten, den göttliche Macht aus dem Grab befreit hatte. DM.441.2 Teilen

Während diese Verschwörung in Jerusalem ablief, wurden Jesus und Seine Freunde auf das Fest von Simon aus Bethanien eingeladen. Der Heiland saß an der Festtafel zwischen dem Gastgeber, den Er von einer furchtbaren Krankheit geheilt, und Lazarus, den Er vom Tod errettet hatte. Martha diente ihnen, doch Maria lauschte sehr ernst jedem Wort, das der Heiland sprach. In Seiner Barmherzigkeit hatte Jesus ihr die Sünden vergeben, ihren geliebten Bruder hatte Er aus dem Grab gerufen und ihr Herz war voller Dankbarkeit. Sie hatte Jesus von Seinem bevorstehenden Tod sprechen hören, und in ihrer innigen Liebe und Besorgnis sehnte sie sich danach, Ihm ihre Verehrung zu zeigen. Unter großem persönlichem Opfer hatte sie ein alabasternes Gefäß mit „kostbarem Nardenöl“ (Johannes 12,3, NL) gekauft, um damit ihren Herrn zu salben. Doch nun hörte sie, dass Jesus zum König gekrönt werden sollte. Ihr Kummer verwandelte sich in Freude, und sie war bemüht, als erste den Herrn zu ehren. Sie zerbrach das Gefäß und goss den Inhalt auf das Haupt und auf die Füße des Herrn, dann kniete sie vor Ihn hin, weinte und benetzte mit ihren Tränen Seine Füße, die sie noch mit ihrem lang herabwallenden Haar trocknete. Maria wollte jedes Aufheben vermeiden, und ihr Tun sollte unbemerkt bleiben, doch der Duft des Öls erfüllte den Raum und ließ ihre Tat allen Anwesenden bekannt werden. Judas verfolgte dieses Geschehen sehr mürrisch. Statt erst zu hören, was Jesus dazu sagen würde, begann er jenen, die bei ihm saßen, seine Klagen zuzuflüstern, indem er Jesus verurteilte, dass dieser solche Vergeudung duldete. Listig beeinflusste er sie so, dass möglichst Unzufriedenheit folge. DM.441.3 Teilen

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Judas war der Schatzmeister der Jünger. Er hatte ihrer kleinen Kasse heimlich Beträge für sich selbst entnommen und ihre Hilfsmittel dadurch zusammenschrumpfen lassen. Er war bestrebt, alles einzustecken, was er bekommen konnte. Oft wurden aus der Kasse die Armen unterstützt. War etwas gekauft worden, das ihm nicht wichtig genug erschien, sagte er: Warum diese Verschwendung? Warum wurde das Geld nicht in den Beutel getan, damit ich für die Bedürftigen sorgen kann? Marias Handlungsweise stand in so auffallendem Kontrast zu seiner Selbstsucht, dass er tief beschämt wurde. Seiner Gewohnheit gemäß suchte er nach einem angemessenen Motiv, um seinen Einwand gegen Marias Gabe zu begründen. Er wandte sich an die Jünger und sagte: „Dieses Parfüm war ein kleines Vermögen wert. Man hätte es verkaufen und das Geld den Armen geben sollen. Doch es ging ihm gar nicht um die Armen — er war ein Dieb und führte die Kasse der Jünger und entwendete hin und wieder etwas Geld für den eigenen Bedarf.“ Johannes 12,5f (NL). Judas hatte kein Herz für die Armen. Wäre Marias Salbe verkauft worden und der Erlös in seinen Beutel geflossen, hätten die Armen davon nichts gehabt. DM.442.1 Teilen

Judas hatte eine hohe Meinung von sich. Als Schatzmeister hielt er sich für bedeutender als seine Gefährten, und brachte soweit, dass auch sie davon überzeugt waren. Durch ihr Vertrauen zu ihm übte er einen starken Einfluss auf sie aus. Sie ließen sich durch sein angebliches Mitgefühl mit den Armen täuschen. Seine geschickten Andeutungen veranlassten sie, Marias Liebestat misstrauisch zu betrachten. Ein unzufriedenes Murmeln ging um die Tafel: „Was für eine Geldverschwendung ... Sie hätte es lieber für viel Geld verkaufen und den Erlös den Armen geben sollen.“ Matthäus 26,8.9 (NL). Maria hörte das alles. Ihr Herz wurde bedrückt, und sie befürchtete, dass ihre Schwester ihre Verschwendung tadeln und auch der Meister sie für leichtsinnig halten würde. Ohne sich zu verteidigen oder zu entschuldigen, wollte sie sich zurückziehen, aber dann hörte sie Jesus sagen: „Lasst sie in Ruhe. Warum bringt ihr sie in Verlegenheit? Sie hat mir doch etwas Gutes getan. Die Armen werdet ihr immer bei euch haben. Ihr könnt ihnen helfen, wann immer ihr wollt. Aber ich werde nicht mehr lange bei euch sein. Sie hat getan, was in ihrer Macht stand, und meinen Körper im Voraus zum Begräbnis gesalbt.“ Markus 14,6-8 (NL). DM.442.2 Teilen

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Die duftende Gabe, die Maria für den Leichnam des Herrn verwenden wollte, schüttete sie über Seine lebende Gestalt aus. Beim Begräbnis hätte der Wohlgeruch nur das Grab erfüllt, jetzt aber erfreute er Jesu Herz mit der Gewissheit ihrer Treue und Liebe. Joseph von Arimathia und Nikodemus boten ihre Gaben Jesus nicht zu Seinen Lebzeiten an, sondern sie brachten ihre kostbaren Spezereien unter heißen Tränen einem Toten. Die Frauen, die Spezereien zum Grab trugen, kamen vergeblich, denn Jesus war inzwischen auferstanden. Maria aber, die ihre Liebe dem Heiland bewies, als dieser ihre Liebestat noch annehmen konnte, salbte Ihn fürs Grab. Als Jesus in die Finsternis Seiner schweren Prüfung hinabstieg, trug Er in Seinem Herzen die Erinnerung an jene Tat als ein Pfand der Liebe, die Ihm von Seinen Erlösten für immer entgegenschlägt. DM.443.1 Teilen

Viele bringen den Toten wertvolle Gaben und sprechen an ihrem stummen, erstarrten Leib großzügige Worte der Liebe. Zartgefühl, Anerkennung und Hingabe werden an jene verschwendet, die weder hören noch sehen können. Wären doch diese Worte gesprochen worden, als der erschöpfte Geist sie so nötig hatte, als die Ohren noch hören und das Herz noch fühlen konnte — wie köstlich wäre ihr Wohlgeruch gewesen! DM.443.2 Teilen

Maria selbst konnte die eigentliche Bedeutung ihrer Liebestat nicht abschätzen. Sie vermochte ihren Anklägern nicht zu antworten und konnte auch nicht erklären, warum sie diese Gelegenheit genutzt hatte, Jesus zu salben. Der Geist Gottes hatte sie getrieben, und sie war Ihm gefolgt. Das Herabkommen des Geistes bedarf keiner Begründung. Seine unsichtbare Gegenwart spricht zu Herz und Gemüt und bewegt das Herz, zu handeln. Darin liegt die Rechtfertigung solchen Handelns. DM.443.3 Teilen

Christus erläuterte Maria den Sinn ihrer Tat und gab ihr damit weit mehr, als Er selbst empfangen hatte. „Dass sie das Öl auf meinen Leib gegossen hat, das hat sie für mein Begräbnis getan.“ Matthäus 26,12. Wie das alabasterne Gefäß zerbrochen wurde und der Duft des Öls das ganze Haus erfüllte, so musste Christus sterben. Sein Leib musste gebrochen werden, aber Er sollte wieder auferstehen aus dem Grab, und der Wohlgeruch Seines Lebens würde die ganze Welt erfüllen. Christus hat uns geliebt „und hat sich selbst für uns gegeben als Gabe und Opfer, Gott zu einem lieblichen Geruch“. Epheser 5,2. DM.443.4 Teilen

„Wahrlich, ich sage euch: Wo dieses Evangelium gepredigt wird in der ganzen Welt, da wird man auch sagen zu ihrem Gedächtnis, was sie getan hat.“ Matthäus 26,13. In die Zukunft blickend, sprach der Erlöser mit Gewissheit von Seinem Evangelium, das in der ganzen Welt gepredigt werden sollte. So weit es sich ausdehnte, würde Marias Gabe überall ihren Wohlgeruch verbreiten, und die Herzen würden durch ihre natürliche Handlungsweise gesegnet werden. Königreiche kämen empor und gingen wieder unter, die Namen der Herrscher und Eroberer fielen in Vergessenheit, aber die Tat Marias bliebe verewigt in den heiligen Büchern. Bis an das Ende des irdischen Geschehens würde dieses zerbrochene Alabastergefäß die Geschichte von der überschwänglichen Liebe Gottes zu dem gefallenen Menschengeschlecht erzählen. DM.443.5 Teilen

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Welch ein großer Unterschied bestand in der Tat Marias zu dem Vorhaben des Judas, der hier so viel Entrüstung heuchelte! Welch einen scharfen Tadel hätte Christus dem erteilen können, der die Saat boshafter Kritik und teuflischen Argwohns in die Herzen der Jünger ausstreute! Und wie gerecht wäre solch ein Tadel gewesen! Jesus, der aller Menschen Gedanken und Beweggründe kennt und jede Handlung versteht, hätte auf diesem Fest allen Anwesenden die finsteren Seiten im Leben von Judas zeigen können. Der faule Vorwand, auf den der Verräter seine Worte bezog, hätte offen dargelegt werden können, denn statt mit den Bedürftigen zu fühlen, beraubte er sie des Geldes, das zu ihrer Unterstützung bestimmt war. Wegen seiner Härte gegen die Witwen, Waisen und Tagelöhner hätte sich Unwillen gegen ihn erhoben. Hätte Christus aber den wahren Charakter von Judas entlarvt, würde es dieser als einen Grund für seinen Verrat angesehen haben. Und obwohl man ihn als Dieb beschuldigte, hätte Judas selbst unter den Jüngern Sympathien gewonnen. Der Heiland machte ihm keine Vorwürfe, und dadurch vermied Er es, ihm einen Entschuldigungsgrund für seinen Verrat zu geben. Doch der Blick, den Jesus auf ihn warf, überzeugte Judas, dass der Heiland seine Heuchelei durchschaute und seinen niedrigen, verachtenswerten Charakter erkannte. DM.444.1 Teilen

Indem Jesu die Tat Marias hervorhob, die so verurteilt wurde, tadelte Er Judas dadurch. Bisher hatte der Heiland ihn nie direkt getadelt. Nun aber nagte Jesu Tadel an ihm, und er beschloss, sich zu rächen. Nach der Abendmahlzeit ging er direkt in den Palast des Hohepriesters, wo er den Hohen Rat versammelt fand, und bot sich an, den Herrn in ihre Hände zu liefern. DM.444.2 Teilen

Die Priester waren hocherfreut. Diese Führer Israels hätten unentgeltlich und ohne nach einem Preis zu fragen Christus als ihren Heiland annehmen können. Aber sie lehnten die kostbare Gabe ab, die ihnen der sanfte Geist werbender Liebe anbot. Sie weigerten sich, jenes Heil anzunehmen, das wertvoller ist als Gold, und sie kauften ihren Herrn für 30 Silberstücke. DM.444.3 Teilen

Judas hatte sich so sehr der Habgier ausgeliefert, dass diese jedes gute Wesensmerkmal überschattete. Er missgönnte die Gabe, die Jesu dargebracht wurde. Sein Herz brannte vor Neid darüber, dass der Heiland etwas empfangen sollte, was nur den Königen der Erde zukam. Für einen Betrag, der weit unter dem Preis für das Ölgefäß lag, verriet er seinen Herrn. DM.444.4 Teilen

Die anderen Jünger waren nicht wie Judas. Sie liebten ihren Heiland, wenn sie auch sein wahres Wesen nicht richtig einschätzten. Wären sie sich bewusst gewesen, was Er für sie getan hatte, dann hätten sie erkannt, dass nichts vergeudet war von dem, was Ihm geschenkt wurde. Die Weisen aus dem Morgenland, die so wenig von Christus wussten, hatten für die Ihm schuldige Ehrerbietung ein besseres Verständnis. Sie brachten dem Heiland Geschenke und beugten sich in Ehrfurcht vor Ihm, als Er noch ein Baby war und in einer Krippe lag. DM.444.5 Teilen

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Christus schätzt die Taten herzlich empfundener Höflichkeit. Tat Ihm jemand einen Gefallen, dann segnete Er ihn mit himmlischer Zuvorkommenheit. Er lehnte nicht die einfachste Blumengabe, die von Kinderhand gepflückt und Ihm liebevoll geschenkt wurde. Er nahm die Gaben der Kinder an und segnete sie, indem Er ihre Namen in das Buch des Lebens schrieb. Die Heilige Schrift berichtet über die Salbung Jesu durch Maria, um sie vor den anderen Frauen ihres Namens auszuzeichnen. Taten, die der Liebe zu Jesus und der Ehrerbietung Ihm gegenüber entspringen, beweisen unseren Glauben an Ihn als den Sohn Gottes. Und die Heilige Schrift führt Folgendes als Beweis für die Treue einer Frau zu Christus an: „Wenn sie den Heiligen die Füße gewaschen hat, wenn sie denen Bedrängten beigestanden hat, wenn sie allem guten Werk nachgekommen ist.“ 1.Timotheus 5,10. DM.445.1 Teilen

Der Heiland freute sich über den ernstlichen Wunsch Marias, den göttlichen Willen zu tun, und nahm die Fülle uneigennütziger Zuneigung gern entgegen, die Seine Jünger nicht verstanden und nicht verstehen wollten. Marias Wunsch, ihrem Herrn diesen Dienst zu erweisen, war für Ihn mehr wert als alle kostbaren Salben der Welt, weil er zeigte, wie sehr sie den Erlöser der Welt schätzte. Es war die Liebe Christi, die sie trieb. Die Vollkommenheit des Wesens Jesu erfüllte ihre Seele. Jene Salbe war ein Symbol für das, was in ihrem Herzen vor sich gegangen war. Sie war das äußerliche Zeichen einer Liebe, die von himmlischen Quellen gespeist wurde, bis sie überfloss. DM.445.2 Teilen

Die Tat Marias enthielt gerade die Lehre, die die Jünger benötigten, um zu verstehen, dass die Bekundung ihrer Liebe zu Christus Ihm angenehm sein würde. Er war ihnen alles gewesen, und sie erkannten nicht, dass sie bald Seiner Gegenwart beraubt sein würden und Ihm dann kein Zeichen ihrer Dankbarkeit für Seine unbeschreibliche Liebe mehr geben könnten. Die Einsamkeit Christi, der, getrennt von den himmlischen Höfen, das Leben nach menschlicher Natur lebte, wurde von den Jüngern nie verstanden oder gewürdigt, wie man es hätte erwarten sollen. Jesus war oft traurig, weil Seine Jünger Ihm nicht das gaben, was Er von ihnen zu empfangen hoffte. Er wusste aber, dass sie bald unter dem Einfluss himmlischer Engel, die Ihn begleiteten, keine Gabe für zu wertvoll halten würden, um ihre innere Verbundenheit mit Ihm zu bekunden. DM.445.3 Teilen

Ihre spätere Erkenntnis gab den Jüngern ein echtes Empfinden für die vielen Dinge, die sie Jesus hätten erweisen können, um ihre Liebe und Dankbarkeit zu zeigen, als sie bei Ihm waren. Als Jesus nicht mehr bei ihnen war und sie sich wirklich als Schafe ohne Hirten fühlten, fingen sie an zu erkennen, wie sie Ihm hätten etwas Gutes tun können, das Ihn erfreut hätten. Sie blickten nun nicht mehr tadelnd auf Maria, sondern auf selbst. Ach, könnten sie doch ihren Tadel und ihre Behauptung, dass die Armen der Gabe würdiger gewesen wären als Christus, zurücknehmen! Sie fühlten sich tief beschämt, als sie den zerschlagenen Leib ihres Herrn vom Kreuz nahmen. Der gleiche Mangel ist in heutiger Zeit zu beobachten. Nur wenige erkennen Christi Bedeutung für sie. Sonst würde so eine selbstlose Liebe, wie sie damals Maria dem Herrn erwiesen hatte, im täglichen Leben bemerkbar werden. Die Salbung erfolgte freiwillig, und das wertvolle Öl würde nicht eine Verschwendung genannt werden. Nichts wäre zu teuer, um es dem Herrn zu bringen, keine Selbstverleugnung und kein Opfer wäre zu groß gewesen, um es seinetwegen zu ertragen. DM.445.4 Teilen

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Die entrüsteten Worte der Jünger: „Was für eine Geldverschwendung“ (Matthäus 26,8f, NL), ließen dem Heiland das größte Opfer, das je gebracht werden sollte, lebhaft vor Augen treten — nämlich das Opfer Seines Lebens als Sühne für eine verlorene Welt. Der Herr würde die menschliche Familie so überaus reichlich beschenken, dass man von Ihm nicht sagen konnte, Er könne noch mehr tun. In der Gabe Jesu gab Gott den ganzen Himmel. Aus menschlicher Perspektive würde solch ein Opfer als Verschwendung angesehen. Unserer beschränkten Urteilskraft erschiene der ganze Erlösungsplan als Vergeudung von Gnade und Werten. Selbstverleugnung und rückhaltloses Opfer begegnen uns überall. Mit Recht mag das Heer des Himmels erstaunt auf die Menschen blicken, die es ablehnen, sich von der grenzenlosen Liebe in Christus erheben und bereichern zu lassen, und die ausrufen: Was für eine Geldverschwendung! Aber die Versöhnung für eine verlorene Welt sollte unverkürzt, überreichlich und vollkommen sein. Christi Opfer war so unermesslich groß, dass es jeder Mensch, den Gott erschuf, in Anspruch nehmen kann. Es konnte nicht so eingeschränkt werden, als reiche es nur für diejenigen, die diese große Gabe annehmen würden. Nicht alle Menschen werden gerettet, doch der Erlösungsplan ist nicht deswegen nutzlos, weil er nicht all das vollbringt, wozu er großzügig vorgesehen ist. Seine Wirksamkeit ist reichlich, ja in überreichem Maße vorhanden. DM.446.1 Teilen

Simon von Bethanien, der Gastgeber dieses Festes, war von den kritischen Bemerkungen des Judas über Marias Gabe beeinflusst worden und zeigte sich von dem Verhalten Jesu überrascht. Sein pharisäischer Stolz war verletzt. Er wusste, dass viele seiner Gäste Jesus mit Misstrauen und Unwillen beobachteten. Simon dachte bei sich: „Wenn dieser ein Prophet wäre, so wüsste er, wer und was für eine Frau das ist, die ihn anrührt; denn sie ist eine Sünderin.“ Lukas 7,39. Jesus hatte Simon vom Aussatz geheilt und ihn dadurch vor einem schrecklichen Tod bewahrt. Und doch zweifelte Simon, dass der Heiland ein Prophet sei. Weil Christus dieser Frau erlaubte, sich Ihm zu nähern und weil Er sie nicht zurückwies als eine, deren Sünden zu groß waren, um vergeben werden zu können, weil Er nicht äußerte, dass sie gesündigt hatte, deshalb war Simon versucht zu glauben, dass Jesus kein Prophet sei. Er dachte, Jesus wisse nichts von dieser Frau, die so freigebig in ihren Äußerungen sei, sonst würde Er ihr doch nicht erlauben, Ihn zu berühren. DM.446.2 Teilen

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Es war aber Simons Unwissenheit über Gott und Christus, die ihn zu derartigen Gedanken führte. Er begriff nicht, dass Gottes Sohn in göttlicher Weise handeln musste — gnädig, gütig und barmherzig. Simon selbst hätte Marias bußfertigen Dienst gar nicht beachtet. Dass sie Jesu Füße küsste und salbte, reizte seine Hartherzigkeit. Er dachte, dass Jesus die Sünder doch erkennen und zurechtweisen würde, wenn Er ein Prophet wäre. DM.447.1 Teilen

