Portrait von Ellen White
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Kapitel 74: Gethsemane
Kapitel 74: Gethsemane
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Auf der Grundlage von Matthäus 26,36-56; Markus 14,32-50; Lukas 22,39-53; Johannes 18,1-12. DM.549 Teilen

Der Heiland wanderte mit Seinen Jüngern zum Garten Gethsemane. Der ..Mond zur Passahzeit stand hell und voll am wolkenlosen Himmel. Die Stadt der Pilgerzelte ruhte in tiefem Schweigen. DM.549.1 Teilen

Jesus hatte sich bis dahin ernstlich mit Seinen Jüngern unterhalten und sie unterwiesen. Je näher sie jedoch dem Garten Gethsemane zuschritten, desto schweigsamer wurde Er. Oft hatte Er sich an diesen Ort zur Andacht und zum Gebet zurückgezogen, aber noch nie war Er mit einem so bekümmerten Herzen hierher gekommen wie in dieser Nacht Seines letzten Ringens. Während Seines ganzen Erdenlebens hatte Er im Licht der Gegenwart Gottes gelebt, und selbst im Zwiespalt mit Menschen, die vom Geist Satans besessen waren, konnte Er sagen: „Der mich gesandt hat, ist mit mir. Der Vater lässt mich nicht allein; denn ich tue allezeit, was ihm gefällt.“ Johannes 8,29. DM.549.2 Teilen

Jetzt aber schien Er von dem bewahrenden Licht der Gegenwart Gottes ausgeschlossen zu sein. Er wurde nun zu den Übeltätern gerechnet und musste die Schuld der gefallenen Menschheit tragen. Auf Ihn, der keine Sünde kannte, musste alle unsere Missetat gelegt werden. So schrecklich erschien Ihm die Sünde, so groß war die Last der Schuld, die Er zu tragen hatte, dass Er fürchtete, auf ewig von der Liebe des Vaters ausgeschlossen zu werden. Als Er empfand, wie furchtbar der Zorn Gottes wegen der Übertretung Seiner Gebote ist, rief Er aus: „Meine Seele ist betrübt bis an den Tod.“ Matthäus 26,38. DM.549.3 Teilen

Als sie dem Garten näher kamen, bemerkten die Jünger die Veränderung, die mit ihrem Herrn vor sich gegangen war. Sie hatten Ihn noch nie so traurig und still gesehen. Als Er weiter ging, wurde diese ungewöhnliche Betrübnis immer größer. Dennoch wagten sie nicht, Ihn nach der Ursache Seines Kummers zu fragen. Er schwankte, als würde Er jeden Augenblick fallen. DM.549.4 Teilen

Nachdem sie den Garten gemeinsam betreten hatten, schauten sich die Jünger besorgt nach dem Platz um, an den sich Jesus gewöhnlich zurückzog, damit ihr Meister dort ruhen möge. Jeder Schritt, den Er nun vorwärts ging, wurde für Ihn zur Anstrengung. Er stöhnte vernehmlich, als stünde Er unter einer schrecklichen Belastung. Zweimal mussten Ihn Seine Gefährten stützen, sonst wäre Er gefallen. DM.549.5 Teilen

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In der Nähe des Eingangs zum Garten ließ Jesus Seine Jünger bis auf drei zurück und forderte sie auf, für sich selbst und für Ihn zu beten. Mit Petrus, Jakobus und Johannes ging Er an jenen Ort der Abgeschiedenheit. Diese drei waren Seine vertrautesten Gefährten. Sie hatten Seine Herrlichkeit auf dem Verklärungsberg erlebt, sie hatten Mose und Elia mit Ihm sprechen sehen, sie hatten auch die Stimme vom Himmel gehört — jetzt wollte sie Christus während Seines großen Kampfes in Seiner Nähe wissen. Oft schon hatten sie eine Nacht mit Ihm in dieser Zurückgezogenheit verbracht. Oft schliefen sie ungestört nach einer Zeit des Wachens und Betens in einiger Entfernung von ihrem Meister, bis Er sie morgens zu neuem Tagewerk weckte. Doch jetzt wünschte sich ihr Meister, dass sie die ganze Nacht mit Ihm wachten und beteten — obwohl es ihm unerträglich war, dass selbst diese drei Jünger zu Zeugen Seines Seelenkampfes werden sollten, den Er auf sich nehmen musste. DM.550.1 Teilen

