Portrait von Ellen White
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Kapitel 75: Jesus vor Hannas und Kaiphas
Kapitel 75: Jesus vor Hannas und Kaiphas
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Auf der Grundlage von Matthäus 26,57-75; Matthäus 27,1; Markus 14,53-72; Markus 15,1; Lukas 22,54-71; Johannes 18,13-27. DM.559 Teilen

Sie trieben den Heiland über den Bach Kidron, an Gärten und Olivenhainen vorbei, durch die Straßen der schlafenden Stadt. Mitternacht war vorüber, und das Geschrei des höhnenden Pöbels, der ihm folgte, brach sich schrill an der nächtlichen Stille. DM.559.1 Teilen

Der Heiland war gefesselt und scharf bewacht. Er konnte sich nur unter Schmerzen fortbewegen. Dennoch trieben Ihn Seine Wächter eiligst zum Palast des ehemaligen Hohepriesters Hannas. Er war das Oberhaupt der amtierenden Priesterfamilie. Mit Rücksicht auf sein Alter wurde er vom Volk als Hohepriester anerkannt. Sein Rat war gesucht und als Stimme Gottes geachtet. Darum musste Jesus als Gefangener der Priester zuerst zu Hannas gebracht werden. Dieser sollte bei dem Verhör dabei sein aus Angst, der noch wenig erfahrene Kaiphas könnte ihre ausgeklügelte Anklagebegründung zum Scheitern bringen. Seine arglistige, schlaue und spitzfindige Art wurde bei diesem Fall gebraucht, um die Verurteilung Jesu unter allen Umständen zu sichern. DM.559.2 Teilen

Nach der Voruntersuchung durch Hannas sollte Jesus vor dem Hohen Rat verhört werden. Unter der römischen Besatzung durfte der Hohe Rat keine Todesurteile ausführen lassen. Er durfte den Gefangenen nur verhören und ein Urteil fällen, das aber von der römischen Obrigkeit bestätigt werden musste. Die Priester mussten darum die Anklage auf solche Vergehen stützen, die bei den Römern als Verbrechen galten und die gleichzeitig Jesus in den Augen des jüdischen Volkes verdammten. Nicht wenige Priester und Oberste waren durch Jesus überzeugt worden, doch die Furcht, in den Bann getan zu werden, hinderte sie daran, sich zu Ihm zu bekennen. Die Priester erinnerten sich noch gut an die Frage von Nikodemus: „Richtet denn unser Gesetz einen Menschen, ehe man ihn verhört und erkannt hat, was er tut?“ Johannes 7,51. DM.559.3 Teilen

Wegen dieser Frage war damals ihre Sitzung abgebrochen worden, so dass ihre Pläne durchkreuzt wurden. Nikodemus und auch Joseph von Arimathia waren daher jetzt nicht eingeladen, doch es könnten andere wagen, für Recht und Gerechtigkeit einzutreten. Das Verhör musste deshalb so geschickt geleitet werden, dass alle Mitglieder des Hohen Rates Jesus einstimmig verurteilten. Zwei Anklagen waren es, die die Priester erheben wollten. Könnte man Jesus als Gotteslästerer bezichtigen, dann würde Ihn das jüdische Volk verurteilen. Gelänge es noch, Ihn des Aufruhrs für schuldig zu erklären, dann wäre auch Seine Verurteilung durch die Römer gesichert. Die zweite Anklage versuchte Hannas zuerst zu begründen. Er fragte Jesus nach Seinen Jüngern und nach Seinen Lehren, wobei er hoffte, der Gefangene, würde etwas sagen, das ihm etwas in die Hand gäbe, womit er gegen Ihn vorgehen könnte. Könnte Hannas auch nur einige Bemerkungen aus Jesus herauslocken als Beweis dafür, dass Er einen Geheimbund gründen wollte mit der Absicht, ein neues Königreich aufzurichten, dann würden die Priester einen Grund haben, Ihn als Friedensstörer und Unruhestifter den Römern auszuliefern. DM.559.4 Teilen

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Christus durchschaute die Absicht der Priester. Als ob Er ihre geheimsten Gedanken lesen würde, verneinte Er, dass es einen geheimen Bund zwischen Ihm und Seinen Jüngern gäbe und dass Er sie heimlich und bei Dunkelheit versammelte, um Seine Absichten zu verbergen. Sein Vorhaben und Seine Lehren waren frei von Geheimnissen. „Ich habe frei und öffentlich geredet vor der Welt“, sagte Er. „Ich habe allezeit gelehrt in der Synagoge und in dem Tempel, wo alle Juden zusammenkommen, und habe nichts im Verborgenen geredet.“ Johannes 18,20. Der Heiland verglich die Art Seines Wirkens mit den Methoden Seiner Ankläger. Monatelang hatten sie Ihn gejagt, um Ihn in eine Falle zu locken und vor ein geheimes Gericht zu bringen, wo sie durch Meineid das erreichen könnten, was bei einem ehrlichen Verfahren unmöglich wäre. Nun führten sie ihre Absicht aus. Die mitternächtliche Festnahme durch den Pöbel, Seine Verspottung und Misshandlung, bevor Er verurteilt oder zumindest angeklagt war, entsprach ihrer Art zu handeln und nicht Seiner. Ihr Vorgehen stand im Widerspruch zum Gesetz. Ihre eigenen Regeln verlangten, dass jeder als unschuldig zu gelten habe, solange seine Schuld nicht erwiesen sei. Von ihren eigenen Geboten wurden die Priester verurteilt. Darauf wandte Er sich an den Fragesteller, den Hohepriester: „Was fragst du mich?“ Hatten nicht die Priester und Obersten Spione ausgesandt, um Sein Tun und Treiben zu beobachten und jedes Seiner Worte mitzuteilen? Hatten diese nicht an jeder Versammlung teilgenommen und dann ihren Auftraggebern über Seine Schritte Bericht erstattet? „Frage die, die gehört haben, was ich zu ihnen geredet habe“, erwiderte Er dem Hohepriester. „Siehe, sie wissen, was ich gesagt habe.“ Johannes 18,21. DM.560.1 Teilen