Auf diese unausgesprochenen Gedanken antwortete der Heiland: „Simon, ich habe dir etwas zu sagen. ... Ein Gläubiger hatte zwei Schuldner. Einer war fünfhundert Silbergroschen schuldig, der andere fünfzig. Da sie aber nicht bezahlen konnten, schenkte er‘s beiden. Wer von ihnen wird ihn am meisten lieben? Simon antwortete und sprach: Ich denke, der, dem er am meisten geschenkt hat. Er aber sprach zu ihm: Du hast recht geurteilt.“ Lukas 7,40-43. DM.447.2 Teilen

Wie einst der Prophet Nathan bei David, so hüllte auch hier Christus eine tadelnde Antwort in den Schleier eines Gleichnisses und veranlasste dadurch den Gastgeber, sein eigenes Urteil zu sprechen. Simon hatte die Frau, die er jetzt verachtete, selbst zur Sünde verleitet und ihr großes Unrecht zugefügt. Im Gleichnis von den zwei Schuldnern wurden Simon und die Frau dargestellt. Jesus wollte nicht sagen, dass beide ein verschieden großes Maß an Schuld empfinden sollten, denn auf jedem lastete eine Schuld der Dankbarkeit, die er niemals zurückzahlen konnte. Und doch hielt sich Simon für gerechter als Maria, und Jesus wollte ihm zeigen, wie groß seine Schuld wirklich war. Er wollte ihm vor Augen führen, dass seine Schuld größer war als die Marias, um so viel größer, wie eine Schuld von 500 Silbergroschen jene von 50 Silbergroschen übersteigt. DM.447.3 Teilen

Simon begann nun, sich in einem anderen Licht zu sehen. Er sah auch, wie Maria von dem eingeschätzt wurde, der mehr als ein Prophet war und mit Seinem prophetischen Auge ihre Liebe und Hingabe in ihrem Herzen las. Simon schämte sich, und er erkannte, dass er sich in der Gegenwart des Einen befand, der größer war als er. DM.447.4 Teilen

Da sprach der Herr weiter: „Ich bin in dein Haus gekommen; du hast mir kein Wasser für meine Füße gegeben; diese aber hat meine Füße mit Tränen benetzt und mit ihren Haaren getrocknet. Du hast mir keinen Kuss gegeben; diese aber hat, seit ich hereingekommen bin, nicht abgelassen, meine Füße zu küssen.“ Lukas 7,44f. Christus erinnerte Simon an die vielen Gelegenheiten, die er gehabt hatte, seine Liebe zu seinem Herrn zu beweisen und das zu würdigen, was für ihn getan worden war. Deutlich, aber höflich versicherte der Heiland Seinen Jüngern, dass Sein Herz betrübt ist, wenn Seine Kinder Ihm weder durch Worte noch durch Taten der Liebe ihre Dankbarkeit zeigen wollen. DM.447.5 Teilen

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Der Herzenserforscher kannte die Motive der Tat Marias, und auch die Gedanken Simons. „Siehst du diese Frau?“, fragte er ihn. Sie ist eine Sünderin. Aber ich sage dir: „Ihre vielen Sünden sind vergeben, denn sie hat viel Liebe gezeigt; wem aber wenig vergeben wird, der liebt wenig.“ Lukas 7,44.47. DM.448.1 Teilen

Simons Kälte und Geringschätzung gegenüber dem Heiland zeigte, wie wenig er die ihm erwiesene Barmherzigkeit zu schätzen wusste. Er glaubte den Herrn dadurch zu ehren, dass er Ihn in sein Haus einlud. Doch jetzt sah er sich, wie es wirklich war. Während er sich einbildete, seinen Gast beurteilen zu können, musste er erleben, dass Jesus ihn besser kannte als er sich selbst. Seine Frömmigkeit war tatsächlich die eines Pharisäers gewesen. Er hatte die Barmherzigkeit Jesu verachtet und den Herrn nicht als den Stellvertreter Gottes anerkannt. Während Maria eine begnadigte Sünderin war, hatte er sich seine Schuld noch nicht nehmen lassen. Die strengen Regeln der Gerechtigkeit, die er auf Maria anwendete, verurteilten ihn nun selbst. DM.448.2 Teilen

Die vornehme Art Jesu, ihn nicht öffentlich vor seinen Gästen zu tadeln, beeindruckte Simon sehr. Er wurde nicht so behandelt, wie er Maria zu behandeln verlangt hatte. Er erkannte, dass Jesus sein schuldhaftes Verhalten nicht vor den anderen preisgeben wollte, sondern dass er durch eine wahrhafte Darlegung der Dinge sein Gemüt zu überzeugen und durch Güte sein Herz zu bezwingen suchte. Eine harte Anklage hätte Simons Gemüt gegen eine Umkehr verschlossen, geduldige Ermahnung aber überzeugte ihn von seinem Irrtum. Er erkannte die Größe seiner Schuld gegenüber dem Herrn. Sein Hochmut war gebrochen, er bereute sein Unrecht, und der stolze, eigenwillige Pharisäer wurde ein bescheidener, sich selbst aufopfernder Jünger Jesu. DM.448.3 Teilen

Maria wurde weithin als große Sünderin angesehen, doch Jesus kannte die Umstände, die ihr Leben bisher beeinflusst hatten. Er hätte jeden Funken Hoffnung in ihr auslöschen können, tat es aber nicht. Er hatte sie vielmehr aus Verzweiflung und Verderben herausgerissen. Siebenmal waren die bösen Geister, die ihr Herz und Gemüt beherrscht hatten, aus ihr ausgefahren. Sie hatte Seine zu ihren Gunsten gesprochenen Bitten zu Gott gehört, und sie wusste, wie anstößig die Sünde Seiner Reinheit war, und in Seiner Stärke hatte sie überwunden. DM.448.4 Teilen

Bei den Menschen erschien Marias Fall hoffnungslos, doch Christus sah in ihr Eigenschaften zum Guten, Er erkannte ihre besseren Wesenszüge. Der Erlösungsplan hat die menschliche Natur mit großen Möglichkeiten ausgerüstet, die im Handeln Marias sichtbar wurden. Durch Seine Gnade bekam sie Anteil an der göttlichen Natur. Sie, die gefallen und eine Behausung der Dämonen geworden war, saß nun zu Seinen Füßen und lernte von Ihm. Maria war es auch, die das kostbare Öl auf Sein Haupt goss und Seine Füße mit ihren Tränen benetzte. Maria stand am Fuß des Kreuzes und folgte Ihm zum Grab, und Maria war nach Seiner Auferstehung als erste an der Gruft. Maria war auch die erste, die den auferstandenen Heiland verkündigte. DM.448.5 Teilen

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Jesus kennt den Zustand jeder Menschenseele. Du magst sagen: Ich bin voller Schuld und Sünde. Das ist wahr, aber je schlimmer es um dich steht, desto mehr brauchst du Jesus, deinen Heiland. Er stößt keinen Weinenden, keinen Bußfertigen von sich. Er erzählt nicht jedem das, was Er eigentlich offenbaren könnte, aber Er ermutigt jede bedrängte Seele. Bereitwillig vergibt Er allen, die Ihn um Vergebung und Wiederherstellung bitten. DM.449.1 Teilen

Christus könnte die Engel beauftragen, die Schalen Seines Zornes über unsere Erde auszugießen, um jene zu vernichten, die Gott hassen. Er könnte diesen hässlichen Fleck aus dem Weltall entfernen, aber Er tut es nicht. Er steht heute noch am Räucheraltar und bringt dem ewigen Vater die Gebete derer dar, die Seine Hilfe erbitten. DM.449.2 Teilen

Die Menschen, die bei Jesus Zuflucht suchen, erhebt Er über die Anklagen und entzieht sie dem Bereich der bösen Zungen. Kein Mensch und kein gefallener Engel kann diese Seelen herabsetzen. Der Heiland verbindet sie mit Seiner göttlich-menschlichen Natur. Sie stehen neben dem großen Sündenträger in dem Licht, das vom Thron Gottes hervorleuchtet. „Wer will die Auserwählten Gottes beschuldigen? Gott ist hier, der gerecht macht. Wer will verdammen? Christus Jesus ist hier, der gestorben ist, ja vielmehr, der auch auferweckt ist, der zur Rechten Gottes ist und vertritt uns.“ Römer 8,33f. DM.449.3 Teilen

Kapitel 63: Dein König komme!
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Auf der Grundlage von Matthäus 21,1-11; Markus 11,1-10; Lukas 19,29-44; Johannes 12,12-19. DM.450 Teilen

„Juble laut, Tochter Zion, jauchze, Tochter Jerusalem! Siehe, dein König kommt zu dir: Gerecht und siegreich ist er, demütig und auf einem Esel reitend, und zwar auf einem Fohlen, einem Jungen der Eselin.“ Sacharja 9,9 (EB). DM.450.1 Teilen

So beschrieb der Prophet Sacharja schon 500 Jahre vor der Geburt Jesu das Kommen des Messias zu seinem Volk. Diese Weissagung sollte sich nun erfüllen. Er, der so lange die königlichen Ehren verweigert hatte, zog nun als der verheißene Erbe von Davids Thron in Jerusalem ein. DM.450.2 Teilen

Am ersten Tag der Woche zog Christus in die Stadt ein. Die Volksmenge, die sich in Bethanien um den Herrn gesammelt hatte, begleitete Ihn, um Zeuge Seines Empfangs in Jerusalem zu sein. Viele Menschen waren auf dem Weg zur Hauptstadt, um das Passahfest zu feiern, und diese schlossen sich denen an, die um Jesus waren. Die ganze Schöpfung schien sich zu freuen. Die Bäume prangten in hellem Grün, und die Blüten versprengten ihren Duft. Frohes Leben überall, wohin man schaute. Die Hoffnung auf das neue Reich war wieder erwacht. DM.450.3 Teilen

Jesus wollte in die Stadt reiten und sandte zwei Jünger voraus, Ihm eine Eselin und ihr Fohlen zu holen. Bei Seiner Geburt war der Heiland auf die Gastfreundschaft Fremder angewiesen gewesen, denn die Krippe, in der Er lag, war ein geborgter Ruheort. Auch jetzt war Er, obwohl das Vieh auf den zahllosen Hügeln Ihm gehörte, wieder von der Güte Fremder abhängig, um ein Tier zu bekommen, auf dem Er als König in Jerusalem einziehen konnte. Wieder offenbarte sich Seine Gottheit, selbst in den genauen Anweisungen, die Er Seinen Jüngern für ihren Auftrag gab. Wie geweissagt, wurde die Bitte: „Der Herr braucht sie“ (Matthäus 21,3) bereitwillig gewährt. Jesus wählte dazu ein Tier aus, auf dem noch niemand gesessen hatte. Die Jünger legten ganz begeistert Kleider auf das Tier und setzten ihren Herrn darauf. Bis jetzt war Jesus stets zu Fuß gereist, und die Jünger hatten sich zuerst gewundert, dass ihr Meister jetzt reiten wollte. Aber Hoffnung erfüllte ihre Herzen bei dem freudigen Gedanken, dass Er im Begriff sei, in die Hauptstadt einzuziehen, um sich zum König zu erheben und Seine königliche Macht auszuüben. Während sie ihren Auftrag ausführten, teilten sie den Freunden Jesu ihre glühenden Hoffnungen mit. Die Aufregung verbreitete sich und steigerte die Erwartungen der Menge unermesslich. DM.450.4 Teilen

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Jesus folgte dem jüdischen Brauch, der beim Einzug eines Königs üblich war. Wie einst die Könige Israels auf einem Esel ritten, so auch Jesus, und es war vorausgesagt worden, dass der Messias auf diese Weise in Sein Reich kommen werde. Kaum saß Er auf dem Fohlen, als lautes Jubelgeschrei die Luft zerriss. Die Menge begrüßte Ihn als Messias, ihren König. Jesus nahm jetzt die Huldigung an, die Er vorher niemals gestattet hatte, und die Jünger sahen darin den Beweis, dass ihre frohen Hoffnungen, ihren Herrn auf dem Thron zu sehen, verwirklicht würden. Die Volksmenge war überzeugt, dass die Stunde ihrer Befreiung gekommen sei. Sie sah im Geist die römischen Heere aus der Stadt getrieben und Israel wieder als unabhängige Nation. Alle waren froh und aufgeregt. Sie wetteiferten miteinander, Jesus zu huldigen. Äußerliche Pracht und königlichen Prunk konnten sie zwar nicht entfalten, aber sie gaben ihm die Verehrung ihrer frohen Herzen. Sie konnten Ihm keine kostbaren Geschenke überreichen, aber sie breiteten ihre Obergewänder wie einen Teppich auf Seinem Pfad aus und streuten Olivenblätter und Palmzweige vor Ihm her. Sie konnten dem Triumphzug keine königliche Standarten voraustragen, aber sie schnitten die weit ausladenden Palmzweige ab, die Zeichen des Sieges, und schwenkten sie unter lautem Jubel und Hosiannarufen hin und her. DM.451.1 Teilen

Als sie weiterzogen, nahm die Menge ständig zu durch Leute, die vom Kommen Jesu gehört hatten und nun eilten, sich dem Zug anzuschließen. Immer mehr Zuschauer mischten sich unter die Schar und fragten: „Wer ist der?“ Matthäus 21,10. Was bedeutete diese ganze Aufregung? Sie alle hatten schon von Jesus gehört und erwarteten, dass Er sich nach Jerusalem begeben würde, doch sie wussten auch, dass Er bisher jeden Versuch abgewiesen hatte, Ihn auf den Thron zu heben. So waren sie deshalb sehr erstaunt zu sehen, dass dieser Mann hier Jesus war. Sie fragten sich, was diese Sinnesänderung bewirkt haben könnte, da Er doch erklärt hatte, dass Sein Reich nicht von dieser Welt sei. DM.451.2 Teilen

Ihre Fragen wurden übertönt von den lauten Triumphrufen. Immer wieder erhob sich der Jubel der begeisterten Menge, eilte Jesus weit voraus und hallte von den umliegenden Tälern und Höhen wider. Nun vereinigte sich der Zug mit den Menschen aus Jerusalem. Von den Scharen, die gekommen waren, das Passahfest zu besuchen, zogen Tausende heraus, um Jesus willkommen zu heißen. Sie grüßten Ihn mit ihren wedelnden Palmzweigen und dem spontanen Anstimmen geistlicher Lieder. Die Priester im Tempel bliesen zur selben Zeit die Posaunen zum Abendgottesdienst, aber nur wenige Menschen folgten der Einladung. Die Obersten waren bestürzt und sprachen untereinander: „Alle Welt läuft ihm nach!“ Johannes 12,19. DM.451.3 Teilen

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Nie zuvor hatte Jesus solche Kundgebungen erlaubt. Er sah die Folgen auch jetzt klar voraus: Sie würden Ihn ans Kreuz bringen. Doch es war Seine Absicht, sich öffentlich als Erlöser zu zeigen. Er wollte die Aufmerksamkeit der Menschen auf das Opfer lenken, das Seine Aufgabe für eine gefallene Welt krönen sollte. Während das Volk in Jerusalem zusammenkam, um das Passahfest zu feiern, weihte Er, das wahre Passahlamm, sich freiwillig als Opfergabe. Es wird für Seine Gemeinde zu allen Zeiten nötig sein, über Seinen Opfertod für die Sünden der Welt gründlich nachzudenken. Alles damit verbundene Geschehen sollte über jeden Zweifel erhaben sein. Es war notwendig, dass die Augen des ganzen Volkes auf Jesus blickten. Die Ereignisse, die Seinem großen Opfer vorausgingen, mussten so sein, dass sie die Aufmerksamkeit auf das Opfer selbst lenkten. Nach einer solchen Demonstration, wie sie Jesu Einzug in Jerusalem begleitete, würden aller Augen den schnellen Ablauf der Schlussereignisse verfolgen. DM.452.1 Teilen

Die mit diesem Triumphzug in Verbindung stehenden Ereignisse würden zum allgemeinen Gesprächsstoff werden und jedem Menschen Jesus wieder ins Gedächtnis zurückrufen. Nach Seiner Kreuzigung würden sich viele an diese Ereignisse in Verbindung mit Seinem Leiden und Sterben wieder erinnern und so veranlasst werden, in den Prophezeiungen der Heiligen Schrift zu forschen und schließlich erkennen, dass Jesus der Messias war. In allen Ländern würden dann die Bekenner des Glaubens vielfältig zunehmen. DM.452.2 Teilen

Bei dieser einzigen Triumphszene Seines irdischen Lebens hätte der Heiland in Begleitung himmlischer Engel und mit den Posaunen Gottes erscheinen können, das wäre jedoch in Widerspruch zu Seiner Aufgabe und dem Gesetz gewesen, das Sein Leben bestimmte. Er fügte sich in das bescheidene Dasein, das Er auf sich genommen hatte. Er musste die Last der menschlichen Natur tragen, bis Sein Leben für das Leben der Welt geopfert war. DM.452.3 Teilen

Dieser Tag, der den Jüngern die Krönung ihres Lebens schien, wäre für sie trübe und umwölkt gewesen, wenn sie gewusst hätten, dass jene Freudenszenen nur den Auftakt zum Leiden und Sterben ihres Meisters darstellten. Obwohl Er ihnen wiederholt von Seinem Opferweg erzählt hatte, vergaßen sie in dem herrlichen Triumph des Tages dennoch Seine schmerzerfüllten Worte und dachten nur an die glückverheißende Herrschaft auf dem Thron Davids. DM.452.4 Teilen

Der Festzug vergrößerte sich immer mehr. Fast alle, die sich dem Zug anschlossen, wurden von den Wogen der Begeisterung mitgerissen und stimmten mit ein in die Hosiannarufe, die von den Bergen und aus den Tälern widerhallten: „Hosianna dem Sohn Davids! Gelobt sei, der da kommt in dem Namen des Herrn! Hosianna in der Höhe!“ Matthäus 21,9. DM.452.5 Teilen

Nie zuvor hatte es einen solchen Triumphzug gegeben. Kein irdischer Sieger hatte je einen ähnlichen Zug angeführt. Nicht Gefangene als Trophäen königlicher Tapferkeit waren das Besondere, sondern den Heiland umgaben die herrlichen Zeugen Seines Dienstes der Liebe für eine gefallene Menschheit. Es waren Gefangene der Sünde, die er aus der Gewalt Satans befreit hatte und die Gott für ihre Errettung lobten. Blinde, denen Er das Augenlicht wieder geschenkt hatte, schritten auf dem Weg voran, und Stumme, deren Zunge Jesus gelöst hatte, jauchzten das lauteste Hosianna. Krüppel, die Er geheilt hatte, sprangen vor Freude und waren die Eifrigsten beim Brechen und Schwenken der Palmzweige vor dem Heiland. Witwen und Waisen priesen den Namen Jesu für Seine Barmherzigkeit, die Er an ihnen getan hatte, und die Aussätzigen, die Er gereinigt hatte, breiteten ihre unbefleckten Kleider auf Seinen Weg und feierten Ihn als König der Herrlichkeit. Es befanden sich auch jene in der Menge, die Jesu Stimme aus dem Todesschlaf erweckt hatte, und Lazarus, dessen Körper im Grab bereits in Verwesung übergegangen war und der sich nun der herrlichen Stärke des Mannesalters freute, führte das Tier, auf dem der Heiland ritt. DM.452.6 Teilen

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Viele Pharisäer waren Zeugen dieser Szene. Zornentbrannt und neiderfüllt versuchten sie den Strom der öffentlichen Stimmung zu stoppen. Mit ihrer ganzen Autorität wollten sie das Volk zum Schweigen bringen, doch alle Aufrufe und Drohungen ließen die Begeisterung nur noch zunehmen. Sie befürchteten, die Menge könnte aufgrund ihrer Überlegenheit Jesus zum König ausrufen. So drängten sie sich durch die Menge bis zum Heiland vor und sprachen Ihn mit drohenden und tadelnden Worten an: „Meister, weise doch deine Jünger zurecht!“ Lukas 19,39. Sie erklärten, dass solche lärmenden Demonstrationen ungesetzlich seien und von den Behörden nicht erlaubt wären. Durch Jesu Antwort wurden sie jedoch zum Schweigen gebracht: „Ich sage euch: Wenn diese schweigen werden, so werden die Steine schreien.“ Lukas 19,40. DM.453.1 Teilen