„Bleibt hier“, sagte Er ihnen, „und wacht mit mir!“ Matthäus 26,38. Er ging einige Schritte abseits, gerade so weit, dass sie Ihn noch sehen und hören konnten, und fiel auf die Erde nieder. Die Sünde trennte Ihn von Seinem Vater, das spürte Er. Der Abgrund war so breit, so dunkel und so tief, dass Sein Geist davor schauderte. Er durfte Seine göttliche Macht nicht dazu einsetzen, um diesem Kampf zu entrinnen. Als Mensch musste Er die Folgen der Sünde der Menschheit erleiden, als Mensch musste Er den Zorn Gottes über die Übertretungen ertragen. DM.550.2 Teilen

Die Stellung Jesu war jetzt eine andere als zuvor. Sein Leiden kann man am besten mit den Worten des Propheten Sacharja ausdrücken: „Schwert, mach dich auf über meinen Hirten, über den Mann, der mir der Nächste ist!, spricht der Herr Zebaoth.“ Sacharja 13,7. Als Vertreter und Bürge der sündigen Menschen litt Christus unter der göttlichen Gerechtigkeit, deren ganzen Umfang Er nun erkannte. Bisher war Er ein Fürsprecher für andere gewesen, jetzt sehnte Er sich danach, selbst einen Fürsprecher zu haben. DM.550.3 Teilen

Als der Heiland spürte, dass Sein Einssein mit dem himmlischen Vater unterbrochen war, befürchtete Er, in Seiner menschlichen Natur unfähig zu sein, den kommenden Kampf mit den Mächten der Finsternis zu bestehen. Schon in der Wüste der Versuchung hatte das Schicksal des Menschengeschlechts auf dem Spiel gestanden — doch Jesus war Sieger geblieben. Jetzt war der Versucher zum letzten schrecklichen Kampf gekommen, auf den er sich während der dreijährigen Lehrtätigkeit des Herrn vorbereitet hatte. DM.550.4 Teilen

Alles hing von dem Ausgang dieses Kampfes ab. Würde Satan verlieren, dann wäre seine Hoffnung auf die Oberherrschaft gebrochen und die Reiche der Welt würden schließlich Christus gehören. Er selbst würde überwältigt und ausgestoßen werden. Ließe sich Christus aber überwinden, dann würde die Erde Satans Reich werden und das Menschengeschlecht für immer in seiner Gewalt bleiben. DM.550.5 Teilen

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Mit den Folgen dieses Streites vor Augen war Christi Seele ganz erfüllt von der Furcht vor der Trennung von Gott. Satan sagte dem Herrn, dass Er als Bürge für die sündige Welt ewig von Gott getrennt wäre. Er würde dann zu Satans Reich gehören und niemals mehr mit Gott verbunden sein. DM.551.1 Teilen

Was war durch dieses Opfer zu gewinnen? Wie hoffnungslos erschienen die Schuld und die Undankbarkeit der Menschen! In härtesten Zügen schilderte Satan dem Herrn die Situation. Alle jene, die für sich in Anspruch nehmen, ihre Mitmenschen in zeitlichen und geistlichen Dingen zu überragen, haben dich verworfen. Sie versuchen, dich zu vernichten, der du der Grund, der Mittelpunkt und das Siegel aller Weissagungen bist, die ihnen als einem auserwählten Volk offenbart wurden. Einer Deiner eigenen Jünger, der Deinen Unterweisungen zugehört hat, der einer der ersten Deiner Mitarbeiter gewesen ist, wird Dich verraten, einer Deiner eifrigsten Nachfolger wird Dich verleugnen, ja, alle werden Dich verlassen! Christi ganzes Sein widersetzte sich diesen Gedanken. Dass jene, die Er retten wollte und die Er so sehr liebte, sich an Satans Plänen beteiligen würden, schnitt Ihm ins Herz. Der Konflikt war schrecklich. Sein Maßstab war die Schuld Seines Volkes, Seiner Ankläger und Seines Verräters und die Schuld einer in Gottlosigkeit am Boden liegenden Welt. Die Sünden der Menschen lasteten schwer auf Ihm, und das Bewusstsein des Zornes Gottes überwältigte Ihn. DM.551.2 Teilen

