Portrait von Ellen White
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Kapitel 63: Dein König komme!
Kapitel 63: Dein König komme!
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Auf der Grundlage von Matthäus 21,1-11; Markus 11,1-10; Lukas 19,29-44; Johannes 12,12-19. DM.450 Teilen

„Juble laut, Tochter Zion, jauchze, Tochter Jerusalem! Siehe, dein König kommt zu dir: Gerecht und siegreich ist er, demütig und auf einem Esel reitend, und zwar auf einem Fohlen, einem Jungen der Eselin.“ Sacharja 9,9 (EB). DM.450.1 Teilen

So beschrieb der Prophet Sacharja schon 500 Jahre vor der Geburt Jesu das Kommen des Messias zu seinem Volk. Diese Weissagung sollte sich nun erfüllen. Er, der so lange die königlichen Ehren verweigert hatte, zog nun als der verheißene Erbe von Davids Thron in Jerusalem ein. DM.450.2 Teilen

Am ersten Tag der Woche zog Christus in die Stadt ein. Die Volksmenge, die sich in Bethanien um den Herrn gesammelt hatte, begleitete Ihn, um Zeuge Seines Empfangs in Jerusalem zu sein. Viele Menschen waren auf dem Weg zur Hauptstadt, um das Passahfest zu feiern, und diese schlossen sich denen an, die um Jesus waren. Die ganze Schöpfung schien sich zu freuen. Die Bäume prangten in hellem Grün, und die Blüten versprengten ihren Duft. Frohes Leben überall, wohin man schaute. Die Hoffnung auf das neue Reich war wieder erwacht. DM.450.3 Teilen

Jesus wollte in die Stadt reiten und sandte zwei Jünger voraus, Ihm eine Eselin und ihr Fohlen zu holen. Bei Seiner Geburt war der Heiland auf die Gastfreundschaft Fremder angewiesen gewesen, denn die Krippe, in der Er lag, war ein geborgter Ruheort. Auch jetzt war Er, obwohl das Vieh auf den zahllosen Hügeln Ihm gehörte, wieder von der Güte Fremder abhängig, um ein Tier zu bekommen, auf dem Er als König in Jerusalem einziehen konnte. Wieder offenbarte sich Seine Gottheit, selbst in den genauen Anweisungen, die Er Seinen Jüngern für ihren Auftrag gab. Wie geweissagt, wurde die Bitte: „Der Herr braucht sie“ (Matthäus 21,3) bereitwillig gewährt. Jesus wählte dazu ein Tier aus, auf dem noch niemand gesessen hatte. Die Jünger legten ganz begeistert Kleider auf das Tier und setzten ihren Herrn darauf. Bis jetzt war Jesus stets zu Fuß gereist, und die Jünger hatten sich zuerst gewundert, dass ihr Meister jetzt reiten wollte. Aber Hoffnung erfüllte ihre Herzen bei dem freudigen Gedanken, dass Er im Begriff sei, in die Hauptstadt einzuziehen, um sich zum König zu erheben und Seine königliche Macht auszuüben. Während sie ihren Auftrag ausführten, teilten sie den Freunden Jesu ihre glühenden Hoffnungen mit. Die Aufregung verbreitete sich und steigerte die Erwartungen der Menge unermesslich. DM.450.4 Teilen