Gott selbst hatte diesen Triumphzug Seines Sohnes angeordnet. Der Prophet hatte ihn vorhergesagt, und Menschen waren machtlos, Gottes Vorhaben zu durchkreuzen. Hätten die Menschen Gottes Plan nicht ausgeführt, so würde Er die Steine zum Leben erweckt haben, und diese hätten dann den Sohn Gottes mit Jubelrufen begrüßt. Als sich die Pharisäer zurückzogen, ertönten aus dem Mund hunderter Menschen die Worte Sacharjas: „Du, Tochter Zion, freue dich sehr, und du, Tochter Jerusalem, jauchze! Siehe, dein König kommt zu dir, ein Gerechter und ein Helfer, arm und reitet auf einem Esel“. Sacharja 9,9. DM.453.2 Teilen

Als der Zug die Höhe eines Hügels erreicht hatte und nun in die Stadt hinabziehen wollte, hielt Jesus an, und die Menge kam zum Stehen. Vor ihnen lag, in das Licht der untergehenden Sonne getaucht, Jerusalem in all seiner Herrlichkeit. Der Tempel zog alle Augen auf sich. In majestätischer Erhabenheit überragte er alle anderen Bauwerke und schien gen Himmel zu zeigen, als wollte er das Volk auf den einzig wahren und lebendigen Gott hinweisen. Seit langem war der Tempel der Stolz und der Ruhm des jüdischen Volkes, und selbst die Römer prahlten mit seiner Herrlichkeit. Ein von den Römern eingesetzter König hatte sich mit den Juden verbunden, um den Tempel wiederherzustellen und zu verschönern. Sogar der römische Kaiser hatte ihn durch kostbare Gaben ausgezeichnet. Durch seine Ausdehnung, seinen Reichtum und seine große Pracht war er zu einem der Weltwunder geworden. DM.453.3 Teilen

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Während die untergehende Sonne den Himmel verfärbte und vergoldete, leuchtete der weiße Marmor der Tempelwände auf und glitzerten die goldbedeckten Säulen. Von der Höhe aus, wo Jesus und seine Jünger standen, erschien dieses Gebäude wie aus Schnee, besetzt mit goldenen Zinnen. Den Eingang des Tempels zierte ein Weinstock aus Gold und Silber mit grünen Blättern und schweren Trauben, geschaffen von den geschicktesten Künstlern. Dieses Werk stellte Israel als fruchtbaren Weinstock dar. Gold, Silber und lebendiges Grün waren von auserlesenem Geschmack und großer Kunstfertigkeit. Die Ranken wanden sich um die weißen, gleißenden Säulen und verbanden sich mit den goldenen Ornamenten. Auf ihnen spiegelte sich die sinkende Sonne in herrlichem Glanz, der vom Himmel zu stammen schien. DM.454.1 Teilen

Der Heiland schaut auf dieses Bild. Die gewaltige Volksmenge verstummt, gebannt von dem unerwarteten Anblick solcher Schönheit. Alle Augen sind auf den Heiland gerichtet, und sie erwarten auf Seinem Antlitz die Bewunderung zu sehen, die sie selbst erfüllt. Stattdessen erblicken sie den Schatten tiefen Kummers. Sie sind überrascht und enttäuscht, Seine Augen in Tränen zu sehen und Seinen Körper hin und her schwanken wie ein Baum im Sturm, während — wie aus den Tiefen eines gebrochenen Herzens — ein Schrei angstvollen Klagens von Seinen zitternden Lippen kommt. Welch ein Anblick für die Engel im Himmel, ihren geliebten Herrn so voller Kummer zu sehen! Welch Erleben auch für die frohe Menge, die Ihn mit begeisterten Jubelrufen und mit wedelnden Palmzweigen im Triumph nach Jerusalem begleitete, wo Er Seine Herrschaft aufrichten würde, wie sie sehnlichst hofften. Jesus hatte am Grab des Lazarus geweint, aber es waren Tränen göttlichen Mitleids für das menschliche Weh gewesen. Doch dieser plötzliche Schmerz jetzt glich einem dumpfen Klagen inmitten eines großen Jubelchores. Inmitten der Freudenszene, während alle Ihm huldigten, standen dem König Israels Tränen in den Augen. Es waren nicht stille Freudentränen, sondern Tränen und Seufzer eines inneren Ringens, das Er nicht mehr länger verbergen konnte. Die Menge überfiel plötzlich Dunkelheit und ihre Beifallsrufe verstummten. Viele weinten aus Mitgefühl mit einem Schmerz, den sie nicht begreifen konnten. DM.454.2 Teilen

Jesus weinte nicht in Erwartung der auf Ihn zukommenden Leiden. Unweit von Ihm lag Gethsemane, wo die Schrecken einer großen Finsternis Ihn bald überschatten würden. Auch konnte Er bereits das Schaftor sehen, durch das seit Jahrhunderten die Opfertiere geführt wurden. Dieses Tor sollte für Ihn, das große Vorbild, auf dessen Opfer für die Sünden der Welt alle bisherigen Opfer hingewiesen hatten, bald geöffnet werden. Nicht weit davon lag Golgatha, der Schauplatz Seines baldigen Todeskampfes. Dennoch weinte der Heiland nicht wegen dieser Hinweise auf Seinen Kreuzestod. Kein selbstsüchtiger Kummer bedrückte Ihn. Der Gedanke an das eigene Leiden ließ Seine edle, uneigennützige Seele nicht verzagen. Es war der Anblick Jerusalems, der Jesu Herz durchdrang. Jerusalem, das den Sohn Gottes verworfen und Seine Liebe verachtet hatte und sich weigerte, sich durch die großen Wundertaten Jesu überzeugen zu lassen und im Begriff war, Ihn zu töten. Jesus sah ihre Schuld, indem sie den Erlöser verwerfen — und was sie hätte sein können, wenn sie Ihn, der allein ihre Wunden heilen konnte, angenommen hätte. Er war gekommen, Jerusalem zu retten. Wie konnte Er es aufgeben!? DM.454.3 Teilen

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Israel war ein bevorzugtes Volk gewesen. Gott hatte ihren Tempel zu Seinem Wohnort erwählt. „Schön ragt empor der Berg Zion, daran freut sich die ganze Welt.“ Psalm 48,3. Über 1000 Jahre hatte Christi schützende Fürsorge und hingebungsvolle Liebe, die der eines Vaters gegenüber seinem einzigen Kind glich, dort gewaltet. In diesem Tempel hatten die Propheten des Herrn ihre warnenden Stimmen erhoben. Hier war das brennende Rauchfass geschwenkt worden, während der Weihrauch mit den Gebeten der Gläubigen zu Gott emporgestiegen war. Hier war das Blut der Opfertiere geflossen, das Jesu Blut versinnbildete. Hier hatte der Ewige seine Herrlichkeit über dem Gnadenstuhl offenbart. Hier hatten die Priester ihr verordnetes Amt ausgeübt, und die Pracht des Gottesdienstes hatte sich seit Jahrhunderten hier gezeigt. Doch all dieses musste nun ein Ende haben! DM.455.1 Teilen

Jesus erhob Seine Hand, die so oft Kranke und Leidende gesegnet hatte, gegen die dem Untergang geweihte Stadt und rief schmerzerfüllt: „Wenn doch auch du erkenntest zu dieser Zeit, was zum Frieden dient!“ Lukas 19,42. Hier hielt der Heiland inne und ließ unausgesprochen, wie die Lage Jerusalems hätte sein können, wenn es die Hilfe angenommen hätte, die Gott anbot — die Gabe Seines geliebten Sohnes. Würde Jerusalem das erkannt haben, was sein Vorrecht war zu erkennen, und hätte es das Licht beachtet, das ihm vom Himmel gesandt wurde, dann wäre es hervorgetreten in der Blüte seines Wohlstands, König aller Königreiche, frei durch die von Gott erhaltenen Macht. Dann hätten keine bewaffneten Soldaten an seinen Toren gestanden, keine römischen Fahnen von seinen Mauern geweht. Das herrliche Vorrecht, mit dem Jerusalem durch die Annahme des Erlösers gesegnet worden wäre, stand dem Sohn Gottes vor Augen. Er sah, dass es durch Ihn hätte von schwerer Krankheit geheilt, von Knechtschaft befreit und zur mächtigen Hauptstadt der Welt erhoben werden können. Es wäre der Welt größte Kostbarkeit geworden. Aber das herrliche Bild von dem, was es hätte werden können, verging aus dem inneren Blick Jesu. Ihm trat vor Augen, was es nun unter dem Joch der Römer war — dem Missfallen Gottes und seinem strafenden Gericht unterworfen. Dann klagte Er: „Aber nun ist‘s vor deinen Augen verborgen. Denn es wird eine Zeit über dich kommen, da werden deine Feinde um dich einen Wall aufwerfen, dich belagern und von allen Seiten bedrängen; und werden dich dem Erdboden gleichmachen samt deinen Kindern in dir und keinen Stein auf dem andern lassen in dir, weil du die Zeit nicht erkannt hast, in der du heimgesucht worden bist.“ Lukas 19,42-44. DM.455.2 Teilen

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Jesus kam, um die Einwohner Jerusalems zu retten, doch pharisäischer Stolz, Heuchelei, Eifersucht und Bosheit hinderten Ihn an der Erfüllung Seiner Aufgabe. Der Heiland kannte die furchtbare Vergeltung, die diese verurteilte Stadt treffen würde. Er sah Jerusalem von Kriegsheeren eingeschlossen. Er sah die belagerten Einwohner dem Hunger und Tod preisgegeben. Er sah Mütter ihre toten Kinder verzehren und Eltern und Kinder sich gegenseitig den letzten Bissen entreißen, da die natürliche Liebe durch den quälenden Hunger erstickt worden war. Er sah auch, dass die Halsstarrigkeit der Juden, die sich in der Verwerfung ihres Erlösers bekundet hatte, sie auch daran hindern würde, sich den anstürmenden Heeren zu ergeben. Es sah Golgatha, die Stätte, wo Er erhöht werden würde, mit Kreuzen bedeckt, so dicht wie die Bäume des Waldes. Er sah die unglücklichen Einwohner auf der Folter und bei der Kreuzigung unerträgliche Qualen leiden. Er sah die beeindruckenden Paläste vernichtet, den Tempel in Trümmern und von seinen massiven Mauern keinen Stein auf dem andern liegen, während die Stadt einem gepflügten Acker glich. Beim Betrachten dieser schrecklichen Szenarien konnte der Heiland Seine Tränen nicht mehr zurückzuhalten! DM.456.1 Teilen

Jerusalem war Sein Sorgenkind gewesen. Wie ein liebevoller Vater über einen eigensinnigen Sohn trauert, so weinte Jesus über die geliebte Stadt. Wie kann ich dich aufgeben? Wie kann ich dich der Vernichtung ausgeliefert sehen? Muss ich dich aufgeben, damit du den Becher deiner Bosheit füllst? Eine einzige Seele ist so wertvoll, dass im Vergleich mit ihr das ganze Weltall zur Bedeutungslosigkeit herabsank, und hier sah Er ein ganzes Volk verlorengehen. Wenn sich die Strahlen der untergehenden Sonne am Horizont verlieren würden, wäre auch die Gnadenzeit Jerusalems zu Ende. Während der Zug auf der Höhe des Ölbergs anhielt, war es für Jerusalem noch nicht zu spät, zu bereuen, obwohl der Engel der Barmherzigkeit seine ausgebreiteten Flügel bereits sinken ließ, um von dem goldenen Thron herabzusteigen und der Gerechtigkeit und dem göttlichen Gericht Raum zu geben. Doch noch bat Jesu liebevolles Herz flehentlich für Jerusalem, das Seine Gnadengaben verachtet, Seine Warnungen nicht geschätzt hatte und im Begriff war, die Hände mit Seinem Blut zu beflecken. Wenn Jerusalem nur bereuen würde, es war noch nicht zu spät! Während die letzten Strahlen der untergehenden Sonne auf dem Tempel, dem Berg und den Zinnen lagen, könnte denn nicht ein guter Engel in der Stadt die Liebe zum Heiland erwecken und so ihr Geschick abwenden? Schöne, aber unheilige Stadt, die die Propheten gesteinigt und den Sohn Gottes verworfen hatte, die sich durch ihre Unbußfertigkeit selbst die Fesseln der Knechtschaft schmiedete — ihre Gnadenfrist war fast vorüber. DM.456.2 Teilen

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Noch einmal spricht der Geist Gottes zu den Einwohnern Jerusalems. Bevor der Tag vergangen ist, wird ein weiteres Zeugnis für Christus gegeben. Die Stimme des Zeugen hat sich erhoben, um den Aufrufen aus prophetischer Vergangenheit zu folgen. Beachtet die Stadt diese göttliche Bestätigung und nimmt den Heiland auf, der ihre Tore betritt, dann kann sie noch gerettet werden. DM.457.1 Teilen

Die Obersten in Jerusalem haben die Nachricht erhalten, dass sich Jesus unter großem Zulauf des Volkes der Stadt nähert. Doch sie haben keinen Willkommensgruß für den Sohn Gottes. Sie gehen dem Herrn furchterfüllt entgegen und hoffen, die Menge zerstreuen zu können. Während der Zug gerade den Ölberg herabsteigen will, wird er von den Obersten aufgehalten. Sie erkundigen sich nach der Ursache der ungestümen Freude. Als sie fragten: „Wer ist der?“, beantworteten die Jünger, erfüllt mit dem Geist göttlicher Eingebung, diese Frage, indem sie die Weissagungen auf Christus wiederholen: DM.457.2 Teilen

Adam wird euch sagen: Er ist der Same der Frau, welcher der Schlange den Kopf zertreten soll. Vgl. 1.Mose 3,15. DM.457.3 Teilen

Abraham wird sagen: Er ist „Melchisedek, der König von Salem“. 1.Mose 14,18. DM.457.4 Teilen

Jakob wird antworten: Er ist der Held aus dem Stamme Juda. Vgl. 1.Mose 49,9. DM.457.5 Teilen

Jesaja wird euch sagen: „Immanuel!“ Und: „Wunder-Rat, Gott-Held, Ewig-Vater, Friede-Fürst.“ Jesaja 7,14; Jesaja 9,5. DM.457.6 Teilen

Jeremia wird euch antworten: Der Spross Davids, „der Herr unsere Gerechtigkeit“. Jeremia 23,6. DM.457.7 Teilen

Daniel wird euch sagen: Er ist der Messias. Hosea wird zu euch sagen: Er „ist der Gott Zebaoth, Herr ist sein Name“. Hosea 12,6. DM.457.8 Teilen

Johannes der Täufer wird euch sagen: Er ist „Gottes Lamm, das der Welt Sünde trägt“. Johannes 1,29. Gott selbst hat vom Himmel herab verkündigt: „Dies ist mein lieber Sohn.“ Matthäus 3,17. DM.457.9 Teilen

Wir, Seine Jünger, bekennen: Dieser ist Jesus, der Messias, der Fürst des Lebens, der Erlöser der Welt! DM.457.10 Teilen

Sogar der Fürst der Finsternis anerkennt Ihn, indem er sagt: „Ich weiß, wer du bist: Der Heilige Gottes.“ Markus 1,24. DM.457.11 Teilen

Kapitel 64: Ein verurteiltes Volk
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Auf der Grundlage von Markus 11,11-14; Matthäus 21,17-19. DM.458 Teilen

Der Triumphzug Jesu in die Stadt Jerusalem gab nur einen schwachen Vorgeschmack Seiner Wiederkunft in den Wolken des Himmels mit großer Kraft und Herrlichkeit inmitten der Siegesfreude der Engel und der Heiligen. Dann werden Seine Worte an die Pharisäer und Priester sich erfüllen: „Ihr werdet mich von jetzt an nicht sehen, bis ihr sprecht: Gelobt sei, der da kommt im Namen des Herrn!“ Matthäus 23,39. Der Prophet Sacharja hatte in einer Vision jenen Tag des entscheidenden Triumphes gesehen und gleichzeitig das Schicksal derer gesehen, die Christus bei Seinem ersten Kommen verwerfen würden: „Sie werden mich ansehen, den sie durchbohrt haben, und sie werden um ihn klagen, wie man klagt um ein einziges Kind, und werden sich um ihn betrüben, wie man sich betrübt um den Erstgeborenen.“ Sacharja 12,10. Diese Szene sah Jesus voraus, als Er die Stadt erblickte und über sie weinte. Im zeitlichen Untergang Jerusalems erkannte Er die endgültige Vernichtung jener, die am Blut des Sohnes Gottes schuldig waren. Die Jünger sahen den Hass der Juden auf ihren Herrn, sie erkannten aber noch nicht, wohin er führen werde. Sie verstanden weder den wahren Zustand Israels, noch begriffen sie die Vergeltung, die über Jerusalem hereinbrechen sollte. Der Herr musste ihnen dies alles bildlich veranschaulichen. DM.458.1 Teilen

Der letzte Aufruf an Jerusalem war vergeblich gewesen. Priester und Oberste hatten auf ihre Frage „Wer ist der?“ das prophetische Zeugnis aus der Vergangenheit von der Menge noch einmal gehört, aber sie hatten jene Zeugnisse nicht als göttliche Eingebung anerkannt. Voller Ärger und Bestürzung versuchten sie das Volk zum Schweigen zu bringen. Es befanden sich auch römische Beamte in der Menge, und bei diesen klagten Jesu Feinde Ihn als Aufrührer an, der im Begriff stünde, den Tempel einzunehmen und als König in Jerusalem zu regieren. Doch die beruhigende Stimme Jesu ließ für einen Augenblick die lärmende Menge verstummen, als Er abermals erklärte, dass Er nicht gekommen sei, ein weltliches Reich aufzurichten, sondern dass Er bald zu Seinem himmlischen Vater aufstiege und dass Seine Ankläger Ihn nicht mehr sehen würden, bis Er in Herrlichkeit wiederkäme. Erst wenn es für ihre Errettung zu spät wäre, würden sie Ihn anerkennen. Mit Trauer in der Stimme, aber ungewöhnlich eindringlich sprach Jesus diese Worte. Die römischen Beamten schwiegen überwältigt. Ihre Herzen waren, obwohl ihnen der göttliche Einfluss unbekannt war, bewegt wie noch nie in ihrem Leben. In dem stillen, ernsten Antlitz Jesu lasen sie Liebe, Wohlwollen und gelassene Würde. Sie waren angerührt von einer Sympathie, die sie sich nicht erklären konnten. Statt Jesus festzunehmen, neigten sie eher dazu, Ihm zu huldigen. Sie wandten sich gegen die Priester und Obersten und beschuldigten diese der Ruhestörung. Die Obersten wiederum, ärgerlich und enttäuscht, wandten sich mit ihren Klagen an das Volk und stritten außerdem aufgebracht untereinander. DM.458.2 Teilen

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Währenddessen ging Christus unbemerkt zum Tempel. Hier herrschte wohltuende Stille; denn das Geschehen auf dem Ölberg hatte das Volk hinausgetrieben. Der Heiland blieb nur kurze Zeit an dieser heiligen Stätte, auf die Er traurig blickte. Dann verließ Er mit Seinen Jüngern diesen Ort und kehrte nach Bethanien zurück. Als das Volk Ihn suchte, um Ihn zu krönen, war Er nirgends in der Stadt zu finden. Die ganze Nacht verbrachte Jesus im Gebet, und am frühen Morgen ging Er wieder zum Tempel. Auf dem Weg dorthin kam Er an einem Feigengarten vorbei. Er war hungrig, und „er sah einen Feigenbaum von ferne, der Blätter hatte; da ging er hin, ob er etwas darauf fände. Und da er zu ihm kam, fand er nichts als nur Blätter; denn es war nicht die Zeit für Feigen.“ Markus 11,13. DM.459.1 Teilen