Hannas wurde durch diese entschiedene Antwort zum Schweigen gebracht. Er befürchtete, dass Christus seine verwerfliche Handlungsweise enthüllen würde, und sagte jetzt nichts mehr zu Ihm. Einer seiner Diener, von Zorn erfüllt, als er sah, dass Hannas schwieg, schlug dem Herrn ins Gesicht und sprach: „Sollst du dem Hohepriester so antworten?“ Christus entgegnete: „Habe ich übel geredet, so beweise, dass es böse ist; habe ich aber recht geredet, was schlägst du mich?“ Johannes 18,22.23. Er sprach keine flammenden Worte der Rache. Seine ruhige Antwort kam aus einem sündlosen Herzen voller Geduld und Sanftmut, das sich nicht provozieren ließ. Doch litt Er schwer unter den Misshandlungen und Beleidigungen. Von den Geschöpfen, die Er selbst geschaffen hatte und für die Er sich aufzuopfern bereit war, empfing Er jede nur denkbare Schmach. Das Ausmaß Seines Leidens entsprach Seiner Vollkommenheit und Größe Seines Hasses gegen die Sünde. Sein Verhör durch Menschen, die sich wie Teufel aufführten, war für Ihn ein andauerndes Opfer. Von Menschen umgeben zu sein, die sich unter der Macht Satans befanden, war empörend für Ihn. Er wusste, dass Er durch ein plötzliches Aufleuchten Seiner göttlichen Kraft Seine Peiniger auf der Stelle in den Staub werfen konnte. Gerade das machte Seine Prüfung noch schwerer erträglich. DM.560.2 Teilen

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Die Juden erwarteten einen Messias, der sich in äußerlichem Glanz offenbaren würde. Sie stellten sich vor, dass er durch ein Hervorbrechen seines alles überwältigenden Willens die Gedanken der Menschen ändern und sie zur Anerkennung seiner Herrschaft zwingen würde. Dadurch, so meinten sie, sichere er seine eigene Erhöhung und befriedige auch ihre ehrgeizigen Hoffnungen. Als Christus nun Verachtung begegnete, war Er versucht, Sein göttliches Wesen zu offenbaren. Durch ein Wort, durch einen Blick konnte Er Seine Verfolger zu dem Bekenntnis zwingen, dass Er Herr war über Könige und Fürsten, über Priester und Tempel. Doch es war Seine schwere Aufgabe, sich zu der von Ihm erwählten Stellung als eins mit Menschen zu bekennen. DM.561.1 Teilen

Die Engel im Himmel beobachteten jede Tat, die sich gegen ihren Herrn richtete. Sie sehnten sich danach, Ihn zu befreien. Unter göttlicher Führung haben sie unbegrenzte Gewalt. Sie hatten bei einer Gelegenheit auf Christi Befehl hin 185000 Mann der assyrischen Streitkräfte in einer Nacht geschlagen. Wie leicht hätten die Engel beim Anblick des schmachvollen Verhörs Jesu ihre Empörung zeigen können, indem sie die Feinde Gottes vernichteten! Doch sie hatten dazu keinen Auftrag. Er, der Seine Feinde mit dem Tod hätte strafen können, ertrug ihre Grausamkeit. Die Liebe zu Seinem Vater und Sein von Anbeginn der Welt gegebenes Versprechen, der Welt Sünde auf Sich zu nehmen, veranlassten Ihn, ohne Klagen die rohe Behandlung derer zu ertragen, die zu retten Er gekommen war. Es war ein Teil Seiner Aufgabe, den ganzen Hohn und alle Verachtung zu tragen, die Menschen auf Ihn häufen konnten. Die einzige Hoffnung der Menschheit lag in dieser Unterwerfung Jesu. Er hatte nichts gesagt, woraus Seine Ankläger einen Vorteil hätten ziehen können; dennoch wurde Er gebunden als Zeichen, dass Er verurteilt war. Um aber den Schein der Gerechtigkeit zu wahren, musste eine gerichtliche Untersuchung erfolgen, und die Obersten waren entschlossen, rasch zu handeln. Sie unterschätzten nicht das Ansehen, dass Jesus beim Volk genoss, und sie fürchteten deshalb eventuelle Versuche, Ihn zu befreien, sobald die Nachricht von Seiner Haft überall bekannt wäre. Außerdem würden sich Verhör und Urteilsvollstreckung, brächte man das Verfahren nicht sofort zum Abschluss, wegen des Passahfestes um eine Woche verzögern, und dies hätte ihre Pläne vereiteln können. In der Sicherung der Verurteilung Jesu verließen sie sich stark auf die lärmende Menge, ein großer Bestandteil derer der Mob aus Jerusalem war. Sollte sich das ganze um eine Woche verzögern, würde die Erregung abklingen und vermutlich eine Gegenwirkung einsetzen. Der besonnenere Teil des Volkes träte auf die Seite Jesu. Viele würden ein Zeugnis zu Seiner Rechtfertigung ablegen und so die mächtigen Werke bekunden, die Er getan hatte. Dies riefe allgemeinen Unwillen gegen den Hohen Rat hervor. Dessen Verfahren würde missbilligt und Jesus wieder frei gelassen werden, wo Er aufs Neue die Huldigung der Menge entgegen nähme. DM.561.2 Teilen

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Die Priester und Obersten beschlossen deshalb, ehe ihre Absichten misslingen konnten, Jesus den Römern zu übergeben. Zuallererst aber musste ein ausreichender Anklagepunkt gefunden werden, bisher hatten sie jedoch nichts erreicht. Hannas befahl kurz entschlossen, Jesus zu Kaiphas zu bringen. Dieser gehörte zu den Sadduzäern, die mit zu den erbittertsten Feinden Jesu zählten. Er war, obwohl ihm jede charakterliche Stärke fehlte, genauso streng, unbarmherzig und gewissenlos wie Hannas. Er würde kein Mittel unversucht lassen, um Jesus zu vernichten. Es war früh am Morgen und noch dunkel. Mit Fackeln und Laternen zog der bewaffnete Haufen mit Christus zum Palast des Hohepriesters. Hier wurde, während sich unterdessen der Hohe Rat versammelte, der Herr wiederum von Hannas und Kaiphas verhört, aber auch jetzt ohne Erfolg. DM.562.1 Teilen

