Portrait von Ellen White
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Kapitel 21: Joseph und seine Brüder
Kapitel 21: Joseph und seine Brüder
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Auf Grundlage von 1.Mose 41,54-57; 1.Mose 42-50. DPa.169 Teilen

Mit Beginn der fruchtbaren Jahre wurden auch schon die Vorbereitungen für die nahende Hungersnot getroffen. Unter Josephs Leitung errichtete man an allen wichtigen Orten in ganz Ägypten riesige Vorratshäuser und traf umfangreiche Vorkehrungen, den Überfluss der erwarteten Ernten unterzubringen. Diese Maßnahmen wurden in den 7 Jahren der Fülle so fortgesetzt, bis sich die Menge des eingelagerten Getreides überhaupt nicht mehr berechnen ließ. DPa.169.1 Teilen

Und dann begannen nach Josephs Voraussage die sieben Jahre der Dürre. „Da fingen an die sieben Hungerjahre zu kommen, wie Joseph gesagt hatte. Und es ward eine Hungersnot in allen Landen, aber in ganz Ägyptenland war Brot. Als nun ganz Ägyptenland auch Hunger litt, schrie das Volk zum Pharao um Brot. Aber der Pharao sprach zu allen Ägyptern: Geht hin zu Joseph; was der euch sagt, das tut. Als nun im ganzen Lande Hungersnot war, tat Joseph alle Kornhäuser auf und verkaufte den Ägyptern.“ 1.Mose 41,54-56. DPa.169.2 Teilen

Die Hungersnot erstreckte sich bis nach Kanaan; und auch in der Gegend, wo Jakob wohnte, litt man schwer darunter. Als Jakobs Söhne hörten, dass der ägyptische König ausreichend Vorsorge getroffen hatte, reisten zehn von ihnen dorthin, um Getreide zu kaufen. Bei der Ankunft wurden sie zum Bevollmächtigten des Königs geschickt, und mit anderen Bittstellern meldeten sie sich beim Herrscher des Landes. „Als nun seine Brüder kamen, fielen sie vor ihm nieder zur Erde auf ihr Antlitz ... Aber wiewohl er sie erkannte, erkannten sie ihn doch nicht.“ 1.Mose 42,6.8. Sein hebräischer Name war vom König durch einen anderen ersetzt worden. Zudem bestand wenig Ähnlichkeit zwischen dem ersten Minister Ägyptens und dem Jüngling, den sie an die Ismaeliten verkauft hatten. Als Joseph sah, wie sich seine Brüder verneigten und ihm huldigten, kamen ihm seine Träume in den Sinn, und die Ereignisse der Vergangenheit standen wieder lebendig vor ihm. Sein scharfes Auge überblickte die Gruppe und entdeckte, dass Benjamin nicht bei ihnen war. War auch er ein Opfer der unmenschlichen Grausamkeit dieser Männer geworden? Er wollte die Wahrheit wissen. „Ihr seid Kundschafter“, sagte er deshalb schroff, „und seid gekommen zu sehen, wo das Land offen ist.“ 1.Mose 42,9. Sie antworteten: „Nein, mein Herr! Deine Knechte sind gekommen, Getreide zu kaufen. Wir sind alle eines Mannes Söhne; wir sind redlich, und deine Knechte sind nie Kundschafter gewesen.“ 1.Mose 42,10.11. Joseph wollte feststellen, ob sie noch denselben hochfahrenden Sinn hätten wie damals, als er noch bei ihnen war. Außerdem wollte er ihnen auch Auskünfte über die Familie entlocken. Aber er wusste nur zu genau, dass sie ihn mit ihren Aussagen täuschen konnten. So wiederholte er seine Beschuldigung. Sie antworteten darauf: „Wir, deine Knechte, sind zwölf Brüder, eines Mannes Söhne im Land Kanaan, und der jüngste ist noch bei unserm Vater, aber der eine ist nicht mehr vorhanden.“ 1.Mose 42,13. DPa.169.3 Teilen