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Jesus folgte dem jüdischen Brauch, der beim Einzug eines Königs üblich war. Wie einst die Könige Israels auf einem Esel ritten, so auch Jesus, und es war vorausgesagt worden, dass der Messias auf diese Weise in Sein Reich kommen werde. Kaum saß Er auf dem Fohlen, als lautes Jubelgeschrei die Luft zerriss. Die Menge begrüßte Ihn als Messias, ihren König. Jesus nahm jetzt die Huldigung an, die Er vorher niemals gestattet hatte, und die Jünger sahen darin den Beweis, dass ihre frohen Hoffnungen, ihren Herrn auf dem Thron zu sehen, verwirklicht würden. Die Volksmenge war überzeugt, dass die Stunde ihrer Befreiung gekommen sei. Sie sah im Geist die römischen Heere aus der Stadt getrieben und Israel wieder als unabhängige Nation. Alle waren froh und aufgeregt. Sie wetteiferten miteinander, Jesus zu huldigen. Äußerliche Pracht und königlichen Prunk konnten sie zwar nicht entfalten, aber sie gaben ihm die Verehrung ihrer frohen Herzen. Sie konnten Ihm keine kostbaren Geschenke überreichen, aber sie breiteten ihre Obergewänder wie einen Teppich auf Seinem Pfad aus und streuten Olivenblätter und Palmzweige vor Ihm her. Sie konnten dem Triumphzug keine königliche Standarten voraustragen, aber sie schnitten die weit ausladenden Palmzweige ab, die Zeichen des Sieges, und schwenkten sie unter lautem Jubel und Hosiannarufen hin und her. DM.451.1 Teilen

Als sie weiterzogen, nahm die Menge ständig zu durch Leute, die vom Kommen Jesu gehört hatten und nun eilten, sich dem Zug anzuschließen. Immer mehr Zuschauer mischten sich unter die Schar und fragten: „Wer ist der?“ Matthäus 21,10. Was bedeutete diese ganze Aufregung? Sie alle hatten schon von Jesus gehört und erwarteten, dass Er sich nach Jerusalem begeben würde, doch sie wussten auch, dass Er bisher jeden Versuch abgewiesen hatte, Ihn auf den Thron zu heben. So waren sie deshalb sehr erstaunt zu sehen, dass dieser Mann hier Jesus war. Sie fragten sich, was diese Sinnesänderung bewirkt haben könnte, da Er doch erklärt hatte, dass Sein Reich nicht von dieser Welt sei. DM.451.2 Teilen

Ihre Fragen wurden übertönt von den lauten Triumphrufen. Immer wieder erhob sich der Jubel der begeisterten Menge, eilte Jesus weit voraus und hallte von den umliegenden Tälern und Höhen wider. Nun vereinigte sich der Zug mit den Menschen aus Jerusalem. Von den Scharen, die gekommen waren, das Passahfest zu besuchen, zogen Tausende heraus, um Jesus willkommen zu heißen. Sie grüßten Ihn mit ihren wedelnden Palmzweigen und dem spontanen Anstimmen geistlicher Lieder. Die Priester im Tempel bliesen zur selben Zeit die Posaunen zum Abendgottesdienst, aber nur wenige Menschen folgten der Einladung. Die Obersten waren bestürzt und sprachen untereinander: „Alle Welt läuft ihm nach!“ Johannes 12,19. DM.451.3 Teilen

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Nie zuvor hatte Jesus solche Kundgebungen erlaubt. Er sah die Folgen auch jetzt klar voraus: Sie würden Ihn ans Kreuz bringen. Doch es war Seine Absicht, sich öffentlich als Erlöser zu zeigen. Er wollte die Aufmerksamkeit der Menschen auf das Opfer lenken, das Seine Aufgabe für eine gefallene Welt krönen sollte. Während das Volk in Jerusalem zusammenkam, um das Passahfest zu feiern, weihte Er, das wahre Passahlamm, sich freiwillig als Opfergabe. Es wird für Seine Gemeinde zu allen Zeiten nötig sein, über Seinen Opfertod für die Sünden der Welt gründlich nachzudenken. Alles damit verbundene Geschehen sollte über jeden Zweifel erhaben sein. Es war notwendig, dass die Augen des ganzen Volkes auf Jesus blickten. Die Ereignisse, die Seinem großen Opfer vorausgingen, mussten so sein, dass sie die Aufmerksamkeit auf das Opfer selbst lenkten. Nach einer solchen Demonstration, wie sie Jesu Einzug in Jerusalem begleitete, würden aller Augen den schnellen Ablauf der Schlussereignisse verfolgen. DM.452.1 Teilen