Als der Rat in der Gerichtshalle versammelt war, nahm Kaiphas seinen Platz als Vorsitzender dieser Versammlung ein. Auf beiden Seiten standen die Richter und alle, die ein sachlich begründetes Interesse an dem Verhör hatten. Die römischen Soldaten standen auf einer Art Tribüne unterhalb des Präsidentenstuhls und davor stand Jesus. Alle blickten auf Ihn. Es herrschte ungeheure Aufregung im Saal. Nur Christus war ruhig und gelassen. Die unmittelbare Atmosphäre, die Ihn umgab, schien von einer heiligen Kraft durchdrungen. DM.562.2 Teilen

Kaiphas hatte Jesus als Rivalen betrachtet. Der Eifer des Volkes, den Erlöser zu hören, und die offensichtliche Bereitschaft, Seine Lehren anzunehmen, hatten die erbitterte Eifersucht des Hohepriesters geweckt. Doch als Kaiphas auf den Gefangenen blickte, erfüllte ihn eine Bewunderung für dessen edles und würdiges Verhalten. Er wurde überzeugt, dass dieser Mann göttlicher Herkunft sein musste. Doch schon im nächsten Augenblick wies er diesen Gedanken verächtlich von sich. Sogleich befahl er dem Herrn mit spöttischer, anmaßender Stimme, vor dieser erwählten Versammlung eines seiner mächtigen Wunder zu tun. Aber seine Worte fanden keinerlei Echo beim Herrn. Die Menschen verglichen das aufgeregte, bösartige Verhalten der Hohepriester Hannas und Kaiphas mit der ruhigen, majestätischen Haltung Jesu. Selbst in den Herzen jener gefühllosen Menge erhob sich die Frage, ob dieser Mann von gottähnlichem Auftreten als ein Verbrecher verurteilt werden könne. DM.562.3 Teilen

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Kaiphas bemerkte diesen Einfluss auf die Menge und beschleunigte das Verhör. Jesu Feinde waren in großer Verwirrung. Sie waren entschlossen, Ihn zu verurteilen, aber sie wussten nicht, wie sie es machen sollten. Die Mitglieder des Rates setzten sich aus Pharisäern und Sadduzäern zusammen. Zwischen ihnen bestanden Spannungen und Feindschaften. Manche strittigen Themen wagte man aus Angst vor Streit nicht anzusprechen. Mit wenigen Worten hätte Jesus ihre gegenseitigen Vorurteile erregen und so ihren Zorn von sich abwenden können. Kaiphas wusste das, und genau das wollte er vermeiden. Viele konnten bezeugen, dass Christus die Priester und Schriftgelehrten angegriffen und sie Heuchler und Mörder genannt hatte. Doch dieses Zeugnis reichte nicht aus, um gegen Ihn vorzugehen, hatten doch die Sadduzäer bei ihren scharfen Auseinandersetzungen mit den Pharisäern ähnliche Ausdrücke gebraucht. Eine solche Anschuldigung hätten auch die Römer, die von dem anmaßenden Verhalten der Pharisäer angewidert waren, als belanglos angesehen. Es waren genug Beweise vorhanden, dass Jesus die Überlieferungen der Juden missachtet und über viele ihrer Vorschriften respektlos gesprochen hatte, doch bezüglich der Auslegung der Tradition standen sich Pharisäer und Sadduzäer feindlich gegenüber. Außerdem hätte so eine Beweisführung keinerlei Eindruck auf die Römer gemacht. Die Feinde Jesu wagten es nicht, Ihn wegen der Übertretung des Sabbatgebotes anzuklagen, weil sie fürchteten, dass eine Untersuchung das göttliche Wesen Seines Wirkens enthüllen würde. Wenn nämlich Seine Wundertaten bekannt würden, dann wäre die Absicht der Priester vereitelt. DM.563.1 Teilen

Falsche Zeugen waren bestochen worden, um Jesus des Aufruhrs und des versuchten Landesverrats anzuklagen. Ihre Aussagen aber erwiesen sich als unklar und widersprüchlich. Im Verhör widerlegten sie ihre eigenen Behauptungen. Jesus hatte am Beginn Seines Dienstes einmal gesagt: „Brecht diesen Tempel ab und in drei Tagen will ich ihn aufrichten.“ Johannes 2,19. DM.563.2 Teilen

In der bildhaften Sprache der Weissagung hatte Er so Seinen Tod und Seine Auferstehung vorhergesagt. „Er aber redete von dem Tempel seines Leibes“. Johannes 2,21. Die Juden hatten diese Worte Jesu wörtlich verstanden und gemeint, sie würden sich auf den Tempel in Jerusalem beziehen. Unter dem, was Christus gesagt hatte, konnten die Priester nichts finden, um es gegen Ihn zu verwenden, außer diesen Worten. Indem sie die falsch auslegten, hofften sie, einen Vorteil zu gewinnen. Die Römer hatten beim Wiederaufbau und zur Ausschmückung des Tempels geholfen und waren stolz auf ihn. Ihn zu missachten, würde gewiss ihren Unwillen hervorrufen. Hier konnten Römer und Juden, Pharisäer und Sadduzäer sich einigen, denn sie alle hielten den Tempel in hohen Ehren. Es wurden zwei Zeugen gefunden, deren Aussagen nicht so widerspruchsvoll waren wie die der anderen. Einer von ihnen, der bestochen war, Jesus anzuklagen, sagte nun aus: „Er hat gesagt: Ich kann den Tempel Gottes abbrechen und in drei Tagen aufbauen.“ Matthäus 26,61. So wurden Jesu Worte entstellt, die selbst vor dem Hohen Rat zu einer Verurteilung nicht ausgereicht hätten, wenn sie wahrheitsgemäß wiedergegeben worden wären. Wäre Jesus nur ein einfacher Mann gewesen, wie die Juden behaupteten, so hätte man Seine Äußerungen nur als Ausdruck eines unvernünftigen, prahlerischen Geistes werten und sie nicht als Lästerung hinstellen können. Selbst in der missdeuteten Darstellung der falschen Zeugen enthielten Seine Worte nichts, was von den Römern als todeswürdiges Verbrechen angesehen werden könnte. DM.563.3 Teilen