Seht Ihn über den Preis nachsinnen, der für die menschliche Seele bezahlt werden muss! In Seiner Angst krallt Er sich fest in die kalte Erde, als ob Er verhindern wolle, Seinem Vater noch ferner zu rücken. Der frostige Tau der Nacht legt sich auf Seine hingestreckte Gestalt, aber Er merkt es nicht. Von Seinen bleichen Lippen dringt der qualvolle Schrei: „Mein Vater, ist‘s möglich, so gehe dieser Kelch an mir vorüber.“ Und Er fügt noch hinzu: „Doch nicht wie ich will, sondern wie du willst!“ Matthäus 26,39. DM.551.3 Teilen

Das menschliche Herz sehnt sich im Schmerz nach Anteilnahme. Auch Christus war in Seinem Innersten von dieser Sehnsucht erfüllt. In äußerster seelischer Not kam Er zu Seinen Jüngern mit dem brennenden Wunsch, bei ihnen, die Er so oft gesegnet und getröstet sowie in Kummer und Verzweiflung behütet hatte, einige Worte des Trostes zu finden. Er, der für sie stets Worte des Mitgefühls gehabt hatte, litt jetzt selbst übermenschliche Schmerzen und sehnte sich danach, zu wissen, dass sie gerade jetzt für sich und für Ihn beteten. Wie dunkel erschien die Boshaftigkeit der Sünde! Ungeheuer groß war die Versuchung, dem Menschengeschlecht selbst die Folgen der eigenen Schuld aufzubürden, während Er unschuldig vor Gott stünde. Wenn Er nur wüsste, dass Seine Jünger das erkannten und begriffen — es würde Ihn mit neuer Kraft erfüllen. DM.551.4 Teilen

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Nachdem Er sich unter schmerzhafter Anstrengung erhoben hatte, wankte Er zu der Stelle, wo Er Seine Getreuen zurückgelassen hatte, aber Er „fand sie schlafend“. Matthäus 26,40. Hätte Er sie betend gefunden — wie würde es Ihm geholfen haben! Hätten sie bei Gott Zuflucht gesucht, damit die teuflischen Mächte sie nicht überwältigen könnten, dann wäre Er durch ihren standhaften Glauben getröstet worden. Sie hatten aber Seine mehrmalige Aufforderung: „Wachet und betet!“ Matthäus 26,41. nicht beachtet. Zuerst waren sie sehr beunruhigt gewesen, ihren Meister, der sonst so ruhig und würdevoll auftrat, mit einem Schmerz ringen zu sehen, der alle Fassungskraft überstieg. Sie hatten gebetet, als sie die laute Qual des Leidenden hörten, und sie wollten keineswegs ihren Herrn im Stich lassen. Doch sie schienen wie gelähmt von einer Erstarrung, die sie hätten abschütteln können, wenn sie beständig im Gebet mit Gott verbunden gewesen wären. Sie aber erkannten nicht die Notwendigkeit des Wachens und Betens, um der Versuchung widerstehen zu können. DM.552.1 Teilen

Kurz bevor Jesus zum Garten hin schritt, hatte Er Seinen Jüngern noch gesagt: „Ihr werdet in dieser Nacht alle an mir Anstoß nehmen.“ Markus 14,27. Die Jünger aber hatten Ihm mit starken Worten versichert, dass sie mit Ihm ins Gefängnis und in den Tod gehen wollten. Und der bedauernswerte, selbstbewusste Petrus hatte hinzugefügt: „Und wenn sie alle Ärgernis nehmen, so doch ich nicht.“ Markus 14,29. Die Jünger aber bauten auf sich selbst und schauten nicht auf den mächtigen Helfer, wie der Herr es ihnen geraten hatte. So fand der Heiland sie schlafend, als Er ihre Anteilnahme und ihre Gebete am meisten brauchte. Selbst Petrus schlief. DM.552.2 Teilen