Die mit diesem Triumphzug in Verbindung stehenden Ereignisse würden zum allgemeinen Gesprächsstoff werden und jedem Menschen Jesus wieder ins Gedächtnis zurückrufen. Nach Seiner Kreuzigung würden sich viele an diese Ereignisse in Verbindung mit Seinem Leiden und Sterben wieder erinnern und so veranlasst werden, in den Prophezeiungen der Heiligen Schrift zu forschen und schließlich erkennen, dass Jesus der Messias war. In allen Ländern würden dann die Bekenner des Glaubens vielfältig zunehmen. DM.452.2 Teilen

Bei dieser einzigen Triumphszene Seines irdischen Lebens hätte der Heiland in Begleitung himmlischer Engel und mit den Posaunen Gottes erscheinen können, das wäre jedoch in Widerspruch zu Seiner Aufgabe und dem Gesetz gewesen, das Sein Leben bestimmte. Er fügte sich in das bescheidene Dasein, das Er auf sich genommen hatte. Er musste die Last der menschlichen Natur tragen, bis Sein Leben für das Leben der Welt geopfert war. DM.452.3 Teilen

Dieser Tag, der den Jüngern die Krönung ihres Lebens schien, wäre für sie trübe und umwölkt gewesen, wenn sie gewusst hätten, dass jene Freudenszenen nur den Auftakt zum Leiden und Sterben ihres Meisters darstellten. Obwohl Er ihnen wiederholt von Seinem Opferweg erzählt hatte, vergaßen sie in dem herrlichen Triumph des Tages dennoch Seine schmerzerfüllten Worte und dachten nur an die glückverheißende Herrschaft auf dem Thron Davids. DM.452.4 Teilen

Der Festzug vergrößerte sich immer mehr. Fast alle, die sich dem Zug anschlossen, wurden von den Wogen der Begeisterung mitgerissen und stimmten mit ein in die Hosiannarufe, die von den Bergen und aus den Tälern widerhallten: „Hosianna dem Sohn Davids! Gelobt sei, der da kommt in dem Namen des Herrn! Hosianna in der Höhe!“ Matthäus 21,9. DM.452.5 Teilen

Nie zuvor hatte es einen solchen Triumphzug gegeben. Kein irdischer Sieger hatte je einen ähnlichen Zug angeführt. Nicht Gefangene als Trophäen königlicher Tapferkeit waren das Besondere, sondern den Heiland umgaben die herrlichen Zeugen Seines Dienstes der Liebe für eine gefallene Menschheit. Es waren Gefangene der Sünde, die er aus der Gewalt Satans befreit hatte und die Gott für ihre Errettung lobten. Blinde, denen Er das Augenlicht wieder geschenkt hatte, schritten auf dem Weg voran, und Stumme, deren Zunge Jesus gelöst hatte, jauchzten das lauteste Hosianna. Krüppel, die Er geheilt hatte, sprangen vor Freude und waren die Eifrigsten beim Brechen und Schwenken der Palmzweige vor dem Heiland. Witwen und Waisen priesen den Namen Jesu für Seine Barmherzigkeit, die Er an ihnen getan hatte, und die Aussätzigen, die Er gereinigt hatte, breiteten ihre unbefleckten Kleider auf Seinen Weg und feierten Ihn als König der Herrlichkeit. Es befanden sich auch jene in der Menge, die Jesu Stimme aus dem Todesschlaf erweckt hatte, und Lazarus, dessen Körper im Grab bereits in Verwesung übergegangen war und der sich nun der herrlichen Stärke des Mannesalters freute, führte das Tier, auf dem der Heiland ritt. DM.452.6 Teilen

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Viele Pharisäer waren Zeugen dieser Szene. Zornentbrannt und neiderfüllt versuchten sie den Strom der öffentlichen Stimmung zu stoppen. Mit ihrer ganzen Autorität wollten sie das Volk zum Schweigen bringen, doch alle Aufrufe und Drohungen ließen die Begeisterung nur noch zunehmen. Sie befürchteten, die Menge könnte aufgrund ihrer Überlegenheit Jesus zum König ausrufen. So drängten sie sich durch die Menge bis zum Heiland vor und sprachen Ihn mit drohenden und tadelnden Worten an: „Meister, weise doch deine Jünger zurecht!“ Lukas 19,39. Sie erklärten, dass solche lärmenden Demonstrationen ungesetzlich seien und von den Behörden nicht erlaubt wären. Durch Jesu Antwort wurden sie jedoch zum Schweigen gebracht: „Ich sage euch: Wenn diese schweigen werden, so werden die Steine schreien.“ Lukas 19,40. DM.453.1 Teilen