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Geduldig hörte Jesus die sich widersprechenden Aussagen an, kein Wort äußerte Er zu Seiner Verteidigung. Schließlich verwickelten sich Seine Ankläger in Widersprüche, wurden verwirrt und wütend. Das Verhör brachte keinerlei Fortschritte. Es schien, als würden die Anschläge der Obersten fehlschlagen. Kaiphas war verzweifelt. Nun blieb nur noch eine letzte Möglichkeit offen: Christus musste gezwungen werden, sich selbst schuldig zu sprechen. Der Hohepriester sprang von seinem Richterstuhl auf, sein Gesicht war vor Zorn entstellt, seine Stimme und sein Verhalten verrieten deutlich, dass er den vor ihm stehenden Gefangenen niederschlagen würde, wenn er dazu die Macht hätte. „Antwortest du nichts auf das, was diese gegen dich bezeugen?“ (Matthäus 26,62), rief er aus. DM.564.1 Teilen

Jesus schwieg. „Als er gemartert ward, litt er doch willig und tat seinen Mund nicht auf wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird; und wie ein Schaf, das verstummt vor seinem Scherer, tat er seinen Mund nicht auf.“ Jesaja 53,7. Schließlich erhob Kaiphas seine rechte Hand zum Himmel und sprach zu Jesus eindringlich: „Ich beschwöre dich bei dem lebendigen Gott, dass du uns sagst, ob du der Christus bist, der Sohn Gottes.“ Matthäus 26,63. DM.564.2 Teilen

Auf diese Frage musste Jesus antworten. Es gibt eine Zeit zu schweigen, aber es gibt auch eine Zeit zu reden. Er hatte nicht gesprochen, bis Er direkt gefragt wurde. Er wusste, dass die Antwort auf diese Frage Seinen Tod besiegeln würde, doch diese Aufforderung wurde von dem Vertreter der höchsten Obrigkeit des jüdischen Volkes und im Namen des Allerhöchsten an Ihn gerichtet. Christus wollte nicht versäumen, dem Gesetz den schuldigen Respekt zu erweisen. Darüber hinaus war Seine ganze Beziehung zu Seinem himmlischen Vater in Zweifel gezogen. Er musste nun unmissverständlich Sein Amt und Seinen Auftrag bekennen, denn einst hatte Er Seinen Jüngern erklärt: „Wer nun mich bekennt vor den Menschen, den will ich auch bekennen vor meinem himmlischen Vater.“ Matthäus 10,32. Jetzt bekräftigte Er diese Lehre durch Sein eigenes Beispiel. Jedes Ohr war gespitzt, jeder Blick unverwandt auf Ihn gerichtet, als Er antwortete: „Du sagst es.“ Ein himmlisches Licht schien sein bleiches Antlitz zu erleuchten, als Er hinzufügte: „Doch sage ich euch: Von nun an werdet ihr sehen den Menschensohn sitzen zur Rechten der Kraft und kommen auf den Wolken des Himmels.“ Matthäus 26,64. DM.564.3 Teilen

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Für einen Moment leuchtete Christi Göttlichkeit durch Seine menschliche Gestalt hindurch. Der Hohepriester wich vor den durchdringenden Blicken des Heilands zurück. Sie schienen seine geheimen Gedanken zu lesen und brannten in seinem Herzen. Sein Leben lang vergaß er nicht diesen forschenden Blick, den der gepeinigte Sohn Gottes auf ihn gerichtet hatte. DM.565.1 Teilen

„Von nun an werdet ihr sehen den Menschensohn sitzen zur Rechten der Kraft und kommen auf den Wolken des Himmels.“ Matthäus 26,64. Mit diesen Worten schilderte Jesus das Gegenteil der momentanen Lage. Er, der Herr des Lebens und aller Herrlichkeit, wird zur Rechten des Allerhöchsten sitzen und über die Erde richten. Gegen Seine Entscheidung gibt es keine Berufung. Dann werden alle Geheimnisse im Licht der Gegenwart Gottes offenbar, und über jeden Menschen wird das Urteil gesprochen werden nach seinen Werken. DM.565.2 Teilen

Jesu Worte erschreckten den Hohepriester. Der Gedanke, dass es eine Auferstehung gebe, nach der alle Menschen vor dem Richterstuhl Gottes stehen und sie nach ihren Werken gerichtet würden, bereitete Kaiphas größtes Unbehagen. Er wollte nicht glauben, dass er nach seinem Tod den Urteilsspruch nach seinen Werken empfangen würde. Blitzschnell zogen an seinem geistigen Auge die Szenen des Jüngsten Gerichtes vorüber. Er sah die Gräber sich öffnen und die Toten hervorkommen mit all ihren Geheimnissen, die sie meinten, auf ewig verbergen zu können. Für einen Augenblick war ihm, als ob er selbst vor dem ewigen Richter stünde, der ihn mit einem Blick, dem alle Dinge offenbar sind, durchschaute und all seine Geheimnisse ans Licht brächte, die er mit sich ins Grab nehmen wollte. Der Priester fand aus jenem Geschehen wieder in die Wirklichkeit zurück. DM.565.3 Teilen