Die Jahreszeit für reife Feigen war noch nicht da, außer in bestimmten Gegenden, und auf den Höhen um Jerusalem konnte man sagen: „Es war nicht die Zeit für Feigen.“ Doch in dem Garten, zu dem Jesus kam, schien ein Baum allen anderen weit voraus zu sein. Er war bereits mit Blättern bedeckt, und es liegt in der Natur des Feigenbaumes, dass die wachsende Frucht erscheint, noch ehe sich die Blätter entfaltet haben. Deshalb versprach dieser im vollen Blätterschmuck stehende Baum gut entwickelte Früchte. Aber der Schein trog. Beim Absuchen seiner Zweige vom niedrigsten bis zum höchsten fand Jesus „nichts als Blätter“, eine Fülle prunkenden Laubwerks, nichts weiter. DM.459.2 Teilen

Da verfluchte Er den Baum und sprach: „Nun esse niemand mehr eine Frucht von dir ewiglich!“ Markus 11,14. Am nächsten Morgen, als Jesus mit Seinen Jüngern den gleichen Weg ging, erregten die verdorrten Zweige und die verwelkten Blätter ihre Aufmerksamkeit. Petrus sagte verwundert: „Rabbi, sieh, der Feigenbaum, den du verflucht hast, ist verdorrt.“ Markus 11,21. Christi Fluch über diesen Feigenbaum hatte die Jünger überrascht. Sie konnten diese Tat überhaupt nicht mit Seinem Wandel und Seinem Wirken in Einklang bringen. Oft hatte Er ihnen gesagt, dass Er nicht gekommen sei, die Welt zu verdammen, sondern zu erlösen. Sie erinnerten sich an Seine Worte: „Des Menschen Sohn ist nicht gekommen, um die Seelen der Menschen zu verderben, sondern zu erretten.“ Lukas 9,56. Seine wunderbaren Taten hatten bisher stets dazu gedient, etwas wiederherzustellen, niemals aber, etwas zu zerstören. Die Jünger hatten ihren Herrn immer nur als Helfer und als Heiland kennen gelernt. Diese Tat stand einzig da. Sie fragten sich: Warum hat der Herr diesen Baum vernichtet? Gott ist barmherzig. „So wahr ich lebe, spricht Gott der HERR: Ich habe kein Gefallen am Tode des Gottlosen, sondern dass der Gottlose umkehre von seinem Wege und lebe.“ Hesekiel 33,11. Für Ihn ist das Vernichten und Verurteilen eine „seltsame Tat“. Jesaja 28,21. Er lüftet aber in Barmherzigkeit und Liebe den Schleier der Zukunft und zeigt den Menschen die Folgen eines sündigen Lebenswandels. DM.459.3 Teilen

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Das Verfluchen des Feigenbaumes war ein in die Tat übersetztes Gleichnis. Jener unfruchtbare Baum, der seinen Blätterschmuck dem Herrn zur Schau stellte, war ein Symbol für das jüdische Volk. Der Heiland wollte Seinen Jüngern die Ursache und die Gewissheit von Israels Schicksal verständlich machen. Er rüstete darum den Baum mit sittlichen Eigenschaften aus und erhob ihn zum Ausleger göttlicher Wahrheit. Die Juden nahmen unter allen Völkern eine bevorzugte Stellung ein, indem sie ihren Bund mit Gott bekannten. Sie waren von Gott in besonderer Weise begünstigt worden und beanspruchten deshalb, gerechter zu sein als jedes andere Volk. Doch sie waren durch die Liebe zur Welt und durch ihre Gewinnsucht völlig verdorben. Sie rühmten sich ihrer Erkenntnis und waren doch unwissend gegenüber dem Willen Gottes und voller Heuchelei. Wie der unfruchtbare Feigenbaum breiteten sie ihre vielversprechenden Zweige aus — üppig und schön anzusehen —, dennoch brachten sie „nichts als nur Blätter“. Die jüdische Religion mit ihrem prächtigen Tempel, ihren geweihten Altären, ihren geschmückten Priestern und ihren eindrucksvollen Gottesdiensten sah wirklich beeindruckend aus; doch Demut, Liebe und Barmherzigkeit fehlten. DM.460.1 Teilen

Auch alle anderen Bäume im Feigengarten hatten keine Früchte, doch diese blätterlosen Bäume weckten keine Erwartungen und konnten daher auch keine Enttäuschung verursachen. Durch diese Bäume wurden die Heiden dargestellt. Ihnen fehlte ebenso wie den Juden die Gottseligkeit; aber sie gaben auch nicht vor, Gott zu dienen. Sie prahlten nicht damit, besser als andere zu sein. Das Wirken und die Wege Gottes lagen ihnen im Dunkeln; bei ihnen war noch „nicht die Zeit für Feigen“. Markus 11,13. Sie warteten noch auf den Tag, der ihnen Hoffnung und Licht bringen würde. Die Juden, die von Gott größere Segnungen erhalten hatten, waren für den Missbrauch dieser Gaben verantwortlich. Die Vorrechte, derer sie sich rühmten, vergrößerten nur noch ihre Schuld. Jesus war hungrig zu dem Feigenbaum gekommen, und er hoffte, Nahrung zu finden. Ebenso hungrig war Er auch zu den Israeliten gekommen, um bei ihnen Früchte der Gerechtigkeit zu finden. Er hatte Seine Gaben in reicher Fülle über die Juden ausgeschüttet, damit sie zum Segen der Welt Frucht tragen möchten. Jede Gelegenheit, jedes Privileg war ihnen gewährt worden. Als Gegenleistung suchte Er ihr Mitgefühl und ihre Mitarbeit in Seinem Gnadenwerk. Er sehnte sich danach, bei ihnen Opferbereitschaft und Barmherzigkeit, Eifer für Gott und das tiefe Verlangen nach Erlösung ihrer Mitmenschen zu sehen. Hätten sie Gottes Gesetz befolgt, dann hätten sie die gleichen selbstlosen Werke getan wie Jesus auch. Aber die Liebe zu Gott und den Menschen war durch Stolz und Selbstzufriedenheit verfinstert. Sie stürzten sich selbst ins Verderben, indem sie es ablehnten, sich um andere zu kümmern und den Schatz der Wahrheit, den Gott ihnen anvertraut hatte, der Welt weiterzugeben. An dem unfruchtbaren Feigenbaum konnten sie ihre Sünde wie auch deren Bestrafung erkennen. Unter dem Fluch des Erlösers abgestorben, verwelkt, verdorrt und bis an die Wurzel vertrocknet, stand der Feigenbaum da und zeigte den Zustand des jüdischen Volkes auf, wenn ihm die Gnade Gottes entzogen sein würde. Da Israel sich weigerte, die Gnadengaben mitzuteilen, würde es sie auch nicht länger empfangen. „Israel“, sagte der Herr, „du bringst dich ins Unglück.“ Hosea 13,9. DM.460.2 Teilen

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Diese Warnung gilt für alle Zeiten. Christi Fluch über den Feigenbaum, den Seine eigene Schöpfermacht geschaffen hatte, steht als Warnung über allen Gemeinden und allen Christen. Niemand kann im Gehorsam des göttlichen Gesetzes leben, ohne dem Nächsten zu dienen. Aber es gibt viele, die nicht nach dem Vorbild Christi einen barmherzigen, uneigennützigen Wandel führen. Manche, die sich selbst zu den vortrefflichsten Christen zählen, verstehen nicht, worin der wahre Dienst für Gott besteht. Sie planen und trachten, um sich selbst zu gefallen, und handeln nur im eigenen Interesse. Zeit ist für sie nur insoweit von Wert, wie sie diese ausschließlich für sich verwenden können. In ihrem täglichen Leben ist das ihr ganzes Streben. Sie kümmern sich nicht um ihren Nächsten, sondern allein um sich selbst. Gott erwählte sie, in einer Welt zu leben, die selbstlosen Dienst erfordert. Er bestimmte sie dazu, ihren Mitmenschen in jeder nur denkbaren Weise zu helfen. Doch ihr Ich ist so groß, dass sie nichts anderes mehr sehen. Menschlichkeit hat bei ihnen keinen Platz. Jene, die in dieser Weise nur für sich leben, gleichen dem Feigenbaum, der viel versprach, aber nichts brachte. Sie beachten zwar die äußeren Formen des Gottesdienstes, sind jedoch ohne Buße und ohne Glauben. Sie geben vor, das Gesetz Gottes zu ehren, aber ihnen fehlt der Glaubensgehorsam. Sie reden, aber sie handeln nicht. DM.461.1 Teilen

In Seinem Urteil über den Feigenbaum zeigt Jesus, wie verhasst in Seinen Augen diese eitle Täuschung ist. Er erklärt, dass der offenkundige Sünder weniger schuldig ist als jener, der angeblich Gott dient, aber zu Seiner Verherrlichung keine Frucht bringt. Dieses Gleichnis, das Christus vor Seinem Besuch in Jerusalem erzählte, steht in unmittelbarem Zusammenhang mit der Lehre, die Er durch die Verfluchung des unfruchtbaren Feigenbaums erteilt hatte. Dort bittet der Gärtner für den unfruchtbaren Baum: „Herr, lass ihn noch dies Jahr, bis ich um ihn grabe und bedünge; vielleicht bringt er doch noch Frucht; wenn aber nicht, so hau ihn ab.“ Lukas 13,8.9. Der unfruchtbare Baum sollte besonders gepflegt werden. Er sollte jeden möglichen Vorteil haben. Wenn er dennoch ohne Frucht bliebe, dann könnte ihn nichts vor der Vernichtung bewahren. Über das Ergebnis der Bemühungen des Gärtners wird im Gleichnis nichts ausgesagt. Es hing von den Menschen ab, zu denen Jesus diese Worte sprach. Sie waren es, die symbolisch für den unfruchtbaren Baum standen. In ihrer Hand lag die Entscheidung über ihr Schicksal. Alle erdenklichen Vorteile waren ihnen vom Himmel eingeräumt worden, aber sie profitierten nicht von diesen großen Segnungen. Christi Verfluchung des unfruchtbaren Feigenbaums zeigt, wohin das führte. Sie hatten ihren eigenen Untergang bestimmt. Mehr als 1000 Jahre lang hatte Israel die Gnade Gottes missbraucht und dadurch Seine Strafgerichte herausgefordert. Es hatte Gottes Warnungen unbeachtet gelassen und Seine Propheten getötet. Für diese Sünden der Vergangenheit nahmen die Menschen zurzeit Jesu die Verantwortung auf sich, indem sie den gleichen Weg verfolgten. Die Schuld jener Generation lag in der Verwerfung der ihr angebotenen Gnadengaben und Warnungsbotschaften. Die Fesseln, die das Volk jahrhundertelang geschmiedet hatte, legte es sich nun selbst an. DM.461.2 Teilen

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In jedem Zeitalter werden den Menschen Tage des Lichtes und der besonderen Gelegenheiten gegeben, eine Probezeit also, in der sie sich mit Gott versöhnen können. Aber es gibt eine Grenze für diese Gnade. Die göttliche Barmherzigkeit mag jahrelang mahnen, sie mag geringgeschätzt und verworfen werden, aber es kommt die Zeit, da sie zum letzten Mal bittet. Verhärtet sich das Herz so sehr, dass es aufhört, auf den Geist Gottes zu achten, dann bittet die wohlklingende, gewinnende Stimme des Erlösers nicht länger, und die Zurechtweisungen und Ermahnungen hören auf. Diese Zeit war nun für Jerusalem gekommen. Jesus weinte vor Schmerz über die verurteilte Stadt, aber Er konnte sie nicht mehr retten. Alle Möglichkeiten waren erschöpft. Indem Israel die Warnungen des Geistes Gottes verwarf, wies es das einzige Heilmittel zurück. Es gab keine andere Macht, durch welche die Stadt gerettet werden konnte. DM.462.1 Teilen

Das jüdische Volk war ein Sinnbild der Menschen aller Zeitalter, welche die Bitten der unendlichen Liebe Gottes verhöhnen. Die Tränen, die Jesus über Jerusalem weinte, flossen für die Sünden aller Zeiten. Alle, die die Ermahnungen und Warnungen des Geistes Gottes missachten, können in dem angekündigten Gericht über Jerusalem ihr eigenes Schicksal erkennen. DM.462.2 Teilen

Heute gibt es viele, die den gleichen Weg einschlagen wie einst die ungläubigen Juden. Sie haben die Offenbarungen der Macht Gottes gesehen. Der Heilige Geist hat zu ihren Herzen gesprochen; aber sie halten an ihrem Unglauben und an ihrem Widerstand fest. Gott sendet ihnen Warnungen und Zurechtweisungen; doch sie wollen ihr Unrecht nicht einsehen und verwerfen bewusst Seine Botschaft und Seine Boten. Gerade die Mittel, die Gott zu ihrer Errettung nutzen will, werden für sie zum Stein des Anstoßes. DM.462.3 Teilen

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Die Propheten Gottes wurden von den abtrünnigen Israeliten gehasst, weil sie deren verborgene Sünden ans Tageslicht brachten. Ahab betrachtete Elia als seinen Feind, weil der Prophet gewissenhaft die geheimen Sünden des Königs rügte. So stößt auch heute der Diener Christi, der die Sünde geißelt, auf Hohn und Widerstand. Die Wahrheit der Heiligen Schrift, die Religion Christi, muss gegen einen starken Strom sittlicher Unreinheit kämpfen. Das Vorurteil gegen das schlichte Bibelwort ist in den Herzen der Menschen noch größer als zurzeit Jesu. Der Heiland entsprach nicht den Erwartungen der Menschen, Sein Leben war ein einziger Vorwurf gegen ihre Sündhaftigkeit. Darum verwarfen sie Ihn. So stimmt auch die Wahrheit des Wortes Gottes nicht mit den Handlungen und natürlichen Neigungen der Menschen überein, und Tausende lehnen das Licht der Wahrheit ab. Von Satan beeinflusst, zweifeln die Menschen an Gottes Wort und folgen lieber ihrem unabhängigen Urteil. Sie wählen lieber die Dunkelheit als das Licht und bringen dadurch ihre Seele in Gefahr. Jene, die Christi Worte kritisieren, fanden immer neuen Anlass zur Kritik, bis sie sich von der Wahrheit und dem Leben abwandten. So ist es auch heute. Gott will nicht jeden Einwand, den das menschliche Herz gegen Seine Wahrheit vorbringt, aus dem Weg räumen. Wer die wertvollen Lichtstrahlen verwirft, die die Finsternis erhellen würden, der bleibt für immer im Dunkel des Unglaubens. Ihm ist die Wahrheit verborgen. Er wandelt im Finstern und erkennt nicht das vor ihm liegende Verderben. DM.463.1 Teilen

Christus überschaute von der Höhe des Ölbergs aus die Welt und alle Zeitalter. Seine Worte sind auf jeden anwendbar, der die Fürsprache der göttlichen Gnade geringschätzig behandelt. Heute wendet Er sich an die Verächter Seiner Liebe. „Wenn doch auch du erkenntest zu dieser Zeit, was zum Frieden dient!“ Lukas 19,42. Jesus vergießt bittere Tränen für dich, der du selbst nicht weinen kannst. Jene verhängnisvolle Herzenshärte, die die Pharisäer vernichtete, zeigt sich bereits in dir. Jeder göttliche Gnadenbeweis, jeder göttliche Lichtstrahl rührt entweder das Herz und macht es demütig oder bestärkt es in hoffnungsloser Verstocktheit. Christus sah voraus, dass die Einwohner Jerusalems verstockt und ohne Reue bleiben würden; dennoch hatten sie alle Schuld und trugen für alle Folgen der zurückgewiesenen Gnade allein die Verantwortung. So wird es jedem ergehen, der denselben Weg eigensinnig weiter wandert. Gott sagte: „Israel, du bringst dich ins Unglück“. Hosea 13,9. „Du, Erde, höre zu! Siehe, ich will Unheil über dies Volk bringen, ihren verdienten Lohn, weil sie auf meine Worte nicht achten und mein Gesetz verwerfen.“ Jeremia 6,19. DM.463.2 Teilen

Kapitel 65: Der Tempel wird wieder gereinigt
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Auf der Grundlage von Matthäus 21,12-16; Matthäus 21,23-46; Markus 11,15-19; Markus 11,27-33; Markus 2,1-12; Lukas 19,45-48; Lukas 20,1-19. DM.464 Teilen

Zu Beginn Seines Lehramtes hatte Christus alle jene aus dem Tempel .getrieben, die diesen durch ihre unheiligen Geschäfte so verunreinigt hatten. Sein strenges und auch machtvolles Auftreten hatte damals die listigen Händler mit Furcht erfüllt. Nun kam Er kurz vor Ende Seines Auftrags wieder in den Tempel und fand ihn genauso entweiht wie vor Jahren. Die Situation war sogar noch schlimmer als je zuvor. Der Vorhof des Tempels glich einem riesigen Viehmarkt, auf dem das Gebrüll der Tiere und der helle Klang der Münzen sich mit den zornigen Schreien der untereinander streitenden Händler vermischten. Dazwischen hörte man die Stimmen der amtierenden Priester. Sogar die Würdenträger des Tempeldienstes beteiligten sich an den Kauf- und Wechselgeschäften und ließen sich derart von ihrer Gewinnsucht beherrschen, dass sie in den Augen Gottes nicht besser waren als Diebe. DM.464.1 Teilen

Wie wenig erkannten die Priester und Obersten den Ernst und die Würde des Amtes, das sie zu erfüllen hatten! Zu jedem Passah- und Laubhüttenfest wurden Tausende von Tieren geschlachtet. Ihr Blut wurde von den Priestern aufgefangen und auf den Altar gegossen. Diese blutigen Opfer waren den Juden so geläufig geworden, dass sie fast die Tatsache vergaßen, dass nur ihre Sünde all dieses Blutvergießen notwendig machte. DM.464.2 Teilen

Sie beachteten nicht, dass darin das Blut des teuren Gottessohnes versinnbildet wurde, das für das Leben der Welt vergossen werden sollte, und dass die Menschen durch das Darbringen von Opfern auf einen Erlöser, der am Kreuz stürbe, hingewiesen werden sollten. DM.464.3 Teilen

Jesu Blick fiel auf die unschuldigen Opfertiere. Er sah, wie die Juden diese großen Zusammenkünfte zu einem Schauspiel des Blutvergießens und der Grausamkeit gemacht hatten. Statt demütige Reue über ihre Sünde zu empfinden, hatten sie die Zahl der Opfer vervielfacht, als ob Gott durch einen herzlosen Formendienst geehrt werden könnte. Die Priester und Obersten hatten nicht nur ihre Herzen durch Selbstsucht und Geiz verhärtet, sie hatten auch jene Sinnbilder, die auf das Lamm Gottes hinwiesen, als ein Mittel degradiert, um Gewinne zu erzielen. So war in den Augen des Volkes die Heiligkeit des Opferdienstes in hohem Maße herabgewürdigt worden. Jesus empörte sich darüber; Er wusste, dass Sein Blut, welches für die Sünden der Welt bald vergossen werden sollte, von den Obersten und Priestern ebenso wenig geachtet würde wie das Blut der Tiere, das sie unaufhörlich fließen ließen. Gegen diese Ausübung des Opferdienstes hatte Christus bereits durch die Propheten gesprochen. Samuel hatte gesagt: „Meinst du, dass der Herr Gefallen habe am Brandopfer und Schlachtopfer gleichwie am Gehorsam gegen die Stimme des Herrn? Siehe, Gehorsam ist besser als Opfer und Aufmerken besser als das Fett von Widdern.“ 1.Samuel 15,22. DM.464.4 Teilen

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Als Jesaja im Gesicht den Abfall der Juden sah, redete er sie als Oberste von Sodom und Gomorra an: „Hört des Herrn Wort, ihr Herren von Sodom! Nimm zu Ohren die Weisung unsres Gottes, du Volk von Gomorra! Was soll mir die Menge eurer Opfer?, spricht der Herr. Ich bin satt der Brandopfer von Widdern und des Fettes von Mastkälbern und habe kein Gefallen am Blut der Stiere, der Lämmer und Böcke. Wenn ihr kommt, zu erscheinen vor mir — wer fordert denn von euch, dass ihr meinen Vorhof zertretet? ... Wascht euch, reinigt euch, tut eure bösen Taten aus meinen Augen, lasst ab vom Bösen! Lernt Gutes tun, trachtet nach Recht, helft den Unterdrückten, schafft den Waisen Recht, führt der Witwen Sache!“ Jesaja 1,10-12.16.17. Christus, der diese Weissagungen durch Seinen Geist selbst gegeben hatte, wiederholte nun Seine Warnungen zum letzten Mal. In Erfüllung des prophetischen Wortes hatte das Volk Jesus zum König Israels ausgerufen. Er hatte ihre Huldigungen und das Amt des Königs angenommen. Als solcher musste Er handeln. Er wusste, dass Seine Bemühungen, die verderbte Priesterschaft zu reformieren, vergeblich sein würden, dennoch musste Er seine Aufgabe erfüllen, einem ungläubigen Volk den unantastbaren Beweis Seiner göttlichen Sendung zu geben. DM.465.1 Teilen