Und Johannes, der liebevolle Jünger, der an Jesu Brust gelehnt hatte, schlief auch. Gewiss, die Liebe zu seinem Meister hätte ihn wach halten sollen, seine aufrichtigen Gebete hätten sich in der Stunde der äußersten Qual mit den Gebeten Seines geliebten Heilandes vereinen sollen. Der Erlöser hatte in langen, einsamen Nächten für Seine Jünger gebetet, dass ihr Glaube nicht aufhören möge. Hätte Er jetzt an Jakobus und Johannes die Frage gerichtet, die Er ihnen einmal gestellt hatte: „Könnt ihr den Kelch trinken, den ich trinken werde und euch taufen lassen mit der Taufe, mit der ich getauft werde?“ (Matthäus 20,22), sie würden nicht gewagt haben, diese noch einmal zu bejahen. DM.552.3 Teilen

Jesus weckte die schlafenden Jünger, aber sie erkannten Ihn kaum, so sehr hatte die durchzustehende Qual Sein Antlitz verändert. Jesus wandte sich an Petrus und fragte ihn: „Simon, schläfst du? Vermochtest du nicht eine Stunde zu wachen? Wachet und betet, dass ihr nicht in Versuchung fallt! Der Geist ist willig; aber das Fleisch ist schwach.“ Markus 14,37.38. Die Schwachheit Seiner Jünger erweckte Jesu Mitgefühl. Er fürchtete, dass sie die Prüfung, die durch den Verrat an Ihm und durch Seinen Tod über sie kommen würde, nicht bestehen könnten. Er tadelte sie nicht, sondern bat: „Wachet und betet, dass ihr nicht in Versuchung fallt!“ Sogar in Seiner großen Todesnot suchte Er ihre Schwachheit zu entschuldigen und sprach: „Der Geist ist willig; aber das Fleisch ist schwach.“ Erneut wurde der Heiland von übermenschlicher Angst ergriffen. Fast ohnmächtig vor Schwäche und völlig erschöpft, taumelte Er an Seinen Platz zurück. Seine Qual wurde noch größer als vorher, und in der Todesangst Seiner Seele wurde „sein Schweiß wie Blutstropfen, die fielen auf die Erde“. Lukas 22,44. Die Zypressen und Palmen waren stille Zeugen Seines Ringens. Von ihren Zweigen fielen Tautropfen auf Seine Gestalt, als ob die Natur über ihren Schöpfer weinte, der mit den Mächten der Finsternis einen einsamen Kampf austrug. DM.552.4 Teilen

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Erst kürzlich hatte Jesus wie eine mächtige Zeder dem Sturm des Widerstandes getrotzt, der sich wütend gegen Ihn erhob. Halsstarrige Köpfe sowie boshafte und verschlagene Herzen hatten vergeblich versucht, Ihn zu verwirren und zu überwältigen. In göttlicher Majestät hatte Er sich als Sohn Gottes unbeugsam gezeigt. Jetzt dagegen glich Er einem windgepeitschten Schilfrohr. Er war der Vollendung Seiner Aufgabe wie ein Held entgegengegangen. Mit jedem Schritt errang Er einen Sieg über die Mächte der Finsternis. Als ein schon Verklärter hatte Er Seine Verbundenheit mit Gott behauptet und mit fester Stimme hatte Er Seine Lobgesänge gesungen, Seine Jünger aufgemuntert und getröstet. Aber jetzt war die Stunde der Macht der Finsternis über Ihn hereingebrochen. Seine Stimme durchbrach die stille nächtliche Luft, sie hörte sich nicht an wie Triumphgesang, sondern war voller Angst und Sorge, als sie an die Ohren der schlaftrunkenen Jünger drang: „Mein Vater, ist‘s nicht möglich, dass dieser Kelch an mir vorübergehe, ohne dass ich ihn trinke, so geschehe dein Wille!“ Matthäus 26,42. DM.553.1 Teilen

Der erste Gedanke der Jünger war, zu Ihm zu gehen, aber Jesus hatte ihnen ja geboten, an ihrem Platz zu bleiben, zu wachen und zu beten. Als der Heiland erneut zu ihnen kam, fand Er sie „abermals schlafend“. Wieder hatte Er sich nach ihrer Gesellschaft gesehnt, nach einigen Worten von ihnen, die Ihm hätten Erleichterung bringen und die Zeit der Finsternis brechen können, die Ihn fast überwältigte. Aber ihre Augen waren „voller Schlaf, und sie wussten nicht, was sie ihm antworten sollten.“ Markus 14,40. Seine Gegenwart machte sie wach. Sie schauten Sein vom blutigen Schweiß entstelltes Angesicht, und sie fürchteten sich. Sie konnten Seine Seelenangst nicht verstehen. „So sehr war sein Angesicht entstellt, mehr als das irgendeines Mannes, und seine Gestalt, mehr als die der Menschenkinder“. Jesaja 52,14. DM.553.2 Teilen