Christi Worte hatten ihn, den Sadduzäer, bis ins Innerste getroffen. Kaiphas leugnete die Lehre von der Auferstehung, dem Gericht und dem zukünftigen Leben. Nun wurde er von satanischer Wut befallen. Sollte dieser Mann, ein Gefangener, seine vornehmsten Lehren angreifen? Er zerriss sein Kleid, damit alle Anwesenden seine angebliche Erregung wahrnehmen konnten, und forderte, den Gefangenen ohne weitere Verhandlungen wegen Gotteslästerung zu verurteilen. „Was bedürfen wir weiterer Zeugen?“, rief er. „Siehe, jetzt habt ihr die Gotteslästerung gehört. Was ist euer Urteil?“ Matthäus 26,65.66. Da sprachen sie ihn alle des Todes schuldig. Überzeugung und Leidenschaft führten Kaiphas zu dem, was er tat. Er war auf sich selbst wütend, weil er Christi Worten glaubte. Aber statt sein Herz zu zerreißen mit dem vollen Bewusstsein für Wahrheit und Jesus als Messias zu bekennen, zerriss er sein Priestergewand in entschlossenem Widerstand. Diese Tat war von tiefer Bedeutung. Kaiphas wurde sich dessen kaum bewusst. Mit diesem Akt, der die Richter beeinflussen und die Verurteilung Christi herbeiführen sollte, verurteilte der Hohepriester sich selbst. Nach dem Gesetz Gottes war er zum Priesteramt unfähig geworden. Er hatte sich selbst das Todesurteil gesprochen. Ein Hohepriester durfte sein Gewand nicht zerreißen. Nach dem levitischen Gesetz war das bei Todesstrafe verboten. Es durfte unter gar keinen Umständen, bei keiner Gelegenheit geschehen. Es gehörte zum Brauch der Juden, beim Tod eines Freundes das Kleid zu zerreißen, nur die Priester waren davon ausgeschlossen. Christus hatte dazu durch Mose unmissverständliche Verordnungen gegeben. „Da sprach Mose zu Aaron und seinen Söhnen Eleasar und Ithamar: Ihr sollt euer Haupthaar nicht wirr hängen lassen und eure Kleider nicht zerreißen, dass ihr nicht sterbet und der Zorn über die ganze Gemeinde komme.“ 3.Mose 10,6. DM.565.4 Teilen

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Jedes Kleidungsstück, das der Priester trug, musste vollständig sein und ohne Fehler. Durch das vollkommene priesterliche Amtskleid sollte das makellose Wesen des großen Vorbildes Jesus Christus dargestellt werden. Allein die Vollkommenheit in Kleidung und Verhalten, in Wort und Geist war vor Gott akzeptabel. Gott ist heilig, und Seine göttliche Herrlichkeit und Vollkommenheit mussten durch den irdischen Dienst dargestellt werden — nur das konnte die Heiligkeit des himmlischen Dienstes richtig darstellen. Der sterbliche Mensch mochte sein Herz zerreißen, indem er sich reuevoll und demütig zeigte, das würde Gott erkennen. Aber ein priesterliches Kleid musste fehlerlos sein, sonst würde das Bild des Himmlischen entstellt werden. DM.566.1 Teilen

Der Hohepriester, der es wagte, mit einem zerrissenen Gewand zum heiligen Dienst zu erscheinen und die Aufgabe im Heiligtum zu tun, wurde angesehen, als hätte er sich von Gott getrennt. Indem er sein Kleid zerriss, wurde er von Gott nicht mehr als offizieller Priester angesehen. Eine Handlungsweise wie die des Kaiphas verriet menschlichen Zorn und menschliche Unvollkommenheit. DM.566.2 Teilen

Kaiphas machte durch das Zerreißen seines Gewandes das Gesetz Gottes wirkungslos, um menschlicher Überlieferung zu folgen. Eine menschliche Satzung gestattete einem Priester im Fall einer Gotteslästerung als Ausdruck des Abscheus vor der Sünde, seine Kleider zu zerreißen und dennoch schuldlos zu sein. So wurde Gottes Gebot durch Menschensatzungen aufgehoben. DM.566.3 Teilen

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Jede Handlung des Hohepriesters wurde vom Volk sehr aufmerksam verfolgt, und Kaiphas wollte offen seine Frömmigkeit zeigen. Doch in seinem Tun, das als Anklage gegen Christus gedacht war, schmähte er den, von dem Gott gesagt hatte, dass Sein Name in Ihm sei. Vgl. 2.Mose 23,21. Er selbst, Kaiphas, beging eine frevelhafte Lästerung. Und während er unter dem Verdammungsurteil Gottes stand, verurteilte er Christus als Gotteslästerer. DM.567.1 Teilen

Als Kaiphas sein Gewand zerriss, zeigte das, welche Position die Juden als Volk nun Gott gegenüber einnehmen würden. Das einst begünstigte Volk Gottes trennte sich von Ihm und wurde bald eine Nation, zu der Jahwe sich nicht mehr bekannte. Als Christus am Kreuz ausrief: „Es ist vollbracht!“ (Johannes 19,30) und der Vorhang im Tempel in zwei Stücke zerriss, erklärte der heilige Wächter, dass das jüdische Volk den verworfen hatte, der das Vorbild ihres ganzen Gottesdienstes, das Wesen aller ihrer Schatten war. Israel war von Gott geschieden. Dann mochte Kaiphas wohl sein Amtsgewand zerreißen, das ihn als Repräsentanten des großen Hohepriesters auswies, denn es hatte von nun an keine Bedeutung mehr für ihn und sein Volk. Durchaus mit Recht konnte der Hohepriester dann aus Entsetzen vor sich und seinem Volk sein Kleid zerreißen. DM.567.2 Teilen