Noch einmal überschaute Sein durchdringender Blick den entheiligten Tempelhof. Aller Augen waren auf Ihn gerichtet. Priester und Oberste, Pharisäer und Heiden blickten mit Erstaunen und ehrfürchtiger Scheu auf den, der in der Majestät des himmlischen Königs vor ihnen stand. Das Göttliche brach durch das Menschliche hindurch und bekleidete Christus mit einer Würde und Herrlichkeit, wie Er sie nie zuvor offenbart hatte. Die Ihm am nächsten standen, zogen sich scheu vor Ihm zurück, soweit die Menge es gestattete. Nur von wenigen Jüngern umringt, stand der Heiland fast allein. Alle waren verstummt. Die tiefe Stille schien unerträglich. DM.465.2 Teilen

Da sprach der Herr mit einer Kraft, die das Volk wie mit einem gewaltigen Sturm durchschüttelte: „Es steht geschrieben: ‚Mein Haus soll ein Bethaus heißen‘; ihr aber macht eine Räuberhöhle daraus.“ Matthäus 21,13. Wie vom Ton einer Posaune, so hörte man seine Stimme. Der Unwille auf seinem Angesicht leuchtete wie verzehrendes Feuer. Und mit Autorität gebot er nun: „Tragt das weg!“ Johannes 2,16. DM.465.3 Teilen

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Drei Jahre zuvor hatten sich die Obersten des Tempels ihrer Flucht auf Jesu Befehl hin geschämt. Sie hatten sich seither über ihre Furcht und ihren unbedingten Gehorsam einem einzelnen, demütigen Menschen gegenüber gewundert. Sie hatten gespürt, dass sich unmöglich ein solch würdeloses Nachgeben wiederholen durfte. Dennoch waren sie jetzt erschrockener als damals, und in noch größerer Eile kamen sie Seiner Aufforderung nach. Niemand wagte es, Jesu Autorität in Frage zu stellen, sondern sie alle, Priester und Händler, flohen aus Seiner Gegenwart und trieben ihr Vieh vor sich her. DM.466.1 Teilen

Auf ihrer Flucht aus dem Tempel begegneten sie einer Gruppe von Menschen mit ihren Kranken, die nach dem „Großen Arzt“ fragten. Der Bericht der Fliehenden jedoch veranlasste etliche, umzukehren. Sie fürchteten sich, einem so Mächtigen gegenüberzutreten, dessen Blick allein Priester und Oberste aus Seiner Nähe vertrieben hatte. Viele aber drängten sich durch die hastende Menge, um den zu erreichen, der ihre einzige Hoffnung war. Sie gesellten sich zu denen, die im Tempel zurückgeblieben waren, als die meisten flohen. Wieder war der Tempelhof voller Kranker und Hilfsbedürftiger, und noch einmal diente ihnen ihr Heiland und Erlöser. DM.466.2 Teilen

Nach einiger Zeit wagten sich die Priester und Obersten wieder in den Tempel zurück. Ihre erste Bestürzung war verflogen, und nun wollten sie, wissen, was Jesus denn als Nächstes tun würde. Sie erwarteten, dass Er sich des Thrones Davids bemächtigte. Als sie nun in aller Stille in den Tempel zurückkehrten, vernahmen sie die Lobgesänge von Männern, Frauen und Kindern. Beim Eintritt blickten sie wie gebannt auf das wundersame Geschehen. Sie sahen die Kranken geheilt: Blinde wurden sehend, Taube hörend, und die Krüppel hüpften vor Freude. Noch lauter jubelten die Kinder, deren Gebrechen Jesus geheilt hatte. Er hielt sie in Seinen Armen und nahm ihre Küsse inniger Dankbarkeit an. Manche von ihnen waren an Seiner Brust eingeschlafen, während Er das Volk lehrte. DM.466.3 Teilen

Nun war erneut das Lob jubelnder Kinderstimmen zu hören. Sie riefen: „Hosianna!“ wie am Tag zuvor und schwenkten triumphierend Palmzweige vor dem Herrn. Der Tempel hallte von ihren Rufen wider: „Gelobt sei, der da kommt in dem Namen des Herrn!“ „Siehe, dein König kommt zu dir, ein Gerechter und ein Helfer.“ „Hosianna dem Sohn Davids!“ Matthäus 21,9; Sacharja 9,9. DM.466.4 Teilen

Der Klang dieser frohen, glücklichen Stimmen ärgerte die Obersten des Tempels, und sie fingen an, diesem Schauspiel ein Ende zu machen. Sie machten dem Volk klar, dass das Haus Gottes durch die Füße der Kinder und durch die lauten Freudenrufe entweiht werde. Als sie feststellten, dass ihre Worte bei dem Volk keinen Eindruck machten, wandten sie sich an den Herrn und „sprachen zu ihm: Hörst du auch, was diese sagen? Jesus antwortete ihnen: Ja! Habt ihr nie gelesen: ‚Aus dem Munde der Unmündigen und Säuglinge hast du dir Lob bereitet‘?“ Matthäus 21,16. Die Prophezeiung sagte aus, dass Christus zum König ausgerufen werden sollte, und dieses Wort musste erfüllt werden. Die Priester und Obersten Israels aber weigerten sich, Seine Herrlichkeit auszurufen, und Gott berief die Kinder zu Seinen Zeugen. Hätten sie geschwiegen, dann würden selbst die Säulen des Tempels die Ehre des Heilandes verkündigt haben. Die Pharisäer waren völlig ratlos und verunsichert. Einer, den sie nicht einschüchtern konnten, führte das Kommando. Jesus hatte Seine Stellung als Wächter des Tempels eingenommen. Nie zuvor hatte Er solche königliche Macht bewiesen, nie zuvor hatten Seine Worte und Werke solche Kraft bekundet. Jesus hatte wunderbare Werke schon in ganz Jerusalem getan, aber niemals in einer so feierlichen und eindrucksvollen Weise. In Gegenwart all derer, die Zeugen Seines bewunderungswürdigen Handelns geworden waren, wagten es die Priester und Obersten diesmal nicht, Ihm offene Feindschaft zu zeigen. Durch Seine Antworten wütend gemacht und verwirrt, waren sie unfähig, an diesem Tag Weiteres gegen den Herrn zu unternehmen. DM.466.5 Teilen

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Am nächsten Morgen beratschlagte der Hohe Rat erneut, welche Maßnahmen gegen Jesus ergriffen werden könnten. Drei Jahre zuvor hatten die Obersten ein Zeichen Seines Messiasamtes von Ihm gefordert. Seitdem hatte Er im ganzen Land mächtige Wunder gewirkt. Er hatte Kranke geheilt und auf wunderbare Weise Tausende gespeist. Er war auf den Wogen gewandelt und hatte dem tobenden Meer Ruhe geboten; Er hatte wiederholt in den Herzen der Menschen wie in einem offenen Buch gelesen, hatte Dämonen ausgetrieben und Tote auferweckt. Die Obersten besaßen also die Beweise für Seine göttliche Sendung. Der Hohe Rat beschloss nun, kein Zeichen Seiner göttlichen Autorität zu fordern, sondern zu versuchen, irgendein Zugeständnis oder eine Erklärung aus Ihm herauszulocken, aufgrund deren Er verurteilt werden könnte. DM.467.1 Teilen

Die Mitglieder des Hohen Rates begaben sich zum Tempel, wo Jesus lehrte, und sie fragten Ihn: „Aus welcher Vollmacht tust du das? Oder wer hat dir diese Vollmacht gegeben?“ Markus 11,28. Sie erwarteten von Ihm zu hören, dass Er solches alles aus göttlicher Macht tue. Einer solchen Behauptung wollten sie entgegentreten. Doch Jesus antwortete ihnen mit einer Gegenfrage, die scheinbar eine ganz andere Sache betraf, und Er machte Seine Erwiderung von ihrer Antwort auf Seine Gegenfrage abhängig. „Die Taufe des Johannes, war sie vom Himmel oder von Menschen? Antwortet mir!“ Markus 11,30. Die Priester erkannten jetzt, dass sie in große Verlegenheit geraten waren, aus der sie keine Spitzfindigkeit befreien konnte. Sagten sie, dass die Taufe des Johannes vom Himmel war, dann würde ihr Widerspruch deutlich; denn Christus würde sie fragen: Warum habt ihr dann nicht an ihn geglaubt? Johannes hatte von Jesus bekundet: „Siehe, das ist Gottes Lamm, das der Welt Sünde trägt!“ Johannes 1,29. Glaubten die Priester diesem Zeugnis des Täufers, wie konnten sie dann leugnen, dass Jesus der Messias sei? Sagten sie aber ihre wahre Meinung, dass das Lehramt des Täufers von Menschen sei, würden sie einen Sturm der Entrüstung gegen sich selbst heraufbeschworen haben; denn die Menschen glaubten, dass Johannes ein Prophet Gottes war. DM.467.2 Teilen

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Viele Zuhörer warteten gespannt auf die entscheidende Antwort. Sie wussten, dass die Priester bekannt hatten, die Sendung des Täufers anzuerkennen, und sie erwarteten jetzt ihr Eingeständnis, dass Johannes von Gott gesandt war. Nachdem die Priester sich untereinander besprochen hatten, beschlossen sie, sich keine Blöße zu geben. Scheinheilig erklärten sie ihre Unkenntnis: „Wir wissen‘s nicht.“ Da erwiderte Jesus: „So sage ich euch auch nicht, aus welcher Vollmacht ich das tue.“ Markus 11,33. DM.468.1 Teilen

Die Schriftgelehrten, Priester und Obersten waren zum Schweigen gebracht. Verwirrt und enttäuscht standen sie da mit gesenkten Augen und wagten nicht, weitere Fragen an den Herrn zu stellen. Durch ihre Feigheit und Unentschlossenheit hatten sie ihr Ansehen bei dem Volk, das dabeistand und sich über die Niederlage dieser stolzen, selbstgefälligen Männer amüsierte, in hohem Maße eingebüßt. DM.468.2 Teilen

Alle diese Worte und Taten Jesu waren von besonderer Bedeutung, und ihr Einfluss sollte nach Seiner Kreuzigung und Auferstehung immer mehr spürbar werden. Viele von denen, die begierig auf das Ergebnis der Befragung Jesu gewartet hatten, bekannten sich später zu Seiner Nachfolge, nachdem sie sich zum ersten Mal an jenem ereignisreichen Tag von Seinen Worten angezogen fühlten. Die Szene auf dem Tempelhof entschwand nie mehr ihrem Gedächtnis. Als Jesus mit dem Hohepriester sprach, wurde der Gegensatz zwischen ihnen immer deutlicher. Der stolze Würdenträger des Tempels war in edle Gewänder gekleidet, auf seinem Haupt trug er ein glänzendes Diadem, seine Haltung war majestätisch, sein Haar und sein wallender Bart leuchteten silberweiß — seine ganze Erscheinung flößte Ehrfurcht ein. Vor dieser erhabenen Persönlichkeit stand die Majestät des Himmels ohne jeden Schmuck und ohne jede Prachtentfaltung. Seine Kleidung trug noch die Spuren der Reise; Sein Angesicht war bleich und gezeichnet von innerem Kummer; dennoch standen Würde und Wohlwollen in Ihm geschrieben, die einen auffallenden Gegensatz zu dem stolzen, selbstbewussten und zornigen Gebaren des Hohepriesters bildeten. Viele von denen, die Zeugen der Worte und Werke Jesu im Tempel gewesen waren, nahmen ihn von da an als Gesandten Gottes in ihr Herz auf. Aber während sich die Teilnahme des Volkes immer mehr Ihm zuwandte, nahm der Hass der Priester zu. Die Klugheit, mit der Jesus den Fallen der Priester zu entkommen wusste, bezeugte erneut seine Göttlichkeit, goss aber andrerseits neues Öl auf die Wogen ihres Zorns. In Seinem Streitgespräch mit den Rabbinern war es keineswegs Jesu Absicht, Seine Widersacher öffentlich zu demütigen. Er freute sich nicht darüber, sie in die Enge getrieben zu sehen. Er hatte ihnen nur eine notwendige Lehre gegeben. Doch Seine Gegner fühlten sich dadurch herausgefordert, dass Er zuließ, dass sie sich in die Netze verstrickten, die sie für Ihn ausgebreitet hatten. Indem sie bekannten, über das Wesen der Taufe des Täufers nichts zu wissen, gaben sie Jesus Gelegenheit zu sprechen, und Er nutzte sie, um ihnen ihre wahre Lage zu zeigen und den vielen Warnungen an sie noch eine neue hinzuzufügen. DM.468.3 Teilen

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„Was meint ihr aber?“, fragte Jesus. „Es hatte ein Mann zwei Söhne und ging zu dem ersten und sprach: Mein Sohn, geh hin und arbeite heute im Weinberg. Er antwortete aber und sprach: Nein, ich will nicht. Danach reute es ihn und er ging hin. Und der Vater ging zum zweiten Sohn und sagte dasselbe. Der aber antwortete und sprach: Ja, Herr!, und ging nicht hin. Wer von den beiden hat des Vaters Willen getan?“ Matthäus 21,28-31. DM.469.1 Teilen

Mit dieser unerwarteten Frage entwaffnete Jesus Seine Zuhörer. Bis dahin hatten sie der Erzählung des Gleichnisses gut zugehört. Nun antworteten sie sofort: „Der erste.“ Matthäus 21,31. Da schaute sie Jesus durchdringend an und erwiderte ernst und würdevoll: „Wahrlich, ich sage euch: die Zöllner und Huren kommen eher ins Reich Gottes als ihr. Denn Johannes kam zu euch und lehrte euch den rechten Weg, und ihr glaubtet ihm nicht; aber die Zöllner und Huren glaubten ihm. Und obwohl ihr‘s saht, tatet ihr dennoch nicht Buße, sodass ihr ihm dann auch geglaubt hättet.“ Matthäus 21,31.32. DM.469.2 Teilen

Den Priestern und Obersten des Volkes blieb nichts anderes übrig, als Jesu Frage klar zu beantworten. Die Erwiderung, die Jesus erhielt, fiel also zugunsten des ersten Sohns aus. Dieser Sohn stellte die Zöllner dar, die von den Pharisäern verachtet und gehasst wurden. Die Zöllner waren tatsächlich durch und durch unsittlich und bezeugten durch ihr Leben, dass sie Übertreter des Gesetzes Gottes waren und sich dessen Forderungen widersetzten. Auch waren sie undankbar und gottlos, denn dem Auftrag, in des Herrn Weinberg an die Arbeit zu gehen, hatten sie eine verächtliche Abfuhr erteilt. Als dann aber Johannes auftrat, Buße und Taufe predigte, nahmen die Zöllner seine Botschaft an und wurden getauft. Der zweite Sohn dagegen stellte die führenden Persönlichkeiten der jüdischen Nation dar. Zwar hatten sich einige Pharisäer bekehrt und die Taufe von Johannes empfangen, aber die verantwortlichen Leiter wollten nicht zugeben, dass dieser von Gott gesandt sei. Seine Warnungen und Anklagen bewirkten keine Erneuerung bei ihnen. Sie „verachteten, was Gott ihnen zugedacht hatte, und ließen sich nicht von ihm taufen“. Lukas 7,30. Seine Botschaft lehnten sie ab. Als der zweite Sohn zur Arbeit aufgefordert wurde, stimmte er zu: „Ja, Herr!“ Trotzdem ging er nicht hin. Ebenso bekannten sich die Priester und Obersten zum Gehorsam, handelten aber wie Ungehorsame. Sie legten stolze Bekenntnisse ihrer Frömmigkeit ab und beriefen sich darauf, das Gesetz Gottes zu achten, heuchelten aber nur Gehorsam. Die Zöllner dagegen wurden von den Pharisäern als Ungläubige hingestellt und verflucht. Durch ihren Glauben und ihre Taten bewiesen sie jedoch, dass sie auf dem Weg zum Himmelreich einen Vorsprung vor jenen selbstgerechten Männern besaßen, die zwar eine große Erkenntnis vom himmlischen Königreich erhalten hatten, deren Handeln aber mit ihrer göttlichen Berufung nicht übereinstimmte. DM.469.3 Teilen

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Die Priester und Obersten wollten diese tiefgreifende Wahrheit nicht auf sich beziehen. So schwiegen sie zunächst in der Hoffnung, dass Jesus noch etwas sagen würde, was sie gegen Ihn selbst verwenden könnten. Doch wurde ihnen noch mehr zugemutet. DM.470.1 Teilen

„Hört ein anderes Gleichnis“, fuhr Jesus fort. „Es war ein gewisser Hausherr, der pflanzte einen Weinberg, zog einen Zaun darum, grub eine Kelter darin, baute einen Wachtturm, verpachtete ihn an Weingärtner und reiste außer Landes. Als nun die Zeit der Früchte nahte, sandte er seine Knechte zu den Weingärtnern, um seine Früchte in Empfang zu nehmen. Aber die Weingärtner ergriffen seine Knechte und schlugen den einen, den anderen töteten sie, den dritten steinigten sie. Da sandte er wieder andere Knechte, mehr als zuvor; und sie behandelten sie ebenso. Zuletzt sandte er seinen Sohn zu ihnen und sprach: Sie werden sich vor meinem Sohn scheuen! Als aber die Weingärtner den Sohn sahen, sprachen sie untereinander: Das ist der Erbe! Kommt, lasst uns ihn töten und sein Erbgut in Besitz nehmen! Und sie ergriffen ihn, stießen ihn zum Weinberg hinaus und töteten ihn. Wenn nun der Herr des Weinbergs kommt, was wird er mit diesen Weingärtnern tun?“ Matthäus 21,33-40. DM.470.2 Teilen

Jesus hatte sich an alle Leute gewandt, die bei Ihm waren, doch die Priester und Obersten antworteten gleich: „Er wird den Bösen ein böses Ende bereiten und seinen Weinberg andern Weingärtnern verpachten, die ihm die Früchte zur rechten Zeit geben.“ Matthäus 21,41. Die Bedeutung dieses Gleichnisses war zunächst von den Sprechern nicht erkannt worden. Nun aber stellten sie fest, dass sie sich ihr eigenes Urteil gesprochen hatten. In diesem Gleichnis steht der Weinbergbesitzer für Gott, der Weinberg für das jüdische Volk und der Zaun für das göttliche Gesetz, das ihr Schutzwall war; der Turm aber versinnbildete den Tempel. Der Weinbergbesitzer hatte alle Voraussetzungen für die Fruchtbarkeit des Weinbergs geschaffen. Er fragt: „Was sollte man noch mehr tun an meinem Weinberg, das ich nicht getan habe an ihm?“ Jesaja 5,4. So war Gottes unermüdliche Sorge für Israel dargestellt. DM.470.3 Teilen

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Wie die Weingärtner dem Herrn seinen rechtmäßigen Anteil an den Früchten des Weinbergs zurückzugeben hatten, so sollte Gottes Volk Ihn durch eine Lebensführung ehren, die Seinen Gnadengaben entsprach. Aber wie die Weingärtner die Knechte töteten, die der Herr zur Einholung der Frucht sandte, so hatten die Juden viele Propheten umgebracht, durch die Gott sie zur Umkehr bewegen wollte. Ein Bote nach dem andern war getötet worden. Bis dahin war die Bedeutung des Gleichnisses nicht fraglich, und das, was folgte, machte es womöglich noch klarer. In dem geliebten Sohn, den der Herr des Weinbergs schließlich zu seinen ungehorsamen Arbeitern schickte und den diese ergriffen und erschlugen, erhielten die Priester und Obersten ein klares Bild von Jesus und von dem, was Ihm bevorstand. Sie planten ja bereits, den zu vernichten, den der Vater als letzten Aufruf zu ihnen geschickt hatte. Die Vergeltung aber, die den unbarmherzigen Weingärtnern angedroht wurde, sollte den Untergang jener Menschen anzeigen, die Christus dem Tod ausliefern würden. DM.471.1 Teilen