Wiederum wandte sich Jesus ab und ging an Seinen Zufluchtsort zurück. Von den Schrecken einer großen Finsternis überwältigt, fiel Er zu Boden. Die menschliche Natur Jesu zitterte in dieser schweren Stunde. Er betete jetzt nicht für Seine Jünger, dass ihr Glaube nicht wankend werden möge, sondern für Seine eigene geprüfte und gemarterte Seele. Der schreckliche Augenblick war gekommen, jene Stunde, die das Schicksal der Welt entscheiden sollte. Das Geschick der Menschenkinder war noch in der Schwebe. Noch konnte sich Christus weigern, den für die sündige Menschheit bestimmten Kelch zu trinken. Es war noch nicht zu spät. Jesus konnte sich immer noch den blutigen Schweiß von Seiner Stirn wischen und den Menschen in seiner Gottlosigkeit verderben lassen. Er konnte sagen: Lass den Übertreter die Strafe seiner Schuld empfangen, ich will zurückgehen zu meinem Vater im Himmel. Wird der Sohn Gottes den bitteren Kelch der Erniedrigung und des Leidens bis zur Neige leeren? Wird Er, der unschuldig war, die Folgen des Fluches der Sünde erleiden, um die Schuldigen zu retten? Von den bleichen Lippen Jesu fielen stammelnd die Worte: „Mein Vater, ist‘s nicht möglich, dass dieser Kelch an mir vorübergehe, ohne dass ich ihn trinke, so geschehe dein Wille!“ Matthäus 26,42. DM.553.3 Teilen

554

Dreimal hatte Jesus so gebetet und dreimal war das Menschliche in Ihm vor dem letzten, krönenden Opfer zurückgeschreckt. Nun zieht im Geist noch einmal die ganze Geschichte des Menschengeschlechts am Welterlöser vorüber. Er sieht, dass die Gesetzesbrecher — wenn sich selbst überlassen — untergehen müssen. Er sieht die Hilflosigkeit der Menschen und die Macht der Sünde. Das Elend und die Klagen einer verurteilten Welt steigen vor Ihm auf, Er erkennt deren drohendes Geschick, und Sein Entschluss ist gefasst. Er wird die Menschen retten, koste es, was es wolle. Er nimmt die Bluttaufe an, damit Millionen Verdammter das ewige Leben gewinnen können. Er hatte die himmlischen Höfe verlassen, wo Reinheit, Freude und Herrlichkeit herrschten, um das eine verlorene Schaf — die durch Übertretung gefallene Welt — zu retten. Er wird sich Seiner Aufgabe nicht entziehen. Er wird dem der Sünde verfallenen Geschlecht die Versöhnung ermöglichen. Nun ist Sein Gebet vom Gehorsam durchdrungen: „Ist‘s nicht möglich, dass dieser Kelch an mir vorübergehe, ohne dass ich ihn trinke, so geschehe dein Wille!“ Nach dieser Entscheidung fiel Er wie tot zu Boden, von dem Er sich halb aufgerichtet hatte. Wo waren jetzt Seine Jünger, um liebevoll ihre Hände unter das Haupt des ohnmächtigen Erlösers zu legen, um jene Stirn zu netzen, die stärker zerfurcht war als bei den Menschen sonst? Der Heiland trat die Kelter allein, und niemand unter den Völkern war bei Ihm. Aber Gott der Vater litt mit Seinem Sohn, und die Engel waren Zeugen Seiner Qualen. Sie sahen ihren Herrn inmitten von Legionen satanischer Kräfte, niedergebeugt von schauderndem, geheimnisvollem Entsetzen. DM.554.1 Teilen