Der Hohe Rat hatte Jesus der Todesstrafe für würdig erklärt, doch es war dem jüdischen Gesetz entgegen, einen Gefangenen in der Nacht zu verhören. Eine rechtskräftige Verurteilung konnte nur am Tag vor einer vollzähligen Versammlung des Hohen Rates geschehen. Trotzdem wurde der Heiland jetzt wie ein abgeurteilter Verbrecher behandelt und der Willkür niedrigster und gemeinster Menschen überlassen. Den Palast des Hohepriesters umgab ein großer Hof, in dem sich Soldaten und viele Neugierige versammelt hatten. Über diesen Hof wurde Jesus in den Wachraum geführt, begleitet von spöttischen Bemerkungen über Seinen Anspruch, der Sohn Gottes zu sein. Seine eigenen Worte, dass sie sehen würden „des Menschen Sohn sitzen zur Rechten der Kraft und kommen in den Wolken des Himmels“ (Matthäus 26,64), wurden immer wieder höhnisch wiederholt. Niemand schützte Ihn, während Er im Wachraum auf Sein rechtmäßiges Verhör wartete. Der unwissende Pöbel hatte die Grausamkeit gesehen, mit der Er vor dem Hohen Rat behandelt worden war. Deshalb erlaubten sie sich, alle satanischen Züge ihres Wesens zu zeigen. Christi würdevolles und gottähnliches Verhalten reizte ihren Zorn. Seine Sanftmut, Seine Unschuld und Seine göttliche Geduld erfüllten sie mit satanischem Hass. Barmherzigkeit und Gerechtigkeit wurden mit Füßen getreten. Niemals wurde ein Verbrecher so unmenschlich behandelt wie der Sohn Gottes. Doch eine tiefere Qual zerriss das Herz des Heilandes. Der Schlag, den Er hinnehmen musste, kam nicht von der Hand eines Feindes. Während Er vor Kaiphas die Niederträchtigkeiten des Verhörs ertrug, verleugnete Ihn einer Seiner treuesten Jünger. DM.567.3 Teilen

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Nachdem die Jünger ihren Meister im Garten Gethsemane verlassen hatten, wagten es zwei von ihnen, Petrus und Johannes, der Schar, die Jesus gefangen genommen hatte, in einiger Entfernung zu folgen. Den Priestern war Johannes als Jünger Jesu gut bekannt. Sie gestatteten ihm den Zutritt zum Verhandlungshaus in der Hoffnung, dass er sich als Zeuge der Demütigung Jesu von der Auffassung lossage, dass dieser Gottes Sohn sei. Durch Johannes erhielt auch Petrus die Erlaubnis, das Gebäude zu betreten. DM.568.1 Teilen

Im Hof hatte man ein Feuer angezündet, denn es war die kälteste Stunde der Nacht, kurz vor Anbruch der Morgendämmerung. Eine Gruppe von Menschen umstand das Feuer, und Petrus drängte sich dreist mitten unter sie. Er wollte nicht als Jünger Jesu erkannt werden. Indem er sich unbekümmert unter die Menge mischte, hoffte er für einen von denen gehalten zu werden, die Jesus zum Gerichtsgebäude gebracht hatten. Doch als ein Feuerschein auf sein Gesicht fiel, warf die Türhüterin einen prüfenden Blick auf ihn. Sie hatte ihn mit Johannes kommen sehen, hatte ihm auch seine gedrückte Stimmung gleich am Gesicht ablesen können und daher vermutet, dass dieser Mann ein Jünger Jesu sei. Sie gehörte zu den Dienerinnen im Hause des Kaiphas und war sehr neugierig. So sprach sie zu Petrus: „Du warst auch mit dem Jesus aus Galiläa.“ Matthäus 26,69. Petrus erschrak und wurde verwirrt; alle schauten ihn an. Da tat er so, als hätte er sie nicht verstanden. Doch die Magd gab nicht nach und sagte zu den Umstehenden, dass dieser Mann mit Jesus zusammen gewesen sei. Petrus fühlte sich dadurch zu einer Antwort genötigt und erwiderte ärgerlich: „Ich weiß nicht und verstehe nicht, was du sagst.“ Markus 14,68. Das war die erste Verleugnung, und unmittelbar darauf krähte der Hahn. O Petrus, so bald schon schämst du dich des Meisters, so bald schon verleugnest du deinen Herrn! DM.568.2 Teilen

Johannes hatte beim Betreten der Gerichtshalle gar nicht erst zu verbergen gesucht, dass er ein Nachfolger Jesu war. Er mischte sich nicht unter das grobe Volk, das seinen Herrn schmähte. Es fragte ihn auch niemand; denn er verstellte sich nicht und setzte sich so keiner Verdächtigung aus. Er wählte sich eine einsame Ecke, wo er der Aufmerksamkeit des Pöbels verborgen blieb, aber doch Jesus so nahe wie möglich war. Hier konnte er alles sehen und hören, was beim Verhör seines Herrn vor sich ging. DM.568.3 Teilen

Petrus dagegen wollte sich nicht zu erkennen geben. Indem er sich jetzt gleichgültig stellte, begab er sich auf den Boden des Feindes und wurde eine leichte Beute der Versuchung. Wäre er berufen worden, für seinen Meister zu kämpfen, dann wäre er bestimmt ein tapferer Streiter gewesen. Als man aber verachtend auf ihn schaute, erwies er sich als Feigling. DM.568.4 Teilen

Viele, die den offenen Kampf für ihren Herrn nicht scheuen, werden dagegen durch Spott und Hohn dahin gebracht, ihren Glauben zu verleugnen. Durch den Umgang mit Menschen, die sie besser meiden sollten, lassen sie sich auf den Weg der Versuchung locken. Sie fordern den Feind geradezu heraus, sie zu verführen, und sie sagen und tun dann schließlich das, woran sie unter anderen Umständen niemals schuldig geworden wären. Der Nachfolger Christi, der in unseren Tagen seinen Glauben aus Furcht vor Leiden und Schmähungen nicht frei bekennt, verleugnet seinen Herrn genauso wie einst Petrus im Hof des Gerichtshauses. DM.568.5 Teilen