Der Heiland schaute voll Mitleid auf sie, als Er weiter ausführte: „Habt ihr nie gelesen in der Schrift: ‚Der Stein, den die Bauleute verworfen haben, der ist zum Eckstein geworden. Vom Herrn ist das geschehen und ist ein Wunder vor unsren Augen‘? Darum sage ich euch: Das Reich Gottes wird von euch genommen und einem Volk gegeben werden, das seine Früchte bringt. Und wer auf diesen Stein fällt, der wird zerschellen; auf wen aber er fällt, den wird er zermalmen.“ Matthäus 21,42-44. Diese Prophezeiung hatten die Juden in ihren Synagogen oft wiederholt und auf den kommenden Messias bezogen. Christus war der „Eckstein“ der jüdischen Heilsordnung und des ganzen Erlösungsplanes. Jetzt verwarfen die jüdischen Baumeister, die Priester und Obersten Israels, dieses Fundament. Der Heiland lenkte ihre Aufmerksamkeit auf die Prophezeiungen, die ihnen ihre Gefahr aufzeigten. Mit allen Mitteln versuchte Er ihnen klarzumachen, welch verhängnisvolle Tat sie im Begriff standen zu begehen. DM.471.2 Teilen

Seine Worte dienten auch noch einem anderen Zweck. Mit der Frage: „Wenn nun der Herr des Weinbergs kommen wird, was wird er diesen Weingärtnern tun?“ wollte Christus die Pharisäer gerade zu der Antwort herausfordern, die sie dann auch prompt gaben. Sie sollten sich selbst ihr Urteil sprechen. Wenn Seine Warnungen sie nicht mehr zur Umkehr bewegen konnten, würden diese ihr Schicksal besiegeln. Christus wollte sie zu der Einsicht führen, dass sie ihren Untergang selbst herbeigeführt hatten. Er wollte ihnen klarmachen, dass Gott gerecht handelte, wenn er ihnen nun ihre nationalen Vorzüge entzöge, was schließlich nicht allein zur Zerstörung des Tempels und ihrer Stadt, sondern auch zur Zerstreuung des Volkes führen würde. DM.471.3 Teilen

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Die Zuhörer verstanden die Warnung. Trotz des Urteils, das sie über sich selbst gefällt hatten, waren die Priester und Obersten entschlossen, die Voraussage zu erfüllen, die mit den Worten formuliert war: „Das ist der Erbe; kommt, lasst uns ihn töten!“ Matthäus 21,38. Weiter heißt es: „Sie trachteten danach, ihn zu ergreifen; aber sie fürchteten sich vor dem Volk, denn es hielt ihn für einen Propheten“. Matthäus 21,46. DM.472.1 Teilen

Christus zitierte die Prophezeiung vom verstoßenen Eckstein und bezog sich dabei auf ein Ereignis, das sich in Israels Geschichte tatsächlich zugetragen hatte, und zwar beim Bau des ersten Tempels. Es hatte Bedeutung für das erste Kommen Christi und hätte auf die Juden besonders nachhaltig einwirken sollen. Doch auch wir können daraus lernen. Beim Bau des Salomonischen Tempels wurden die riesigen Steine für das Fundament und das Mauerwerk bereits im Steinbruch fertig zugehauen. Nachdem man sie zum Bauplatz brachte, durfte kein Werkzeug sie mehr bearbeiten. Sie mussten von den Arbeitern nur noch in die richtige Position gebracht werden. Zum Einsatz im Fundament war ein Stein von ungewöhnlicher Größe und Form herangeschafft worden; aber die Arbeiter konnten für diesen Stein keinen Platz finden und setzten ihn deshalb nicht ein. Da der riesige Stein ungenutzt im Wege lag, verursachte er den Arbeitern viel Verdruss. Lange blieb er als verschmähter Steinblock liegen. Doch dann gingen die Baumeister daran, die Eckfundamente zu legen. Dafür suchten sie lange nach einem Stein, der die erforderliche Größe und Stärke sowie die entsprechende Form hätte, um diesen Platz auszufüllen und das gewaltige Gewicht zu tragen, das später auf ihm ruhen sollte. Würden sie für diesen entscheidenden Platz den falschen Stein wählen, wäre die Sicherheit des ganzen späteren Bauwerks gefährdet. So mussten sie einen Stein finden, der den Einflüssen von Sonne, Frost und Sturm trotzen konnte. Verschiedentlich hatten sie schon Steine ausgesucht, doch waren sie alle unter der ungeheuren Belastung zerbrochen. Andere wiederum hielten den plötzlichen Veränderungen der Witterung nicht stand. DM.472.2 Teilen

Schließlich wurde man auf den Stein aufmerksam, der so lange übersehen worden war. Er war Luft, Sonne und Wind ausgesetzt gewesen, ohne dass sich an ihm auch nur der kleinste Riss gezeigt hätte. Die Bauleute untersuchten ihn sehr sorgfältig; mit einer Ausnahme hatte er alle Prüfungen bestanden. Wenn er auch starken Druck aushalten würde, wollte man ihn als Eckstein für das Gebäude verwenden. Der Versuch wurde unternommen, der Stein für gut befunden, an die für ihn bestimmte Stelle geschafft und eingefügt. Und er passte tatsächlich ganz genau in die Lücke. DM.472.3 Teilen

Dem Propheten Jesaja wurde in prophetischer Schau gezeigt, dass dieser Stein ein Sinnbild für Christus sei. Er schrieb: „Erachtet nichts außer dem Herrn, dem Allmächtigen, als heilig. Ihn sollt ihr fürchten und vor ihm sollt ihr Ehrfurcht haben. So wird er ein Heiligtum sein. Aber für beide Häuser Israels wird er zum Stein des Anstoßes und ein Stolperstein, über den man fällt. Er wird den Bewohnern Jerusalems zum Fangnetz und zur Falle werden. Viele von ihnen werden stolpern und fallen und zerschmettert werden; sie werden verstrickt und gefangen.“ Jesaja 8,13-15 (NL). Im Rahmen einer Vision auf das erste Kommen Christi wurde dem Propheten gezeigt, dass Christus derartige Belastungen und Prüfungen aushalten müsse, die bereits im Umgang mit dem Eckstein am Salomonischen Tempel versinnbildet waren: „Deshalb spricht Gott, der Herr: Seht her! Ich lege einen Stein in Jerusalem. Er ist ein kostbarer Eckstein, der fest verankert ist. Wer glaubt, bleibt bestehen.“ Jesaja 28,16 (NL). DM.472.4 Teilen

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In seiner unendlichen Weisheit wählte sich Gott den Grundstein aus und legte ihn selbst. Er nannte ihn als „fest verankert“. Mag auch die ganze Welt mit allen ihren Lasten und Kümmernissen auf ihm liegen — dieser Stein kann alles tragen. Mit größter Zuversicht kann man auf ihm bauen. Christus ist ein „erprobter Stein“ und Er enttäuscht keinen, der Ihm vertraut. Er hat jede Prüfung bestanden und die Last der Sünden Adams und dessen Nachkommen getragen. Dabei hat Er in jeder Hinsicht die Mächte des Bösen überwunden und die Lasten auf sich genommen, die Ihm alle reuigen Sünder auferlegt haben. In Christus findet das schuldbeladene Herz Trost; denn Er ist das sichere Fundament. Wer sich auf Ihn verlässt, darf sich völlig sicher fühlen. DM.473.1 Teilen

Nach Jesajas Prophezeiung ist Christus sowohl ein sicheres Fundament als auch ein Stein des Anstoßes. Der Apostel Petrus zeigt, vom Heiligen Geist geleitet, in seinem Brief klar auf, für wen Christus ein fest verankerter Stein und für wen Er ein Stein des Anstoßes ist: „Denn ihr habt erfahren, wie freundlich der Herr ist. Kommt zu Christus, dem lebendigen Eckstein im Tempel Gottes. Er wurde von den Menschen zwar verworfen; doch in den Augen Gottes, der ihn erwählt hat, ist er kostbar. Und nun lasst euch von Gott als lebendige Steine in seinen geistlichen Tempel einbauen. Ihr sollt Gottes heilige Priester sein und ihm geistliche Opfer bringen, die er durch eure Gemeinschaft mit Jesus Christus annimmt! In der Schrift heißt es: ‚Ich lege einen Stein in Jerusalem, einen auserwählten, kostbaren Eckstein, und wer an ihn glaubt, wird nicht umkommen.‘ Für euch, die ihr glaubt, ist er kostbar, doch für die, die ihn ablehnen, gilt: ‚Der Stein, den die Bauleute verworfen haben, ist zum Eckstein geworden.‘ Und in der Schrift heißt es auch: ‚Er ist der Stein, über den Menschen stolpern, der Fels, der sie zu Fall bringt.‘ Sie stolpern, weil sie nicht auf Gottes Wort hören und es nicht befolgen, und dazu sind sie auch bestimmt.“ 1.Petrus 2,3-8 (NL). DM.473.2 Teilen

Christus ist ein sicheres Fundament für alle, die an Ihn glauben. Diese sind diejenigen, die auf den Felsen fallen und zerbrochen werden. Diese Darstellung steht für Unterwerfung unter Christus und den Glauben an Ihn. Auf den Felsen zu fallen und zerbrochen zu werden bedeutet, unsere Selbstgerechtigkeit aufzugeben, sich bescheiden wie ein Kind an Christus zu wenden, eigene Übertretungen zu bereuen und Jesu vergebender Liebe zu vertrauen. Wir bauen im Glauben und Gehorsam auf Christus, unseren Grundstein. DM.473.3 Teilen

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Dieser lebendige Stein ist für Juden und Heiden da. Er bildet die einzige Grundlage, auf der wir sicher bauen können, ist Er doch breit genug für alle und zugleich so kräftig, dass Er die Last der ganzen Welt tragen kann. Ja, durch ihre Berührung mit Christus, dem lebendigen Stein, werden alle, die auf Ihn als Grundstein bauen, selbst zu lebendigen Steinen. Viele Menschen haben sich durch eigene Bemühungen behauen, poliert und verschönert. Trotzdem können sie keine „lebendigen Steine“ werden, weil sie nicht mit Christus verbunden sind. Ohne diese Verbindung kann niemand gerettet werden. Wenn Christus nicht in uns lebt, können wir den Stürmen der Versuchung nicht standhalten. Unser ewiges Heil hängt also davon ab, ob wir auf dem sicheren Fundament bauen. Zahllose Menschen bauen heutzutage auf einem Grund, der nicht erprobt ist. Wenn Wolkenbrüche niedergehen, Stürme toben und Fluten hereinbrechen, wird ihr Haus zusammenbrechen, ist es doch nicht auf dem ewigen Felsen, dem auserwählten Eckstein Jesus Christus, gegründet. Denjenigen, die „in ihrem Ungehorsam am Wort Gottes Anstoß nehmen“, wird Christus zu einem „Stein des Anstoßes“. Doch „der Stein, den die Bauleute verworfen haben, ist zum Eckstein geworden“. 1.Petrus 2,7 (NL). Dem als wertlos verworfenen Stein gleicht das irdische Leben von Christus, das Ihm Verachtung und Schande eintrug. „Er war der Allerverachtetste und Unwerteste, voller Schmerzen und Krankheit. Er war so verachtet, dass man das Angesicht vor ihm verbarg; darum haben wir ihn für nichts geachtet.“ Jesaja 53,3. Aber schon bald sollte Er verherrlicht werden. DM.474.1 Teilen

Durch Seine Auferstehung von den Toten sollte Er „Sohn Gottes in Kraft“ (Römer 1,4) genannt werden. Und bei Seinem zweiten Kommen würde Er als Herr des Himmels und der Erde offenbart werden. Auch jene, die drauf und dran waren, Ihn zu kreuzigen, müssen dann Seine Majestät anerkennen. Dadurch wird der verworfene Stein vor dem gesamten Weltall zum wertvollen Eckstein. Auf wen dieser Stein „fällt, den wird er zermalmen“. Matthäus 21,42-44. DM.474.2 Teilen

Alle, die Christus ablehnten, sollten bald miterleben, wie ihre Stadt und ihr Volk vernichtet würden. Ihre Herrlichkeit sollte zerbrochen und wie Staub im Wind verstreut werden. Und wodurch wurden die Juden verstreut? Durch den „Felsen“. Er würde ihnen Sicherheit gewährt haben, wenn sie auf Ihn gebaut hätten. Weil sie aber die Güte Gottes verachteten, Seine Gerechtigkeit mit Füßen traten und Seine Gnade gering schätzten, machten sie sich selbst zu Feinden Gottes. Nun wirkte all das, was zu ihrem Heil bestimmt war, zu ihrer Vernichtung. Was Gott für ihr Leben vorgesehen hatte, diente ihnen zum Tode. So zog die Kreuzigung Christi durch die Juden die Zerstörung Jerusalems nach sich. Das auf Golgatha vergossene Blut lastete auf ihnen wie ein Gewicht, das sie in dieser und auch in der künftigen Welt in den Untergang zog. So müssen dann am Jüngsten Tag alle, die Gottes Gnade verworfen haben, das Gericht Gottes über sich ergehen lassen. Dann wird Christus, ihr „Stein des Anstoßes“, ihnen als ein Berg der Vergeltung erscheinen. Die Herrlichkeit Seines Angesichts wird für die Gerechten Leben bedeuten, über die Bösen aber ein verzehrendes Feuer bringen. Der Sünder wird vertilgt werden, weil er die Liebe zurückgewiesen und die Gnade missachtet hat. DM.474.3 Teilen

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In vielen Gleichnissen und wiederholten Warnungen wies Jesus die Juden darauf hin, welche Folgen es für sie hätte, wenn sie den Sohn Gottes ablehnten. Seine Worte galten aber zugleich den Menschen aller Zeitalter, die Ihn nicht als Erlöser annehmen wollen. Jene Warnung gilt für alle. Der entweihte Tempel, der ungehorsame Sohn, die bösen Weingärtner und die hochmütigen Baumeister haben ihr Gegenstück in der Erfahrung eines jeden Sünders. Solange er nicht bereut, wird auch ihn das in diesen Gleichnissen vorausgesagte Schicksal treffen. DM.475.1 Teilen

Kapitel 66: Der Kampf
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Auf der Grundlage von Matthäus 22,15-46; Markus 12,13-40; Lukas 20,20-47. DM.476 Teilen

Die Priester und Obersten hatten schweigend den deutlichen Tadel Christi vernommen. Seine Anklagen vermochten sie nicht zu widerlegen. Doch nun waren sie noch entschlossener, Ihn zu fangen. „Deshalb suchten sie nach einer günstigen Gelegenheit und beauftragten Männer, die sich als ehrliche Zuhörer ausgaben, um Jesus auszuhorchen. Sie brauchten einen Vorwand, unter dem sie Jesus durch den römischen Statthalter verhaften lassen konnten“. Lukas 20,20 (NL). Sie schickten nicht die alten Pharisäer vor, denen Jesus so oft begegnet war, sondern junge Leute, die feurig und eifrig waren und von denen sie dachten, Jesus kenne sie noch nicht. Sie wurden von einigen der Männer des Herodes begleitet. Sie sollten Christus zuhören, damit sie gegen Ihn während des Gerichtsverfahrens aussagen könnten. Pharisäer und Herodianer waren eigentlich bitterte Feinde, jetzt aber verband sie die Feindschaft gegen Christus. DM.476.1 Teilen

Die Pharisäer hatten sich ständig gegen die erzwungenen Tributleistungen an die Römer aufgelehnt. Sie meinten, solche Zahlungen verstießen gegen das Gesetz Gottes. Doch jetzt sahen sie eine Gelegenheit, Christus eine Falle zu stellen. Die Spione kamen deshalb zu Ihm und fragten, scheinbar aufrichtig, als ob sie nur wissen wollten, was ihre Pflicht sei: „Meister, wir wissen, dass du aufrichtig redest und lehrst und achtest nicht das Ansehen der Menschen, sondern du lehrst den Weg Gottes recht. Ist‘s recht, dass wir dem Kaiser Steuer zahlen, oder nicht?“ Lukas 20,21.22. DM.476.2 Teilen

Die Worte: „Wir wissen, dass du aufrichtig redest und lehrst“ wären ein wunderbares Zugeständnis gewesen, hätte man sie aufrichtig gemeint. Sie sollten aber nur der Täuschung dienen. Ihr Zeugnis war jedoch trotzdem wahr. Die Pharisäer wussten sehr gut, dass Christus aufrichtig und recht lehrte, und sie werden einst nach diesem Zeugnis gerichtet werden. DM.476.3 Teilen

Die Männer, die Jesus diese Frage stellten, meinten, dass sie ihre Absicht ausreichend getarnt hätten. Jesus aber las in ihren Herzen wie in einem Buch und erkannte ihre Heuchelei: „Was versucht ihr mich?“, entgegnete Er und gab ihnen dadurch ein Zeichen, nach dem sie nicht gefragt hatten, nämlich dass Er ihre geheimen Absichten durchschaute. Noch verwirrter waren sie, als Er hinzufügte: „Bringt mir einen Silbergroschen!“ Sie taten es, und Er fragte sie: „Wessen Bild und Aufschrift ist das? Sie sprachen zu Ihm: Des Kaisers.“ Da wies Jesus auf die Inschrift der Münze und antwortete: „So gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist!“ Markus 12,15-17. DM.476.4 Teilen

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Die Spione hatten erwartet, dass Jesus ihre Frage so oder so direkt beantworten werde. Hätte Er gesagt: Es verstößt gegen das Gesetz, dem Kaiser Steuern zu zahlen, dann hätten sie das den römischen Behörden berichtet, und Er wäre verhaftet worden mit der Begründung, versucht zu haben, einen Aufstand anzuzetteln. Falls Er es aber als legal hingestellt hätte, den Römern Steuern zu zahlen, dann hätten sie Ihn vor dem Volk als Gegner des Gesetzes Gottes anklagen können. Jetzt waren sie verwirrt und besiegt. Ihre Pläne waren durchkreuzt. Die zusammenfassende Art, mit der ihre Frage erledigt worden war, machte weitere Entgegnungen überflüssig. DM.477.1 Teilen

Jesu Antwort war kein Ausweichmanöver, sondern Er beantwortete aufrichtig ihre Frage. Er hielt die römische Münze in der Hand, die Name und Abbild des Cäsaren trug, und erklärte, dass die Juden, die unter dem Schutz der römischen Macht lebten, auch die von ihnen geforderten Abgaben an sie entrichten sollten, sofern sie dadurch nicht in Konflikt mit einer höheren Pflicht gerieten. Doch während sie als friedliche Bürger die Landesgesetze beachteten, sollten sie Gott stets in erster Linie treu sein. DM.477.2 Teilen

Des Heilands Worte: „gebt ... Gott, was Gottes ist“ enthielten eine strenge Zurechtweisung der jüdischen Intriganten. Hätten sie gewissenhaft ihre Verpflichtungen gegenüber Gott erfüllt, so wären sie als Nation nicht zerbrochen und nicht einer fremden Macht unterstellt worden. Dann hätte kein römisches Banner über Jerusalem geweht, keine römische Wache an den Toren Jerusalems gestanden und kein römischer Statthalter in seinen Mauern geherrscht. Das jüdische Volk zahlte die Strafe für seinen Abfall von Gott. DM.477.3 Teilen