Gott selbst hatte diesen Triumphzug Seines Sohnes angeordnet. Der Prophet hatte ihn vorhergesagt, und Menschen waren machtlos, Gottes Vorhaben zu durchkreuzen. Hätten die Menschen Gottes Plan nicht ausgeführt, so würde Er die Steine zum Leben erweckt haben, und diese hätten dann den Sohn Gottes mit Jubelrufen begrüßt. Als sich die Pharisäer zurückzogen, ertönten aus dem Mund hunderter Menschen die Worte Sacharjas: „Du, Tochter Zion, freue dich sehr, und du, Tochter Jerusalem, jauchze! Siehe, dein König kommt zu dir, ein Gerechter und ein Helfer, arm und reitet auf einem Esel“. Sacharja 9,9. DM.453.2 Teilen

Als der Zug die Höhe eines Hügels erreicht hatte und nun in die Stadt hinabziehen wollte, hielt Jesus an, und die Menge kam zum Stehen. Vor ihnen lag, in das Licht der untergehenden Sonne getaucht, Jerusalem in all seiner Herrlichkeit. Der Tempel zog alle Augen auf sich. In majestätischer Erhabenheit überragte er alle anderen Bauwerke und schien gen Himmel zu zeigen, als wollte er das Volk auf den einzig wahren und lebendigen Gott hinweisen. Seit langem war der Tempel der Stolz und der Ruhm des jüdischen Volkes, und selbst die Römer prahlten mit seiner Herrlichkeit. Ein von den Römern eingesetzter König hatte sich mit den Juden verbunden, um den Tempel wiederherzustellen und zu verschönern. Sogar der römische Kaiser hatte ihn durch kostbare Gaben ausgezeichnet. Durch seine Ausdehnung, seinen Reichtum und seine große Pracht war er zu einem der Weltwunder geworden. DM.453.3 Teilen

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Während die untergehende Sonne den Himmel verfärbte und vergoldete, leuchtete der weiße Marmor der Tempelwände auf und glitzerten die goldbedeckten Säulen. Von der Höhe aus, wo Jesus und seine Jünger standen, erschien dieses Gebäude wie aus Schnee, besetzt mit goldenen Zinnen. Den Eingang des Tempels zierte ein Weinstock aus Gold und Silber mit grünen Blättern und schweren Trauben, geschaffen von den geschicktesten Künstlern. Dieses Werk stellte Israel als fruchtbaren Weinstock dar. Gold, Silber und lebendiges Grün waren von auserlesenem Geschmack und großer Kunstfertigkeit. Die Ranken wanden sich um die weißen, gleißenden Säulen und verbanden sich mit den goldenen Ornamenten. Auf ihnen spiegelte sich die sinkende Sonne in herrlichem Glanz, der vom Himmel zu stammen schien. DM.454.1 Teilen