Im Himmel herrschte tiefe Stille. Kein Harfenklang ertönte. Hätten Sterbliche die Bestürzung der Engelscharen wahrgenommen, als diese in stillem Schmerz beobachteten, wie der himmlische Vater Seinem geliebten Sohn die Strahlen des Lichts, der Liebe und der Herrlichkeit entzog, dann würden sie besser verstehen, wie verhasst in Seinen Augen die Sünde ist. DM.554.2 Teilen

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Die nicht gefallenen Welten und die himmlischen Engel hatten mit größter Anteilnahme zugeschaut, wie der Kampf sich seinem Ende näherte. Auch Satan und seine Verbündeten, Legionen der Abtrünnigen, beobachteten aufmerksam diese Stunde der Entscheidung im ganzen Heilsgeschehen. Die Mächte des Guten und Bösen hielten sich zurück, um zu sehen, wie die Antwort auf Jesu dreimalige Bitte lautete. Die Engel hatten sich danach gesehnt, dem göttlichen Dulder Hilfe zu bringen, aber das durfte nicht geschehen. Es gab kein Entrinnen für den Sohn Gottes. In dieser furchtbaren Krise, da alles auf dem Spiel stand und der geheimnisvolle Kelch in den Händen Jesu zitterte, öffnete sich der Himmel, ein Licht durchbrach das unruhige Dunkel dieser bedeutenden Stunde und der Engelfürst, der die Position des ausgestoßenen Satans in der Gegenwart Gottes eingenommen hatte, trat an Jesu Seite. Der Engel kam nicht, um Christus den Leidenskelch aus der Hand zu nehmen, sondern um Ihn durch die Versicherung der Liebe des Vaters zu stärken, den Kelch zu trinken. Er kam, um dem göttlich-menschlichen Bittsteller Kraft zu spenden. Er zeigte Ihm den offenen Himmel und sprach zu Ihm von den Menschen, die durch Sein Leiden gerettet würden. Er versicherte ihm, dass Sein Vater im Himmel größer und mächtiger sei als Satan, dass Sein Tod die vernichtendste Niederlage Satans bedeute und dass das Königreich dieser Welt den Heiligen des Allerhöchsten gegeben werde. Er erzählte Ihm, dass Er, „nachdem seine Seele Mühsal erlitten“ haben werde, „seine Lust sehen und die Fülle haben“ (Jesaja 53,11) werde, denn Er werde eine große Schar Erlöster sehen, auf ewig erlöst. DM.555.1 Teilen

Christi Seelenschmerz hörte nicht auf, aber die Niedergeschlagenheit und Entmutigung verließen Ihn. Der Sturm in Seiner Seele hatte keineswegs nachgelassen, aber Christus, gegen den sein Wüten gerichtet war, fühlte sich gekräftigt, ihm zu widerstehen. Ruhig und gefasst ging Er aus dem Kampf hervor und himmlischer Friede ruhte auf Seinem Angesicht. Er hatte erduldet, was kein menschliches Wesen jemals würde ertragen können, denn Er hatte die Leiden des Todes für alle Menschen durchlebt. DM.555.2 Teilen

Die schlafenden Jünger waren durch das helle Licht, das den Heiland umgab, plötzlich aufgeweckt worden. Sie sahen den Engel sich über ihren hingestreckt liegenden Meister beugen. Sie sahen, wie er des Erlösers Haupt gegen seine Brust lehnte und die Hand zum Himmel erhob. Sie hörten seine wohllautende Stimme Worte des Trostes und der Hoffnung sprechen. Ihnen kam die Erinnerung an das Geschehen auf dem Verklärungsberg auf. Sie erinnerten sich an die Herrlichkeit, die Jesus im Tempel zu Jerusalem umgeben hatte, und an die Stimme Gottes, die aus der Wolke an ihr Ohr gedrungen war. Nun offenbarte sich ihnen hier dieselbe Herrlichkeit, und sie fürchteten sich nicht mehr für ihren Meister. Er war jetzt unter der Fürsorge Gottes, der einen mächtigen Engel zum Schutz des Erlösers gesandt hatte. Und wieder überlassen sich die Jünger in ihrer Müdigkeit jenem ungewöhnlichen Dämmerzustand, und Jesus findet sie abermals schlafend. DM.555.3 Teilen