Als die Pharisäer Christi Antwort hörten, „verwunderten sie sich, ließen von ihm ab und gingen davon“. Matthäus 22,22. Er hatte ihre Heuchelei und Anmaßung getadelt und zugleich ein wichtiges Prinzip aufgestellt, das deutlich die Pflichten des Menschen gegenüber der bürgerlichen Regierung und gegenüber Gott umreißt. Für viele war dadurch ein unangenehmes Problem gelöst worden. Sie haben später an dem richtigen Grundsatz festgehalten. Obwohl viele unzufrieden von Jesus fortgingen, sahen sie doch ein, dass das Prinzip, das der Frage der Pharisäer zugrunde lag, eindeutig herausgestellt worden war, und sie bewunderten Christi weitblickenden Scharfsinn. Kaum war den Pharisäern der Mund gestopft, als auch schon die Sadduzäer mit ihren hinterlistigen Fragen an Ihn herantraten. Beide Parteien standen einander in bitterer Feindschaft gegenüber. Die Pharisäer hielten sich streng an die Überlieferung. Sie erfüllten gewissenhaft die äußeren Zeremonien und unterzogen sich eifrig den rituellen Waschungen, Fastenzeiten und langatmigen Gebeten. Auch beim Almosengeben taten sie sich hervor. Christus aber erklärte, dass sie das Gesetz Gottes seines Sinnes aufhoben, weil sie Menschengebote als verbindlich erklärten. Als Gruppe waren sie Frömmler und Heuchler, dennoch gab es unter ihnen Menschen mit echter Frömmigkeit, die Christi Lehre annahmen und Seine Jünger wurden. Die Sadduzäer lehnten die Traditionen der Pharisäer ab. Sie behaupteten zwar, den größeren Teil der Heiligen Schriften als Glaubensgrundlage und als Regel ihres Handelns anzuerkennen, in Wirklichkeit aber waren sie Skeptiker und Materialisten. DM.477.4 Teilen

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Die Sadduzäer leugneten die Existenz von Engeln, die Auferstehung der Toten und die Lehre von einem künftigen Leben. In all diesen Lehrmeinungen unterschieden sie sich von den Pharisäern. Zwischen beiden Gruppen war die Auferstehung ein besonderer Streitpunkt. Die Pharisäer glaubten fest an die Auferstehung, doch fühlten sie sich während der Streitgespräche, was ihre Ansichten über das zukünftige Geschehen betraf, völlig aus dem Gleichgewicht gebracht. Der Tod war für sie ein unerklärbares Geheimnis. Ihre Unfähigkeit, die Behauptungen der Sadduzäer zu widerlegen, gab Anlass zu dauerndem Ärger. Die Diskussionen zwischen beiden Gruppen arteten gewöhnlich in heftige Streitereien aus und verbreiterten die Kluft zwischen ihnen nur noch mehr. Zahlenmäßig waren die Sadduzäer ihren Widersachern weit unterlegen, und sie hatten bei dem einfachen Volk auch nicht so viel Rückhalt. Viele waren aber wohlhabend und verfügten über den Einfluss, der mit Wohlstand verbunden war. Die meisten Priester kamen aus ihren Reihen, und auch die Hohepriester wurden oft aus ihrer Mitte gewählt. Jedoch geschah das mit der ausdrücklichen Bedingung, ihre skeptischen Auffassungen nicht in der Öffentlichkeit zu vertreten. Wegen der zahlenmäßigen Stärke und Beliebtheit der Pharisäer mussten sich die Sadduzäer, sofern sie ein priesterliches Amt bekleideten, nach außen hin den Lehren der Pharisäer anpassen. Die bloße Tatsache jedoch, dass sie zu einem solchen Amt wählbar waren, ließ ihre Irrtümer an Einfluss gewinnen. DM.478.1 Teilen

Die Sadduzäer verwarfen Jesu Lehren, war Er doch von einem Geist beseelt, dem sie ablehnend gegenüberstanden. Was Er über Gott und das zukünftige Leben verkündete, widersprach ihren Theorien. Sie glaubten, dass Gott als einziges Wesen den Menschen überlegen sei, dennoch behaupteten sie, dass eine alles beherrschende Vorsehung und göttliche Vorausschau den Menschen seines freien Willens berauben und ihn auf die Stufe eines Sklaven erniedrigen würde. Sie waren davon überzeugt, dass Gott den Menschen zwar geschaffen, ihn dann aber sich selbst überlassen habe, so dass kein höherer Einfluss auf ihn einwirke. Der Mensch sei frei, so behaupteten sie. Er könne sich selbst beherrschen und die Ereignisse der Welt selbst formen. Sein Schicksal läge allein in seinen eigenen Händen. Sie leugneten, dass der Geist Gottes durch menschliches Tun oder auf natürlichem Wege wirke. Allerdings könne der Mensch ihrer Überzeugung nach durch seine eigenen natürlichen Kräfte veredelt und erleuchtet werden. Durch die Befolgung strenger und harter Forderungen könne das Leben geläutert werden. DM.478.2 Teilen

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Ihre Vorstellungen von Gott formten ihren Charakter. Da sich Gott ihrer Meinung nach nicht für den Menschen interessierte, kümmerten sie sich auch nicht umeinander. Ihnen mangelte es an Zusammenhalt. Da sie den Einfluss des Heiligen Geistes auf das Tun der Menschen leugneten, fehlte ihrem Leben auch Seine Kraft. Wie alle anderen Juden rühmten sie sich als Kinder Abrahams ihres Geburtsrechts und ihrer strengen Gesetzestreue. Der wahre Geist des Gesetzes sowie der Glaube und die Güte Abrahams fehlten ihnen jedoch. Ihre natürliche Zuneigung galt nur einem engen Kreis. Sie meinten, allen Menschen sei es möglich, sich die Bequemlichkeiten und Annehmlichkeiten des Lebens zu beschaffen. Von den Bedürfnissen und Leiden anderer wurden ihre Herzen nicht berührt. Sie lebten nur für sich selbst. DM.479.1 Teilen

Durch Wort und Tat bekundete Christus eine göttliche Macht, die übernatürliche Ergebnisse hervorbrachte. Er zeugte von einem künftigen Leben, das über das gegenwärtige hinausgeht, sowie von Gott, dem Vater aller Menschenkinder, der stets über deren wahre Interessen wacht. Er offenbarte, wie die göttliche Kraft durch Güte und Mitgefühl wirkt, und rügte dadurch das selbstsüchtige Elitebewusstsein der Sadduzäer. Er lehrte, dass Gott durch den Heiligen Geist auf die Menschenherzen zu deren zeitlichem und ewigem Wohl einwirke, und Er zeigte auch auf, wie falsch es sei, auf menschliche Kraft zu vertrauen, wenn es gilt, den Charakter umzugestalten. Dies aber könne nur durch Gottes Geist geschehen. DM.479.2 Teilen

Die Sadduzäer waren entschlossen, diese Lehre in Verruf zu bringen. Wenn sie auch nicht Jesu Verurteilung herbeiführen konnten, so waren sie doch davon überzeugt, dass sie Ihm durch bewussten Streit Schande bringen könnten. Ausgerechnet die Frage der Auferstehung suchten sie sich dafür aus. Stimmte Er ihnen zu, dann würde Er die Pharisäer dadurch umso mehr kränken. Wäre Er dagegen anderer Meinung als sie, dann wollten sie Seine Lehre lächerlich machen. Die Sadduzäer meinten, dass der Leib, falls er im unsterblichen wie im sterblichen Zustand aus den gleichen Stoffteilen bestehe, nach der Auferstehung wieder Fleisch und Blut haben müsse und in der Ewigkeit das auf Erden unterbrochene Leben sich fortsetzen werde. In diesem Fall müssten die irdischen Beziehungen weiterbestehen, so folgerten sie; Mann und Frau kämen wieder zusammen, Heiraten würden vollzogen werden, und alles ginge so weiter wie vor dem Tod. Die Fehler und Leidenschaften dieses irdischen Lebens würden demnach im künftigen Leben verewigt werden. Mit Seiner Antwort auf ihre Frage hob Jesus den Schleier vom künftigen Leben. Er sagte: „In der Auferstehung werden sie weder heiraten noch sich heiraten lassen, sondern sie sind wie Engel im Himmel.“ Matthäus 22,30. Dadurch zeigte Er auf, dass der Glaube der Sadduzäer falsch war. Ihre Voraussetzungen waren falsch. „Ihr irrt“, erklärte Er, „weil ihr weder die Schrift kennt noch die Kraft Gottes.“ Matthäus 22,29. Er beschuldigte sie nicht wie die Pharisäer der Heuchelei, sondern des fehlerhaften Glaubens. DM.479.3 Teilen

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Die Sadduzäer bildeten sich ein, dass sie sich strengstens an die heiligen Schriften hielten. Jesus aber wies ihnen nach, dass sie deren wahre Bedeutung nicht erfasst hatten. Erst durch die Erleuchtung des Heiligen Geistes gelangt das Herz zu wahrer Erkenntnis. Ihre mangelnde Schriftkenntnis und ihre Unwissenheit hinsichtlich der Kraft Gottes bezeichnete Er als die Ursache ihrer Glaubensverwirrung und ihrer geistigen Dunkelheit. Sie versuchten, die Geheimnisse Gottes in den Rahmen ihres begrenzten Verstandes zu pressen. Christus rief sie dazu auf, sich den heiligen Wahrheiten zu öffnen, die ihr Verständnis erweitern und stärken würden. Tausende beharren im Unglauben, weil ihr begrenzter Verstand die Geheimnisse Gottes nicht begreifen kann. Sie können die wunderbare Entfaltung göttlicher Macht in Seinen Fügungen nicht erklären. Deshalb lehnen sie die Beweise für diese Macht ab und schreiben sie natürlichen Quellen zu, die sie noch weniger verstehen. Der einzige Schlüssel zu den Geheimnissen, die uns umgeben, besteht darin, in ihnen die Gegenwart und Kraft Gottes zu erkennen. Die Menschen müssen Gott als den Schöpfer des Alls erkennen, der alles anordnet und ausführt. Sie benötigen eine umfassendere Kenntnis seines Wesens und des Geheimnisses seines Wirkens. DM.480.1 Teilen

Christus erklärte Seinen Zuhörern, dass die Heilige Schrift, an die sie behaupteten zu glauben, für sie sinnlos wäre, wenn es keine Auferstehung der Toten gäbe. Er sagte: „Habt ihr denn nicht gelesen von der Auferstehung der Toten, was euch gesagt ist von Gott, der da spricht: ‚Ich in der Gott Abrahams und der Gott Isaaks und der Gott Jakobs‘? Gott ist nicht ein Gott der Toten, sondern der Lebenden.“ Matthäus 22,31.32. Gott rechnet mit Dingen, die noch gar nicht vorhanden sind. Er sieht am Anfang schon das Ende und kennt das Ergebnis Seines Handelns, als ob es bereits getan wäre. Die seligen Toten von Adam bis zum letzten Heiligen, der einmal sterben wird, werden die Stimme des Sohnes Gottes hören und aus ihren Gräbern zu unsterblichem Leben hervorkommen. Gott wird ihr Gott sein und sie werden Sein Volk sein. Zwischen den auferstandenen Heiligen und Gott werden enge, innige Bande bestehen. Diesen Zustand, den Er in Seinem Ausblick vorhersagt, sieht Er vor sich, als wäre Er bereits Wirklichkeit. Für Gott sind die Toten lebendig. Durch Christi Worte wurde den Sadduzäern der Mund gestopft. Sie konnten Ihm nicht antworten. Er hatte nichts gesagt, was auch nur im Geringsten zu Seiner Verurteilung beitragen konnte. Seine Gegner hatten außer der Verachtung des Volkes nichts gewonnen. DM.480.2 Teilen

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Die Pharisäer jedoch meinten noch immer, Ihn zu einem Ausspruch verleiten zu können, der sich gegen Ihn verwenden ließe. Sie veranlassten einen gelehrten Schriftkundigen, Jesus zu fragen, welches von den zehn Geboten des Gesetzes die größte Bedeutung habe. DM.481.1 Teilen

Die Pharisäer hatten die ersten vier Gebote, die auf die Pflichten des Menschen gegenüber seinem Schöpfer hinweisen, als weit bedeutsamer hingestellt als die anderen sechs, die das Verhalten des Menschen zu seinem Mitmenschen regeln. Dadurch fehlte es ihnen an praktischer Frömmigkeit. Jesus hatte dem Volk gezeigt, woran es ihm so sehr mangelte. Dabei hatte Er auf die Notwendigkeit der guten Werke hingewiesen und erklärt, dass man den Baum an seiner Frucht erkenne. Aus diesem Grund war Er angeklagt worden, die letzten sechs Gebote über die ersten vier zu stellen. DM.481.2 Teilen

Der Rechtsgelehrte näherte sich Jesus mit einer direkten Frage: „Meister, welches ist das höchste Gebot im Gesetz?“ Matthäus 22,36. Christi Antwort kam prompt und überzeugend: „Das höchste Gebot ist das: ‚Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der Herr allein, und du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüt und von allen deinen Kräften.‘“ Markus 12,29.30. „Das zweite ist dem ersten gleich, sagte Christus; denn es ergibt sich daraus: ‚Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst‘. Es ist kein anderes Gebot größer als diese.“ Markus 12,31. „In diesen zwei Geboten hängt das ganze Gesetz und die Propheten.“ Matthäus 22,40. DM.481.3 Teilen

Die ersten vier der Zehn Gebote werden in der einen großen Verordnung zusammengefasst: „Du sollt den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen.“ 5.Mose 6,5. Die letzten sechs sind in der anderen Verordnung enthalten: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“ 3.Mose 19,18. Diese beiden Gebote sind ein Ausdruck der Liebe als Prinzip. Weder kann das erste gehalten und das zweite gebrochen, noch das zweite beachtet und das erste übertreten werden. Räumen wir Gott den Ihm zustehenden Platz in unserem Herzen ein, dann erhält auch unser Mitmensch den Platz, der ihm zukommt — wir werden ihn so lieben, wie wir uns selbst lieben. Nur wenn wir Gott über alles lieben, vermögen wir auch unseren Nächsten rückhaltlos zu lieben. DM.481.4 Teilen

Weil alle Gebote in der Liebe zu Gott und zum Nächsten zusammengefasst sind, folgt daraus, dass nicht ein Gebot übertreten werden kann, ohne diesen Grundsatz zu verletzten. So lehrte Jesus Seine Zuhörer, dass das Gesetz Gottes nicht aus vielen Einzelvorschriften besteht, von denen einige wichtiger seien als die anderen, die man daher ungestraft übertreten könne. Unser Herr stellt die ersten vier und die letzten sechs Gebote als ein göttliches Ganzes dar und lehrt, dass sich die Liebe zu Gott nur durch den Gehorsam gegenüber allen Seinen Geboten zeigt. Der Schriftgelehrte, der Jesus gefragt hatte, kannte sich im Gesetz gut aus und war daher über Jesu Worte verwundert. Er hatte bei Jesus keine so tiefe und gründliche Schriftkenntnis erwartet. Nun aber hatte er ein besseres Verständnis der Prinzipien gewonnen, die den heiligen Geboten zugrunde liegen. Vor den anwesenden Priestern und Obersten erkannte er ehrlich an, dass Christus die richtige Auslegung des Gesetzes gegeben hatte, und sagte: „Meister, du hast wahrlich recht geredet. Er ist nur einer und ist kein anderer außer ihm; und ihn lieben von ganzem Herzen, von ganzem Gemüt und von allen Kräften, und seinen Nächsten lieben wie sich selbst, das ist mehr als alle Brandopfer und Schlachtopfer.“ Markus 12,32.33. DM.481.5 Teilen

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Die Weisheit der Antwort Jesu hatte den Schriftgelehrten überzeugt. Er wusste, dass die Religion der Juden mehr aus äußerlichen Zeremonien als aus innerlicher Frömmigkeit bestand. Er hatte begriffen, dass rein zeremonielle Opfer wertlos seien und dass es nutzlos sei, ungläubigen Herzens Blut zur Tilgung der Sünden zu vergießen. Liebe zu Gott und Gehorsam Ihm gegenüber sowie selbstlose Hinwendung zum Mitmenschen hielt er für wertvoller als alle rituellen Handlungen. Die Bereitschaft dieses Mannes, anzuerkennen, dass Christus richtig dachte, wie auch seine entschiedene und prompte Antwort vor allem Volk bewiesen eine Gesinnung, die sich von der der Priester und Obersten deutlich abhob. Jesu Herz erschloss sich voller Mitgefühl diesem ehrlichen Schriftgelehrten, der es gewagt hatte, die finsteren Blicke der Priester und die Drohungen der Obersten zu missachten und seine Herzensüberzeugung zu äußern. „Als Jesus aber sah, dass er verständig antwortete, sprach er zu ihm: Du bist nicht fern vom Reich Gottes.“ Markus 12,34. DM.482.1 Teilen

Der Schriftgelehrte war dem Reich Gottes nahe, weil er erkannt hatte, dass Taten der Gerechtigkeit Gott angenehmer sind als Brandopfer und Schlachtopfer. Aber noch vermochte er nicht die Göttlichkeit Christi zu erfassen und durch den Glauben an Ihn die Kraft zu erhalten, die Werke der Gerechtigkeit auch zu vollbringen. Die rituellen Handlungen blieben wertlos, solange sie nicht durch den lebendigen Glauben mit Christus verbunden waren. Selbst das Sittengesetz verfehlt seinen Zweck, wenn es nicht in seiner Beziehung zum Heiland verstanden wird. Christus hatte mehrmals darauf hingewiesen, dass das Gesetz Seines Vaters einen tieferen Gehalt habe als bloßes Erteilen gebietender Befehle. Im Gesetz ist das gleiche Prinzip verkörpert wie im Evangelium. DM.482.2 Teilen

Das Gesetz weist den Menschen auf seine Pflichten hin und zeigt ihm seine Schuld. Dann muss er auf Christus schauen, wenn er Vergebung erlangen und Kraft erhalten will, das zu tun, was das Gesetz gebietet. Die Pharisäer hatten sich ganz dicht um Jesus geschart, als Er die Frage des Schriftgelehrten beantwortete. Jetzt wandte er sich ihnen zu und fragte sie: „Was denkt ihr von dem Christus? Wessen Sohn ist er?“ Matthäus 22,42. Diese Frage sollte ihren Glauben an den Messias prüfen und zeigen, ob sie Ihn nur für einen Menschen oder für den Sohn Gottes hielten. Ein ganzer Chor antwortete darauf: „Davids!“ Matthäus 22,42. Das war der Titel, den die Propheten dem Messias verliehen hatten. Als Jesus durch Seine machtvollen Wunder Seine Göttlichkeit offenbarte, als Er Kranke heilte und Tote auferweckte, hatte sich das Volk gefragt: „Ist das nicht Davids Sohn?“ Die kanaanäische Frau, der blinde Bartimäus und viele andere hatten ihn um Hilfe angefleht: „Ach Herr, du Sohn Davids, erbarme dich meiner!“ Matthäus 15,22. Bei Seinem Einzug in Jerusalem wurde Er mit den Freudenrufen begrüßt: „Hosianna dem Sohn Davids! Gelobt sei, der da kommt in dem Namen des Herrn!“ Matthäus 21,9. DM.482.3 Teilen

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Die kleinen Kinder im Tempel ließen an jenem Tage diese frohen Rufe noch einmal widerhallen. Viele aber, die Jesus als Sohn Davids bezeichneten, erkannten Seine Göttlichkeit nicht. Sie begriffen nicht, dass Davids Sohn zugleich der Sohn Gottes war. Als Antwort auf die Aussage der Pharisäer, dass Christus der Sohn Davids sei, fragte Jesus: „Wie kann ihn dann David durch den Geist Herr nennen, wenn er sagt: ‚Der Herr sprach zu meinem Herrn: Setze dich zu meiner Rechten, bis ich deine Feinde unter deine Füße lege‘? Wenn nun David ihn Herr nennt, wie ist er dann sein Sohn? Und niemand konnte ihm ein Wort antworten, auch wagte niemand von dem Tage an, ihn hinfort zu fragen.“ Matthäus 22,43-46; Psalm 110,1. DM.483.1 Teilen

Kapitel 67: „Weh euch Schriftgelehrte und Pharisäer“
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Auf der Grundlage von Matthäus 23; Markus 12,41-44; Lukas 20,45-47; Lukas 21,1-4. DM.484 Teilen