Der Heiland schaut auf dieses Bild. Die gewaltige Volksmenge verstummt, gebannt von dem unerwarteten Anblick solcher Schönheit. Alle Augen sind auf den Heiland gerichtet, und sie erwarten auf Seinem Antlitz die Bewunderung zu sehen, die sie selbst erfüllt. Stattdessen erblicken sie den Schatten tiefen Kummers. Sie sind überrascht und enttäuscht, Seine Augen in Tränen zu sehen und Seinen Körper hin und her schwanken wie ein Baum im Sturm, während — wie aus den Tiefen eines gebrochenen Herzens — ein Schrei angstvollen Klagens von Seinen zitternden Lippen kommt. Welch ein Anblick für die Engel im Himmel, ihren geliebten Herrn so voller Kummer zu sehen! Welch Erleben auch für die frohe Menge, die Ihn mit begeisterten Jubelrufen und mit wedelnden Palmzweigen im Triumph nach Jerusalem begleitete, wo Er Seine Herrschaft aufrichten würde, wie sie sehnlichst hofften. Jesus hatte am Grab des Lazarus geweint, aber es waren Tränen göttlichen Mitleids für das menschliche Weh gewesen. Doch dieser plötzliche Schmerz jetzt glich einem dumpfen Klagen inmitten eines großen Jubelchores. Inmitten der Freudenszene, während alle Ihm huldigten, standen dem König Israels Tränen in den Augen. Es waren nicht stille Freudentränen, sondern Tränen und Seufzer eines inneren Ringens, das Er nicht mehr länger verbergen konnte. Die Menge überfiel plötzlich Dunkelheit und ihre Beifallsrufe verstummten. Viele weinten aus Mitgefühl mit einem Schmerz, den sie nicht begreifen konnten. DM.454.2 Teilen

Jesus weinte nicht in Erwartung der auf Ihn zukommenden Leiden. Unweit von Ihm lag Gethsemane, wo die Schrecken einer großen Finsternis Ihn bald überschatten würden. Auch konnte Er bereits das Schaftor sehen, durch das seit Jahrhunderten die Opfertiere geführt wurden. Dieses Tor sollte für Ihn, das große Vorbild, auf dessen Opfer für die Sünden der Welt alle bisherigen Opfer hingewiesen hatten, bald geöffnet werden. Nicht weit davon lag Golgatha, der Schauplatz Seines baldigen Todeskampfes. Dennoch weinte der Heiland nicht wegen dieser Hinweise auf Seinen Kreuzestod. Kein selbstsüchtiger Kummer bedrückte Ihn. Der Gedanke an das eigene Leiden ließ Seine edle, uneigennützige Seele nicht verzagen. Es war der Anblick Jerusalems, der Jesu Herz durchdrang. Jerusalem, das den Sohn Gottes verworfen und Seine Liebe verachtet hatte und sich weigerte, sich durch die großen Wundertaten Jesu überzeugen zu lassen und im Begriff war, Ihn zu töten. Jesus sah ihre Schuld, indem sie den Erlöser verwerfen — und was sie hätte sein können, wenn sie Ihn, der allein ihre Wunden heilen konnte, angenommen hätte. Er war gekommen, Jerusalem zu retten. Wie konnte Er es aufgeben!? DM.454.3 Teilen

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Israel war ein bevorzugtes Volk gewesen. Gott hatte ihren Tempel zu Seinem Wohnort erwählt. „Schön ragt empor der Berg Zion, daran freut sich die ganze Welt.“ Psalm 48,3. Über 1000 Jahre hatte Christi schützende Fürsorge und hingebungsvolle Liebe, die der eines Vaters gegenüber seinem einzigen Kind glich, dort gewaltet. In diesem Tempel hatten die Propheten des Herrn ihre warnenden Stimmen erhoben. Hier war das brennende Rauchfass geschwenkt worden, während der Weihrauch mit den Gebeten der Gläubigen zu Gott emporgestiegen war. Hier war das Blut der Opfertiere geflossen, das Jesu Blut versinnbildete. Hier hatte der Ewige seine Herrlichkeit über dem Gnadenstuhl offenbart. Hier hatten die Priester ihr verordnetes Amt ausgeübt, und die Pracht des Gottesdienstes hatte sich seit Jahrhunderten hier gezeigt. Doch all dieses musste nun ein Ende haben! DM.455.1 Teilen