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Petrus versuchte gleichgültig zu scheinen, aber sein Herz litt schwer, als er die grausamen Schmähungen hörte und die Misshandlungen sah, die Jesus zu ertragen hatte. Mehr als das: Er war überrascht und ärgerlich zugleich, dass der Herr sich und Seine Jünger derart demütigte, indem Er sich solch eine schmachvolle Behandlung gefallen ließ. Um seine wahren Gefühle zu verbergen, bemühte sich Petrus, sich den Verfolgern Jesu und ihren ungehörigen Spötteleien anzuschließen. Doch sein Auftreten war unnatürlich, und er handelte unaufrichtig. Obwohl er versuchte, unbefangen zu reden, gelang es ihm doch nicht, seinen Unwillen über die auf seinen Meister gehäufte Schmach zu unterdrücken. Zum zweiten Mal richtete sich aller Aufmerksamkeit auf ihn, und er wurde wieder beschuldigt, ein Nachfolger Jesu zu sein. Aber Petrus schwor: „Ich kenne den Menschen nicht.“ Matthäus 26,72. DM.569.1 Teilen

Noch eine andere Gelegenheit wurde ihm gegeben. Es war etwa eine Stunde später, als ihn ein Diener des Hohepriesters und naher Verwandter des Mannes, dem er das Ohr abgehauen hatte, fragte: „Sah ich dich nicht im Garten bei ihm?“ „Wahrhaftig, du bist einer von denen; denn du bist auch ein Galiläer.“ Johannes 18,26; Markus 14,70. Darüber wurde Petrus sehr wütend. Jesu Jünger waren gerade wegen ihrer einwandfreien Sprache bekannt. Um seine Fragesteller endgültig zu täuschen und um seine angenommene Haltung zu rechtfertigen, verleugnete Petrus seinen Herrn jetzt unter Fluchen und Schwören. Wiederum krähte der Hahn. Diesmal hörte ihn Petrus, und er erinnerte sich an die Worte Jesu: „Ehe der Hahn zweimal kräht, wirst du mich dreimal verleugnen.“ Markus 14,30. DM.569.2 Teilen

Noch während die herabsetzenden Schwüre aus dem Mund des Petrus kamen und das schrille Krähen von dem Hahn in seinen Ohren klang, wandte sich Jesus von den finster blickenden Richtern ab und schaute Seinen armen Jünger voll an. Im gleichen Augenblick wurden auch die Augen von Petrus zu seinem Meister hingelenkt. In Jesu Angesicht lag tiefes Mitleid und großer Kummer, aber es war kein Ärger darin zu sehen. DM.569.3 Teilen

Der Anblick jenes bleichen, gequälten Antlitzes, jener bebenden Lippen und jener erbarmenden und vergebenden Züge drang ihm wie ein Stachel tief ins Herz. Das Gewissen war erwacht, die Erinnerung wurde lebendig. Petrus dachte an sein vor wenigen Stunden gegebenes Versprechen, seinen Herrn ins Gefängnis, ja sogar in den Tod zu begleiten. Er erinnerte sich an seinen Kummer, als der Heiland ihm beim Abendmahl erzählte, dass er Ihn noch in dieser Nacht dreimal verleugnen würde. Eben erst hatte er erklärt, Jesus nicht zu kennen, doch nun wurde ihm in bitterem Schmerz bewusst, wie gut der Herr ihn kannte und wie genau er in seinem Herzen jene Falschheit gelesen hatte, die ihm selbst unbekannt geblieben war. Eine Flut von Erinnerungen überkam Petrus. Die Barmherzigkeit des Heilandes, Seine Freundlichkeit und Langmut, Seine Güte und Geduld gegen Seine irrenden Jünger — all das kam ihm wieder zum Bewusstsein. Ihm fiel auch Jesu Warnung ein: „Simon, Simon, siehe, der Satan hat begehrt, euch zu sieben wie den Weizen. Ich aber habe für dich gebeten, dass dein Glaube nicht aufhöre.“ Lukas 22,31.32. Er war entsetzt über seine Undankbarkeit, die Lüge und den Meineid. Noch einmal schaute er seinen Heiland an und sah eine frevelhafte Hand erhoben, um Jesus ins Gesicht zu schlagen. Unfähig, diese Szene länger zu ertragen, rannte er mit bekümmertem Herzen davon. DM.569.4 Teilen

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Es trieb ihn vorwärts in Einsamkeit und Dunkelheit, er wusste nicht wohin. Schließlich fand er sich im Garten Gethsemane wieder. Die Ereignisse der letzten Stunden wurden wieder in ihm lebendig. Das leidende Antlitz seines Herrn, vom Blutschweiß entstellt und vor Angst völlig verkrampft, stand ihm wieder vor Augen. In tiefer Reue dachte er daran, dass Jesus allein geweint und allein im Gebet gerungen hatte, während sie schliefen, anstatt in dieser schwierigen Stunde mit ihm verbunden zu sein. Er erinnerte sich an die ernste Aufforderung Jesu: „Wachet und betet, dass ihr nicht in Anfechtung fallt!“ Matthäus 26,41. Noch einmal erlebte er das Geschehen in der Gerichtshalle. Für sein wundes Herz war es eine Marter zu wissen, dass er zu der Erniedrigung und zu dem Schmerz des Heilandes den größten Beitrag geleistet hatte. An derselben Stelle, an der Jesus in Todesangst Seine Seele dem himmlischen Vater anvertraut hatte, fiel Petrus auf sein Angesicht und wünschte sich, einfach sterben zu können. DM.570.1 Teilen