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Traurig blickt Er auf die Schlafenden und spricht zu ihnen: „Ach, wollt ihr weiter schlafen und ruhen? Siehe, die Stunde ist da, dass der Menschensohn in die Hände der Sünder überantwortet wird.“ DM.556.1 Teilen

Noch während Er diese Worte sprach, hörte Er die Schritte derer, die Ihn suchten, und Er fügte hinzu: „Steht auf, lasst uns gehen! Siehe, er ist da, der mich verrät.“ Matthäus 26,45.46. Jesus zeigte keinerlei Spuren mehr von dem eben überstandenen inneren Ringen, als Er dem Verräter entgegentrat. Vor Seinen Jüngern stehend, sagte Er: „‚Wen sucht ihr?‘ Sie antworteten: ‚Jesus von Nazareth.‘ Er [sprach] zu ihnen: ‚Ich bin‘s!‘“ Johannes 18,4.5. In diesem Augenblick trat der Engel, der sich kurz zuvor um Jesus gekümmert hatte, zwischen Ihn und die Schar der Häscher. Göttliches Licht erhellte Jesu Angesicht, und ein taubenähnlicher Schatten fiel auf Seine Gestalt. Die Gegenwart dieser himmlischen Herrlichkeit konnten die Mordgesellen nicht ertragen. Sie wichen zurück — und Priester, Älteste, Soldaten, selbst Judas, sanken wie tot zu Boden. DM.556.2 Teilen

Der Engel zog sich zurück, und das Licht verblasste. Jesus hatte die Möglichkeit zu fliehen, doch Er blieb, gelassen und beherrscht. Als ein Verklärter stand Er inmitten dieser verhärteten Schar, die jetzt hingestreckt und hilflos zu Seinen Füßen lag. Die Jünger blickten schweigend, scheu und verwundert auf das Geschehen vor ihnen. DM.556.3 Teilen

Doch schnell änderte sich die Szene wieder. Die Häscher sprangen auf. Die römischen Soldaten, die Priester und Judas umringten Christus. Sie schienen sich ihrer Schwäche zu schämen und fürchteten, Er würde ihnen entkommen. Da wiederholte Jesus nochmals die Frage: „Wen sucht ihr?“ Sie hatten zwar schon einen ausreichenden Beweis dafür erhalten, dass der, der vor ihnen stand, der Sohn Gottes war, aber sie wollten sich nicht überzeugen lassen. Auf die Frage: „Wen sucht ihr?“ antworteten sie wieder: „Jesus von Nazareth.“ Johannes 18,7. Der Heiland sagte darauf: „Ich habe es euch gesagt, dass ich es bin. Sucht ihr denn mich, so lasst diese gehen!“ (Johannes 18,8) — und zeigte auf Seine Jünger. Er kannte ihren schwachen Glauben und wünschte sie vor Versuchungen und Anfechtungen zu bewahren. Er war bereit, sich für sie zu opfern. DM.556.4 Teilen

Judas, der Verräter, vergaß nicht, was er tun wollte. Als die Häscher den Garten betraten, hatte er sie angeführt, dicht gefolgt vom Hohepriester. Mit den Verfolgern Jesu hatte er ein Zeichen vereinbart und zu ihnen gesagt: „Welchen ich küssen werde, der ist‘s; den ergreift.“ Matthäus 26,48. Jetzt tat er so, als habe er mit ihnen nichts zu tun. Er ging auf den Herrn zu, ergriff freundschaftlich seine Hand, küsste Ihn wiederholt mit den Worten: „Sei gegrüßt, Rabbi!“ und gab sich den Anschein, als weine er aus Mitleid mit ihm in dessen gefahrvoller Lage. Jesus sprach zu ihm: „Mein Freund, dazu bist du gekommen?“ Seine Stimme zitterte vor Wehmut, als er hinzufügte: „Judas, verrätst du den Menschensohn mit einem Kuss?“ Matthäus 26,49.50; Lukas 22,48. Diese Worte hätten das Gewissen des Verräters wachrütteln und sein verstocktes Herz anrühren müssen, aber Ehre, Treue und menschliches Empfinden hatten ihn verlassen. Dreist und herausfordernd stand er da, und er ließ durch nichts erkennen, dass er bereit war, nachzugeben. Er hatte sich Satan verschrieben und war völlig unfähig, ihm zu widerstehen. Jesus aber wies nicht einmal den Kuss des Verräters zurück. DM.556.5 Teilen