Jesus erhob Seine Hand, die so oft Kranke und Leidende gesegnet hatte, gegen die dem Untergang geweihte Stadt und rief schmerzerfüllt: „Wenn doch auch du erkenntest zu dieser Zeit, was zum Frieden dient!“ Lukas 19,42. Hier hielt der Heiland inne und ließ unausgesprochen, wie die Lage Jerusalems hätte sein können, wenn es die Hilfe angenommen hätte, die Gott anbot — die Gabe Seines geliebten Sohnes. Würde Jerusalem das erkannt haben, was sein Vorrecht war zu erkennen, und hätte es das Licht beachtet, das ihm vom Himmel gesandt wurde, dann wäre es hervorgetreten in der Blüte seines Wohlstands, König aller Königreiche, frei durch die von Gott erhaltenen Macht. Dann hätten keine bewaffneten Soldaten an seinen Toren gestanden, keine römischen Fahnen von seinen Mauern geweht. Das herrliche Vorrecht, mit dem Jerusalem durch die Annahme des Erlösers gesegnet worden wäre, stand dem Sohn Gottes vor Augen. Er sah, dass es durch Ihn hätte von schwerer Krankheit geheilt, von Knechtschaft befreit und zur mächtigen Hauptstadt der Welt erhoben werden können. Es wäre der Welt größte Kostbarkeit geworden. Aber das herrliche Bild von dem, was es hätte werden können, verging aus dem inneren Blick Jesu. Ihm trat vor Augen, was es nun unter dem Joch der Römer war — dem Missfallen Gottes und seinem strafenden Gericht unterworfen. Dann klagte Er: „Aber nun ist‘s vor deinen Augen verborgen. Denn es wird eine Zeit über dich kommen, da werden deine Feinde um dich einen Wall aufwerfen, dich belagern und von allen Seiten bedrängen; und werden dich dem Erdboden gleichmachen samt deinen Kindern in dir und keinen Stein auf dem andern lassen in dir, weil du die Zeit nicht erkannt hast, in der du heimgesucht worden bist.“ Lukas 19,42-44. DM.455.2 Teilen

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Jesus kam, um die Einwohner Jerusalems zu retten, doch pharisäischer Stolz, Heuchelei, Eifersucht und Bosheit hinderten Ihn an der Erfüllung Seiner Aufgabe. Der Heiland kannte die furchtbare Vergeltung, die diese verurteilte Stadt treffen würde. Er sah Jerusalem von Kriegsheeren eingeschlossen. Er sah die belagerten Einwohner dem Hunger und Tod preisgegeben. Er sah Mütter ihre toten Kinder verzehren und Eltern und Kinder sich gegenseitig den letzten Bissen entreißen, da die natürliche Liebe durch den quälenden Hunger erstickt worden war. Er sah auch, dass die Halsstarrigkeit der Juden, die sich in der Verwerfung ihres Erlösers bekundet hatte, sie auch daran hindern würde, sich den anstürmenden Heeren zu ergeben. Es sah Golgatha, die Stätte, wo Er erhöht werden würde, mit Kreuzen bedeckt, so dicht wie die Bäume des Waldes. Er sah die unglücklichen Einwohner auf der Folter und bei der Kreuzigung unerträgliche Qualen leiden. Er sah die beeindruckenden Paläste vernichtet, den Tempel in Trümmern und von seinen massiven Mauern keinen Stein auf dem andern liegen, während die Stadt einem gepflügten Acker glich. Beim Betrachten dieser schrecklichen Szenarien konnte der Heiland Seine Tränen nicht mehr zurückzuhalten! DM.456.1 Teilen