Indem Petrus schlief, obwohl Jesus geboten hatte, zu wachen und zu beten, geriet er auf den Weg der Sünde. Alle Jünger erlitten einen schweren Verlust, weil sie in dieser kritischen Stunde schliefen. Christus kannte die Feuerprobe, durch die sie gehen mussten. Er wusste, was Satan tun würde, um ihre Sinne zu lähmen, damit sie der großen Prüfung unvorbereitet gegenüber stünden. Deshalb hatte Er sie gewarnt. Hätten sie diese Stunden im Garten Gethsemane gewacht und gebetet, dann würde sich Petrus nicht auf seine eigene schwache Kraft verlassen haben. Er hätte seinen Herrn nicht verleugnet. Hätten die Jünger mit Christus während Seines Ringens im Garten gewacht, wären sie vorbereitet gewesen, Zeugen Seines Leidens am Kreuz zu sein. Sie hätten das Ausmaß Seiner unaussprechlichen Qual annähernd verstanden. Sie wären auch fähig gewesen, sich an die Worte zu erinnern, mit denen Er Seine Leiden, Seinen Tod und Seine Auferstehung vorhergesagt hatte. Inmitten der Düsternis dieser schwersten Stunde hätte mancher Hoffnungsstrahl die Finsternis erhellt und ihren Glauben gestärkt. DM.570.2 Teilen

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Sobald es Tag war, versammelte sich der Hohe Rat erneut, und wieder wurde Jesus in den Versammlungsraum gebracht. Er hatte erklärt, der Sohn Gottes zu sein, und Seine Verfolger hatten dieses Bekenntnis in eine Anklage gegen Ihn selbst umgewandelt. Sie konnten Ihn deshalb aber noch nicht verurteilen, denn viele der Ratsmitglieder hatten an dem nächtlichen Verhör nicht teilgenommen und deshalb Seine Worte nicht gehört. Außerdem wussten sie sehr genau, dass das römische Gericht an diesen Worten nichts finden würde, was eine Todesstrafe rechtfertigen könnte. Doch wenn sie alle Zeugen Seiner eigenen Worte wären, dann könnte ihre Vorhaben noch Erfolg haben. Seinem Anspruch, der Messias zu sein, würden sie ein aufrührerisches, politisches Ziel unterstellen. „Bist du der Christus, so sage es uns!“, forderten sie Ihn auf. Aber Christus schwieg. Mit immer neuen Fragen bombardierten die Priester Ihn. Schließlich antwortete Er ihnen mit trauriger Stimme: „Sage ich‘s euch, so glaubt ihr‘s nicht; frage ich aber, so antwortet ihr nicht.“ Damit sie sich aber nicht entschuldigen konnten, fügte Er hinzu: „Von nun an wird der Menschensohn sitzen zur Rechten der Kraft Gottes.“ „Bist du denn Gottes Sohn?“, fragten sie darauf wie aus einem Munde, und Er antwortete ihnen: „Ihr sagt es, ich bin es.“ Sie aber riefen: „Was bedürfen wir noch eines Zeugnisses? Wir haben‘s selbst gehört aus seinem Munde.“ Lukas 22,67-71. DM.571.1 Teilen

So wurde Jesus zum dritten Mal von den jüdischen Obersten zum Tod verurteilt. Alles, was sie jetzt noch brauchten, war, so dachten sie, dass die Römer das Urteil bestätigten und ihnen den Herrn auslieferten. Dann kam es zum dritten Mal zu Misshandlungen und Schmähungen, die noch schlimmer waren als jene, die Jesus von dem unwissenden Pöbel hinnehmen musste. Dies alles geschah in der Gegenwart der Priester und Obersten und mit ihrer Zustimmung. Jedes Gefühl der Sympathie oder Menschlichkeit hatten sie verloren. Reichten ihre Argumente nicht aus, um Seine Stimme zum Schweigen zu bringen, so hatten sie andere Waffen, solche, wie sie zu allen Zeiten angewandt wurden, um Ketzer zum Schweigen zu bringen — Leiden, Gewalt und Tod. DM.571.2 Teilen

Als das Urteil gegen Jesus von den Richtern verkündet war, wurden die Leute von einer satanischen Wut erfüllt. Das Geschrei ihrer Stimmen glich dem Brüllen wilder Tiere. Die Menge stürzte auf den Herrn zu und rief: „Er ist des Todes schuldig.“ Matthäus 26,66. Wären nicht die römischen Soldaten da gewesen, Jesus hätte nicht mehr lebendig ans Kreuz geschlagen werden können. Er wäre vor seinen Richtern zerrissen worden, würden nicht die Römer dazwischengetreten sein und mit Waffengewalt die Ausschreitungen des Pöbels verhindert haben. Heidnische Männer ärgerten sich über die brutale Behandlung dessen, dem keine Schuld hatte nachgewiesen werden können. DM.571.3 Teilen

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Die römischen Offiziere erklärten, die Juden hätten mit der Verurteilung Jesu nicht nur gegen die römische Macht verstoßen, sondern auch gegen das jüdische Gesetz, das eindeutig verbiete, einen Menschen auf Grund seiner eigenen Aussage zum Tod zu verurteilen. Dieser Einwand ließ die Verhandlungen vorübergehend ins Stocken geraten, doch die jüdischen Obersten fühlten weder Schande noch Scham. DM.572.1 Teilen

Priester und Oberste vergaßen die Würde ihres Amtes und beleidigten den Sohn Gottes durch gemeine Redensarten. Sie verspotteten Ihn wegen Seiner Geburt, und sie erklärten, dass Seine Anmaßung, sich selbst als Messias auszugeben, den schlimmsten Tod verdient hätte. Die zügellosesten Gesellen waren dabei, den Heiland auf infame Weise zu misshandeln. Es wurde ein altes Gewand über Seinen Kopf geworfen, und Seine Verfolger schlugen Ihn ins Gesicht und riefen dabei: „Weissage uns, Christus, wer ist‘s der dich schlug?“ Matthäus 26,68. Als Ihm das Tuch wieder abgenommen wurde, spie ein dreister Bösewicht dem Herrn ins Angesicht. Die Engel Gottes verzeichneten gewissenhaft jeden beleidigenden Blick, jedes Wort und jede Tat, die gegen ihren Herrn gerichtet waren. Eines Tages werden alle, die das stille, bleiche Antlitz Christi verhöhnten und besudelten, dieses Antlitz in einer Herrlichkeit erblicken, die glanzvoller leuchtet als die Sonne. DM.572.2 Teilen

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