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Der Pöbel wurde kühn, als er sah, dass Judas den berührte, der soeben vor ihren Augen verklärt worden war. Sie ergriffen den Heiland und begannen die teuren Hände zu fesseln, die nur Gutes getan hatten. DM.557.1 Teilen

Die Jünger hatten nicht geglaubt, dass sich ihr Meister gefangen nehmen ließe. Die gleiche Macht, die die Verfolger wie tot zu Boden gestreckt hatte, konnte diese doch so lange hilflos halten, bis sie und ihr Meister entkommen wären. Sie waren enttäuscht und aufgebracht, als sie die Stricke sahen, mit denen die Hände dessen gebunden werden sollten, den sie liebten. DM.557.2 Teilen

Petrus zog in seinem Zorn rasch sein Schwert und wollte seinen Meister verteidigen. Er traf den Diener des Hohepriesters und hieb ihm ein Ohr ab. Als Jesus sah, was geschehen war, befreite Er Seine Hände aus der Gewalt der römischen Soldaten und sagte: „‚Lasst ab! Nicht weiter!‘ Und er rührte sein Ohr an und heilte ihn.“ Lukas 22,51. Dann sagte Er zu dem heftigen Petrus: „Stecke dein Schwert an seinen Ort! Denn wer das Schwert nimmt, der soll durchs Schwert umkommen. Oder meinst du, ich könnte meinen Vater nicht bitten, dass er mir sogleich mehr als zwölf Legionen Engel schickte?“ (Matthäus 26,52.53) — für jeden Jünger eine Legion. Warum, so dachten die Jünger, rettet Er nicht sich und uns!? Da antwortete ihnen der Herr auf ihre unausgesprochene Frage: „Wie würde dann aber die Schrift erfüllt, dass es so geschehen muss?“ „Soll ich den Kelch nicht trinken, den mir mein Vater gegeben hat?“ Matthäus 26,54; Johannes 18,11. DM.557.3 Teilen

Ihre amtliche Würde hatte die jüdischen Obersten nicht davon abhalten können, sich der Verfolgung Jesu anzuschließen. Seine Verhaftung war eine zu wichtige Angelegenheit, um sie ausschließlich ihren Untergebenen zu überlassen. Sie hatten sich der Tempelwache und dem lärmenden Pöbel angeschlossen und waren Judas nach Gethsemane gefolgt. Welch eine Gesellschaft für jene Würdenträger! Eine wilde, ungeordnete Horde, die nach Sensationen hungerte und mit allerlei Werkzeugen bewaffnet war, als wollte sie einem wilden Tier nachstellen. Christus wandte sich den Priestern und Ältesten zu und blickte sie durchdringend an. Die Worte, die Er zu ihnen sprach, würden sie ihr Leben lang nicht vergessen. Sie wirkten wie scharfe Pfeile aus der Hand des Allmächtigen. Würdevoll sagte Er: „Ihr seid wie gegen einen Räuber mit Schwertern und mit Stangen ausgezogen. Ich bin täglich bei euch im Tempel gewesen und habe gelehrt, und ihr habt mich nicht ergriffen. Aber dies ist eure Stunde und die Macht der Finsternis!“ Lukas 22,52.53; Markus 14,48.49. DM.557.4 Teilen

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Die Jünger waren sehr erschrocken, als sie sahen, dass Jesus sich Seinen Feinden auslieferte. Sie ärgerten sich, dass Er diese Demütigung über sich und über sie brachte. Sie konnten Sein Verhalten nicht verstehen und beschuldigten Ihn, dass Er sich dem Mob unterwarf. In ihrer Furcht und Entrüstung schlug Petrus vor, sich selbst zu retten, und auf seine Idee hin „verließen ihn alle und flohen“. Markus 14,50. Doch Jesus hatte ihre Flucht vorausgesehen. „Siehe“, so hatte er gesagt, „es kommt die Stunde und ist schon gekommen, dass ihr zerstreut werdet, ein jeder in das Seine, und mich allein lasst. Aber ich bin nicht allein, denn der Vater ist bei mir.“ Johannes 16,32. DM.558.1 Teilen

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