Jerusalem war Sein Sorgenkind gewesen. Wie ein liebevoller Vater über einen eigensinnigen Sohn trauert, so weinte Jesus über die geliebte Stadt. Wie kann ich dich aufgeben? Wie kann ich dich der Vernichtung ausgeliefert sehen? Muss ich dich aufgeben, damit du den Becher deiner Bosheit füllst? Eine einzige Seele ist so wertvoll, dass im Vergleich mit ihr das ganze Weltall zur Bedeutungslosigkeit herabsank, und hier sah Er ein ganzes Volk verlorengehen. Wenn sich die Strahlen der untergehenden Sonne am Horizont verlieren würden, wäre auch die Gnadenzeit Jerusalems zu Ende. Während der Zug auf der Höhe des Ölbergs anhielt, war es für Jerusalem noch nicht zu spät, zu bereuen, obwohl der Engel der Barmherzigkeit seine ausgebreiteten Flügel bereits sinken ließ, um von dem goldenen Thron herabzusteigen und der Gerechtigkeit und dem göttlichen Gericht Raum zu geben. Doch noch bat Jesu liebevolles Herz flehentlich für Jerusalem, das Seine Gnadengaben verachtet, Seine Warnungen nicht geschätzt hatte und im Begriff war, die Hände mit Seinem Blut zu beflecken. Wenn Jerusalem nur bereuen würde, es war noch nicht zu spät! Während die letzten Strahlen der untergehenden Sonne auf dem Tempel, dem Berg und den Zinnen lagen, könnte denn nicht ein guter Engel in der Stadt die Liebe zum Heiland erwecken und so ihr Geschick abwenden? Schöne, aber unheilige Stadt, die die Propheten gesteinigt und den Sohn Gottes verworfen hatte, die sich durch ihre Unbußfertigkeit selbst die Fesseln der Knechtschaft schmiedete — ihre Gnadenfrist war fast vorüber. DM.456.2 Teilen

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Noch einmal spricht der Geist Gottes zu den Einwohnern Jerusalems. Bevor der Tag vergangen ist, wird ein weiteres Zeugnis für Christus gegeben. Die Stimme des Zeugen hat sich erhoben, um den Aufrufen aus prophetischer Vergangenheit zu folgen. Beachtet die Stadt diese göttliche Bestätigung und nimmt den Heiland auf, der ihre Tore betritt, dann kann sie noch gerettet werden. DM.457.1 Teilen

Die Obersten in Jerusalem haben die Nachricht erhalten, dass sich Jesus unter großem Zulauf des Volkes der Stadt nähert. Doch sie haben keinen Willkommensgruß für den Sohn Gottes. Sie gehen dem Herrn furchterfüllt entgegen und hoffen, die Menge zerstreuen zu können. Während der Zug gerade den Ölberg herabsteigen will, wird er von den Obersten aufgehalten. Sie erkundigen sich nach der Ursache der ungestümen Freude. Als sie fragten: „Wer ist der?“, beantworteten die Jünger, erfüllt mit dem Geist göttlicher Eingebung, diese Frage, indem sie die Weissagungen auf Christus wiederholen: DM.457.2 Teilen

Adam wird euch sagen: Er ist der Same der Frau, welcher der Schlange den Kopf zertreten soll. Vgl. 1.Mose 3,15. DM.457.3 Teilen

Abraham wird sagen: Er ist „Melchisedek, der König von Salem“. 1.Mose 14,18. DM.457.4 Teilen

Jakob wird antworten: Er ist der Held aus dem Stamme Juda. Vgl. 1.Mose 49,9. DM.457.5 Teilen

Jesaja wird euch sagen: „Immanuel!“ Und: „Wunder-Rat, Gott-Held, Ewig-Vater, Friede-Fürst.“ Jesaja 7,14; Jesaja 9,5. DM.457.6 Teilen

Jeremia wird euch antworten: Der Spross Davids, „der Herr unsere Gerechtigkeit“. Jeremia 23,6. DM.457.7 Teilen

Daniel wird euch sagen: Er ist der Messias. Hosea wird zu euch sagen: Er „ist der Gott Zebaoth, Herr ist sein Name“. Hosea 12,6. DM.457.8 Teilen

Johannes der Täufer wird euch sagen: Er ist „Gottes Lamm, das der Welt Sünde trägt“. Johannes 1,29. Gott selbst hat vom Himmel herab verkündigt: „Dies ist mein lieber Sohn.“ Matthäus 3,17. DM.457.9 Teilen

Wir, Seine Jünger, bekennen: Dieser ist Jesus, der Messias, der Fürst des Lebens, der Erlöser der Welt! DM.457.10 Teilen

Sogar der Fürst der Finsternis anerkennt Ihn, indem er sagt: „Ich weiß, wer du bist: Der Heilige Gottes.“ Markus 1,24. DM.457.11 Teilen

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