Es war der letzte Tag, den Jesus im Tempel lehrte. Die Aufmerksamkeit der.riesigen Menschenmenge, die in Jerusalem versammelt war, hatte sich Ihm zugewandt. Das Volk füllte die Höfe des Tempels und beobachtete den Streit, der gerade ablief. Begierig fingen sie jedes Wort auf, das aus dem Mund Jesu kam. Nie zuvor hatte man eine solche Szene erlebt. Da stand der junge Galiläer, ohne irdischen Glanz und ohne königliche Würde, umgeben von den Priestern in ihren reichen Gewändern, den Obersten in ihrer Amtskleidung mit den Zeichen ihrer Würde, die ihre erhöhte Stellung erkennen ließen, und den Schriftgelehrten mit den Pergamentrollen in den Händen, auf die sie häufig verwiesen. Gelassen, mit königlicher Erhabenheit stand Jesus vor ihnen. Ausgestattet mit der Vollmacht des Himmels, blickte Er unentwegt auf Seine Widersacher, die Seine Lehren verworfen und verachtet hatten und Ihm nach dem Leben trachteten. Sie hatten Ihn oft angegriffen, doch ihre Anschläge, Ihn zu fangen und zu verurteilen, waren gescheitert. DM.484.1 Teilen

Einer Herausforderung nach der anderen war Er entgegengetreten, indem Er die reine, leuchtende Wahrheit im Gegensatz zur geistlichen Unwissenheit und den Irrtümern der Priester und Pharisäer darstellte. Er hatte diesen Führern des Volkes ihren wahren Zustand vor Augen geführt und auch die sicher folgende Vergeltung, wenn sie in ihren bösen Taten beharrten. Sie waren gewissenhaft gewarnt worden. Jetzt blieb Ihm etwas anderes zu tun, ein anderes Ziel galt es noch zu erreichen. DM.484.2 Teilen

Das Interesse des Volkes an Christus und Seiner Tätigkeit hatte ständig zugenommen. Die Juden waren von Seinen Lehren begeistert, gleichzeitig fühlten sie sich auch sehr verwirrt. Bisher hatten sie die Priester und Rabbiner wegen ihrer Weisheit und augenscheinlichen Frömmigkeit geachtet und ihrer Autorität in allen religiösen Belangen stets absolut vertraut. Doch jetzt sahen sie diese Männer bei dem Versuch, Jesus herabzuwürdigen, Ihn, einen Lehrer, dessen Tugend und Erkenntnis aus jedem Angriff um so glänzender hervorleuchteten. Sie sahen auf das Mienenspiel der Priester und Ältesten und erblickten dort Unbehagen und Verwirrung. Sie wunderten sich, dass die Obersten nicht an Jesus glauben wollten, da Seine Lehren doch so klar und einfach waren. Sie selbst wussten nicht, was sie tun sollten. Sehr gespannt beobachteten sie die Reaktion jener, deren Rat sie stets gefolgt waren. DM.484.3 Teilen

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Mit den Gleichnissen bezweckte Jesus zweierlei: Er wollte die Obersten warnen und gleichzeitig das Volk belehren, das dazu bereit war. Dazu war es nötig, noch deutlicher zu sprechen. Ihre Ehrfurcht vor der Tradition und ihren blinden Glauben an eine verderbte Priesterschaft hatte das Volk versklavt. Diese Ketten musste Christus zerbrechen. Das wahre Wesen der Priester, Obersten und Pharisäer musste vollständig enthüllt werden. DM.485.1 Teilen

„Auf dem Stuhl des Mose“, sagte Christus, „sitzen die Schriftgelehrten und Pharisäer. Alles nun, was sie euch sagen, das tut und haltet; aber nach ihren Werken sollt ihr nicht handeln; denn sie sagen‘s zwar, tun‘s aber nicht.“ Matthäus 23,2.3. Die Schriftgelehrten und Pharisäer behaupteten, wie Mose mit göttlicher Vollmacht ausgerüstet zu sein. Sie maßten sich an, seinen Platz als Ausleger des Gesetzes und Richter des Volkes einzunehmen. Als solche forderten sie vom Volk größte Ehrerbietung und völligen Gehorsam. Der Herr gebot seinen Zuhörern, alles zu tun, was die Rabbiner in Übereinstimmung mit dem Gesetz lehrten, niemals aber ihrem Beispiel zu folgen, da diese selbst nicht nach ihrer Lehre handelten. DM.485.2 Teilen

Sie verkündigten vieles, was den heiligen Schriften entgegen war. Jesus sagte: „Sie binden schwere und unerträgliche Bürden und legen sie den Menschen auf die Schultern; aber sie selbst wollen keinen Finger dafür krümmen.“ Matthäus 23,4. Die Pharisäer hatten eine Fülle von Vorschriften eingeführt, die sich lediglich auf Traditionen gründeten und die persönliche Freiheit auf eine unvernünftige Art beschränkten. Bestimmte Teile des Gesetzes erklärten sie so, dass dem Volk Pflichten auferlegt wurden, die sie selbst heimlich ignorierten und von denen sie behaupteten, entbunden zu sein, wenn es ihren Absichten nutzte. DM.485.3 Teilen

Ständig waren sie bemüht, ihre Frömmigkeit zur Schau zu stellen. Nichts war ihnen zu heilig, um nicht diesem Zweck zu dienen. Im Hinblick auf die Beachtung seiner Gebote hatte Gott zu Mose gesagt: „Du sollst sie binden zum Zeichen auf deine Hand, und sie sollen dir ein Merkzeichen zwischen deinen Augen sein.“ 5.Mose 6,8. In diesen Worten liegt eine tiefe Bedeutung. Der ganze Mensch wird zum Guten hin verändert, wenn er über das Wort Gottes nachdenkt und es befolgt. Seine Hände werden durch rechtschaffene und barmherzige Taten die Grundzüge des göttlichen Gesetzes öffentlich besiegeln. Sie werden weder durch Bestechung noch durch irgendetwas anderes, das verderblich und betrügerisch ist, verunreinigt werden. Stattdessen werden sie Werke der Liebe und des Mitgefühls tun. Die Augen, die auf ein edles Ziel gerichtet sind, werden klar und wahr blicken. Die Gesichtszüge, der Blick, werden den makellosen Charakter eines Menschen widerspiegeln, der das Wort Gottes liebt und ehrt. Aber an den Juden in den Tagen Christi konnte man dies alles nicht feststellen. Die Mose erteilte Weisung wurde dahingehend ausgelegt, dass die Gebote der Schrift buchstäblich am Leib getragen werden sollten. Zu diesem Zweck schrieb man sie auf Pergamentstreifen, die man in auffälliger Weise um Kopf und Handgelenke band. Dadurch konnte das Gesetz Gottes jedoch keinen nachhaltigeren Einfluss auf Geist und Herz ausüben, denn diese Pergamente wurden lediglich als eine Art Abzeichen getragen, nur um Aufsehen zu erregen. Sie sollten den Träger mit einem Hauch von Weihe umgeben und die Ehrfurcht der Leute herausfordern. Solcher eitlen Täuschung versetzte Jesus mit den folgenden Worten einen schweren Schlag: „Alle ihre Werke aber tun sie, damit sie von den Leuten gesehen werden. Sie machen ihre Gebetsriemen breit und die Quasten an ihren Kleidern groß. Sie sitzen gern obenan bei Tisch und in den Synagogen und haben‘s gerne, dass sie auf dem Markt gegrüßt und von den Leuten Rabbi genannt werden. Aber ihr sollt euch nicht Rabbi nennen lassen; denn einer ist euer Meister; ihr aber seid alle Brüder. Und ihr sollt niemanden unter euch Vater nennen auf Erden; denn einer ist euer Vater, der im Himmel ist. Und ihr sollt euch nicht Lehrer nennen lassen; denn einer ist euer Lehrer, Christus.“ Matthäus 23,5-10. DM.485.4 Teilen

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Mit diesen deutlichen Worten brandmarkte der Heiland das selbstsüchtige, immer auf Macht und Ansehen bedachte Streben, das sich scheinbar demütig gab, tatsächlich aber voll Geiz und Neid war. Wenn zum Beispiel Leute zu einem Fest eingeladen wurden, setzten sich die Gäste gemäß ihrer sozialen Stellung. Wem der ehrenvollste Platz eingeräumt wurde, dem erwies man erhöhte Aufmerksamkeit und besonderes Wohlwollen. Die Pharisäer waren stets besorgt, sich derartige Ehrungen zu sichern. Dieses Verhalten tadelte Jesus. DM.486.1 Teilen

Er verurteilte ebenso den Stolz, der sich in der Vorliebe für die Anrede „Rabbi“ oder „Meister“ äußerte. Solch ein Titel, so sagte Er, komme Menschen nicht zu, sondern nur Christus. Priester, Schriftgelehrte und Oberste, Ausleger und Treuhänder des Gesetzes — sie alle seien Brüder, Kinder eines Vaters. Jesus verlangte von den Leuten nachdrücklich, dass sie keinem Menschen einen Ehrentitel verleihen sollten, der andeuten könnte, sein Träger dürfe ihr Gewissen oder ihren Glauben kontrollieren. Würde Christus heute auf Erden leben, umgeben von jenen, die den Titel „Ehrwürden“ oder „Hochwürden“ tragen, dann wiederholte Er bestimmt das Wort: „Ihr sollt euch nicht Lehrer nennen lassen; denn einer ist euer Lehrer, Christus.“ Matthäus 23,10. Die Heilige Schrift sagt über Gott: „Heilig und hehr ist sein Name.“ Psalm 111,9. Auf welchen Menschen trifft solch ein Titel zu? DM.486.2 Teilen

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Wie wenig offenbaren Menschen doch von der Weisheit und Gerechtigkeit, die dafür erforderlich wären! Und wie viele von denen, die diesen Titel annehmen, stellen den Namen und das Wesen Gottes falsch dar! Ja, wie oft verbergen sich unter dem reich geschmückten Äußeren eines hohen und heiligen Amtes weltlicher Ehrgeiz, Gewalttat und niedrigste Sünden! DM.487.1 Teilen

Der Heiland fuhr fort: „Der Größte unter euch soll euer Diener sein. Denn wer sich selbst erhöht, der wird erniedrigt; und wer sich selbst erniedrigt, der wird erhöht.“ Matthäus 23,11.12. Christus lehrte immer wieder, dass wahre Größe an sittlichen Maßstäben gemessen werden muss. In der Beurteilung des Himmels besteht charakterliche Größe darin, zum Besten der Mitmenschen zu leben und Taten der Liebe und Barmherzigkeit zu vollbringen. Christus, der König der Herrlichkeit, war selbst ein Diener des gefallenen Menschen. „Weh euch, Schriftgelehrte und Pharisäer, ihr Heuchler, die ihr das Himmelreich zuschließt vor den Menschen! Ihr geht nicht hinein, und die hinein wollen, lasst ihr nicht hineingehen.“ Matthäus 23,13. Durch die falsche Auslegung der Heiligen Schriften verblendeten die Priester und Schriftgelehrten die Sinne derer, die sonst die Erkenntnis über das Reich Gottes empfangen hätten sowie jenes innere, göttliche Leben, das zur wahren Heiligkeit unbedingt notwendig ist. DM.487.2 Teilen

„Weh euch, Schriftgelehrte und Pharisäer, ihr Heuchler, die ihr der Witwen Häuser fresst und zum Schein lange Gebete verrichtet! Darum werdet ihr ein umso härteres Urteil empfangen.“ Matthäus 23,14. Die Pharisäer hatten großen Einfluss auf das Volk und nutzten das für ihre Vorteile und eigenen Interessen. Sie gewannen das Vertrauen frommer Witwen und stellten es diesen als eine Pflicht dar, ihr Eigentum für religiöse Zwecke zu opfern. Verfügten sie dann über das Vermögen dieser Frauen, nutzten die listigen Ränkeschmiede es für sich. Um ihren Betrug zu vertuschen, sprachen sie öffentlich lange Gebete und trugen eine betonte Frömmigkeit zur Schau. Diese Heuchelei würde ihnen, wie Jesus sagte, eine um so schwerere Verurteilung einbringen. Derselbe Tadel gilt auch vielen in unseren Tagen, die ihre Frömmigkeit zur Schau stellen. Ihr Leben ist von Selbstsucht und Habgier verunreinigt. Trotzdem überdecken sie alles mit dem Gewand scheinbarer Reinheit und können so eine Zeitlang ihre Mitmenschen täuschen. Doch Gott können sie nicht hinters Licht führen. Er kennt jede im Herzen verborgene Absicht und wird jeden Menschen nach seinen Taten richten. Schonungslos verurteilte Jesus alle Missbräuche, ohne dabei die Verpflichtungen dem Gesetz gegenüber zu verringern. DM.487.3 Teilen

Er tadelte die Selbstsucht, die der Witwen Gaben erpresste und falsch verwendete, gleichzeitig lobte Er die Witwe, die ihre Gaben in die Schatzkammer Gottes brachte. Der Missbrauch der Opfergaben vermochte dem Geber den Segen Gottes nicht zu rauben. DM.487.4 Teilen

488

Der Heiland stand im Vorhof in der Nähe des Gotteskastens und beobachtete, wie die Gläubigen ihre Gaben brachten. Viele der wohlhabenden brachten große Beträge, die sie auffällig in den Kasten legten. Der Herr sah sie traurig an, sagte jedoch nichts zu ihrem großzügigen Opfer. Als aber eine arme Witwe sich zögernd näherte, als fürchte sie, beobachtet zu werden, erhellte sich Sein Angesicht. Als die Reichen und Hochmütigen vorüber eilten, um ihre Gaben in den Kasten zu legen, schreckte sie zurück, als ob es großen Mut kostete, sich weiter heranzuwagen. Dennoch verlangte es sie, für die Sache, die sie liebte, ebenfalls etwas zu geben, sei es auch noch so wenig. Die Frau schaute auf die Münzen in ihrer Hand. Es war unbedeutend im Vergleich zu den Gaben der anderen, doch es war alles, was sie besaß. Sie wartete auf eine günstige Gelegenheit, warf rasch ihre zwei Scherflein in den Kasten und ging schnell davon. Dabei begegnete sie dem Blick Jesu, der sehr ernst auf ihr ruhte. DM.488.1 Teilen

Jesus rief Seine Jünger zu sich und lenkte ihre Aufmerksamkeit auf die Armut der Witwe. Dann sprach Er die lobenden Worte: „Wahrlich, ich sage euch: Diese arme Witwe hat mehr in den Gotteskasten gelegt als alle, die etwas eingelegt haben.“ Markus 12,43. Freudentränen standen bei diesen Worten in den Augen der armen Frau. Sie fühlte, dass ihre Tat verstanden und gewürdigt wurde. Viele hätten ihr geraten, ihre kleine Gabe für sich zu behalten, da sie in den Händen der wohlgenährten Priester unter den vielen reichen Gaben, die in die Schatzkammer gebracht wurden, nichts bedeutete. Aber Jesus verstand ihr Motiv. Sie glaubte, dass der Tempeldienst von Gott eingesetzt war, und sie war eifrig bestrebt, alles ihr Mögliche zu tun, um ihn zu unterstützen. Weil sie tat, was sie konnte, wurde ihr Handeln für alle Zeit ein Denkmal zu ihrem Gedächtnis. Sie hatte ihr Herz sprechen lassen. Ihre Gabe wurde nicht nach dem Wert der Münze beurteilt, sondern vielmehr nach der Liebe zu Gott und der Anteilnahme an Seinem Werk, die sie zu jener Gabe veranlasst hatte. DM.488.2 Teilen

Jesus sagte von der armen Witwe, dass sie „mehr als alle, die etwas eingelegt haben“ (Markus 12,43), in den Gotteskasten gelegt habe. Die Reichen hatten von ihrem Überfluss gegeben, viele sogar mit dem einzigen Ziel, von anderen gesehen und geehrt zu werden. Ihre große Gabe hatte weder ihrer Bequemlichkeit noch ihrem Überfluss geschadet. Es war für sie kein wirkliches Opfer, und ihre Gabe hielt keinen Vergleich aus mit dem Scherflein der Witwe. Das Motiv ist es, das für unsere Handlungen maßgebend ist. Es bestimmt ihren Wert oder Unwert. Nicht die großen Dinge, die jedes Auge sieht und jede Zunge lobt, nennt Gott die köstlichsten, sondern es sind die kleinen, freudig erfüllten Pflichten, die geringen, unauffällige Gaben, die menschlichen Augen wertlos erscheinen mögen, die Gott oft am höchsten bewertet. Ein Herz voll Glauben und Liebe bedeutet dem Herrn mehr als die kostbarste Gabe. Die arme Witwe gab mit dem Wenigen, das sie brachte, „alles, was sie zum Leben hatte“. Markus 12,44. Sie verzichtete auf ihre Speise, um jene zwei Scherflein der Sache beizusteuern, die sie liebte. Und sie tat es im Glauben, darauf vertrauend, dass der himmlische Vater sie in ihrer Armut nicht übersehen werde. Dieser selbstlose Geist und dieser kindliche Glaube fanden das Lob des Heilandes. DM.488.3 Teilen

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Es gibt viele Arme, die Gott gern ihre Dankbarkeit für Seine Gnade und Wahrheit zum Ausdruck bringen wollen. Mit ihren wohlhabenderen Brüdern vereinen sie sich in dem Wunsch, das Werk Gottes zu unterstützen. Diese Menschenseelen sollten nicht abgewiesen werden. Lasst sie ihre Scherflein in der Bank des Himmels anlegen. Werden sie aus einem liebevollen, gotterfüllten Herzen gegeben, dann werden diese scheinbaren Kleinigkeiten zu geheiligten, unschätzbaren Opfergaben, die Gott wohlgefällig sind und die er segnet. DM.489.1 Teilen

Als Jesus von der Witwe sagte, dass sie „mehr als sie alle eingelegt“ (Lukas 21,3) habe, waren Seine Worte doppelt wahr. Nicht nur der Beweggrund hatte das Opfer aufgewertet, sondern auch die Wirkung der Gabe. Die zwei Scherflein, die einen Heller ausmachten, brachten eine viel größere Summe in den Gotteskasten als alle Beiträge der reichen Juden. Die Wirkung jener kleinen Gabe ist wie ein Strom gewesen, der, klein im Anfang, immer breiter und tiefer wurde, je länger er durch die Zeitalter dahin floss. Auf vielerlei Weise hat das Beispiel der selbstlosen Witwe zur Unterstützung der Armen und zur Ausbreitung des Evangeliums beigetragen und seine Wirkung und Rückwirkung auf Tausende Herzen in allen Ländern zu allen Zeiten gehabt. Sie hat Reiche und Arme beeinflusst, und deren Opfer haben den Wert ihrer Gabe anwachsen lassen. DM.489.2 Teilen

Der Segen Gottes, der auf dem Scherflein der Witwe ruhte, hat die kleine Gabe zu einer reichen Quelle gemacht. So ist es mit jeder Gabe, die gegeben wird, und mit jeder Tat, die mit dem aufrichtigen Verlangen erfolgt, die Ehre Gottes zu vermehren, denn sie entsprechen den Absichten des Allmächtigen, und ihre segensreichen Folgen kann kein Mensch ermessen. DM.489.3 Teilen

Mit folgenden Worten setzte der Herr Seine Anklagen gegen die Schriftgelehrten und Pharisäer fort: „Weh euch, ihr verblendeten Führer, die ihr sagt: Wenn einer schwört bei dem Tempel, das gilt nicht; wenn aber einer schwört bei dem Gold des Tempels, der ist gebunden. Ihr Narren und Blinden! Was ist mehr: das Gold oder der Tempel, der das Gold heilig macht? Oder: Wenn einer schwört bei dem Altar, das gilt nicht; wenn aber einer schwört bei dem Opfer, das darauf liegt, der ist gebunden. Ihr Blinden! Was ist mehr: das Opfer oder der Altar, der das Opfer heilig macht?“ Matthäus 23,16-19. Die Priester legten Gottes Forderungen nach ihren eigenen falschen und engen Begriffen aus. So maßten sie sich an, spitzfindige Unterschiede bezüglich der jeweiligen Höhe der Schuld bei verschiedenen Sünden aufzustellen. Dabei gingen sie über einige Sünden DM.489 Teilen

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