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Zum Schein bezweifelte der Regent die Wahrhaftigkeit ihrer Erzählung und gab vor, dass er sie noch immer als Kundschafter betrachte. Er wollte sie prüfen und verlangte von ihnen, dass sie in Ägypten blieben, bis einer von ihnen hingezogen wäre, um den jüngsten Bruder zu holen. Wenn sie dem nicht zustimmten, würden sie als Spione behandelt. Aber auf solche Forderung konnten Jakobs Söhne nicht eingehen. Bis sie das zeitlich schafften, waren ihre Familien in Hungersnot geraten. Und wer von ihnen würde die Reise allein machen wollen und seine Brüder im Gefängnis lassen? Wie hätte der Betreffende unter solchen Umständen dem Vater gegenübertreten können? Es schien ja durchaus möglich, dass sie umgebracht oder aber zu Sklaven gemacht werden sollten; und würde Benjamin gebracht, dann möglicherweise nur, um ihr Schicksal zu teilen. Sie entschlossen sich deshalb, zu bleiben und miteinander zu leiden, als dem Vater durch den Verlust des allein übriggebliebenen Sohnes neues Leid zuzufügen. Also wurden sie ins Gefängnis geworfen und blieben drei Tage darin. DPa.170.1 Teilen

In den Jahren nach der Trennung von Joseph hatten sich Jakobs Söhne in ihrem Charakter geändert. Sie waren neidisch und hinterlistig, grausam und rachsüchtig gewesen. Aber als sie nun in der Not auf die Probe gestellt wurden, erwiesen sie sich als selbstlos, einander treu, ihrem Vater ergeben und sogar als Männer mittleren Alters seiner Autorität untertan. DPa.170.2 Teilen

Die drei Tage im ägyptischen Gefängnis waren eine sehr sorgenvolle Zeit, in der die Brüder über ihre früheren Sünden nachdachten. Wurde Benjamin nicht herbeigebracht, schien ihre Verurteilung als Spione sicher. Sie hatten anderseits wenig Hoffnung, dass der Vater die Zustimmung zu Benjamins Reise geben würde. Am dritten Tag ließ Joseph seine Brüder vor sich bringen. Er wagte sie nicht länger in Haft zu behalten, da der Vater und die Familien möglicherweise schon Hunger litten. „Wollt ihr leben“, sagte er, „so tut nun dies, denn ich fürchte Gott: Seid ihr redlich, so lasst einen eurer Brüder gebunden liegen in eurem Gefängnis; ihr aber zieht hin und bringt heim, was ihr gekauft habt für den Hunger. Und bringt euren jüngsten Bruder zu mir, so will ich euren Worten glauben, so dass ihr nicht sterben müsst.“ 1.Mose 42,18-20. Mit diesem Vorschlag erklärten sie sich einverstanden, obwohl sie betonten, sie hätten nur geringe Hoffnung, dass ihr Vater Benjamin mit ihnen zurückkehren lassen würde. Da sich Joseph durch Dolmetscher mit ihnen verständigt hatte, vermuteten sie nicht, dass er sie verstehen könnte. Darum unterhielten sie sich in seiner Gegenwart offen miteinander. Sie klagten sich wegen der Behandlung Josephs gegenseitig an: „Das haben wir an unserm Bruder verschuldet! Denn wir sahen die Angst seiner Seele, als er uns anflehte, und wir wollten ihn nicht erhören; darum kommt nun diese Trübsal über uns.“ 1.Mose 42,21. Ruben war es, der bei Dothan den Plan zu Josephs Rettung ersonnen hatte, und er fügte nun hinzu: „Sagte ich’s euch nicht, als ich sprach: Versündigt euch nicht an dem Knaben, doch ihr wolltet nicht hören? Nun wird sein Blut gefordert.“ 1.Mose 42,22. Als Joseph das hörte, wurde er seiner Rührung nicht länger Herr; er ging hinaus und weinte. Nach seiner Rückkehr befahl er, Simeon vor ihren Augen zu binden und wieder ins Gefängnis zu werfen. Er war bei der grausamen Behandlung ihres Bruders der Anstifter und Haupttäter gewesen, darum fiel die Wahl auf ihn. DPa.170.3 Teilen

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Ehe Joseph seine Brüdern wieder ziehen ließ, gab er die Anweisung, sie mit Getreide zu versorgen und jedem das Geld heimlich wieder oben in den Sack zu legen. Er versah sie auch mit Futter für die Tiere zur Heimreise. Auf dem Weg öffnete einer von ihnen seinen Sack und war bestürzt, seinen Beutel mit Silber darin zu finden. Er sagte das den andern, die sich beunruhigt und erschrocken fragten: „Warum hat Gott uns das angetan?“ 1.Mose 42,28. — Sollten sie es als günstiges Zeichen vom Herrn ansehen, oder hatte er es zugelassen als Strafe für ihre Schuld, um sie in noch tiefere Not zu stürzen? Sie mussten sich eingestehen, dass Gott ihre Sünden gesehen hatte und sie nun dafür strafte. DPa.171.1 Teilen

Besorgt erwartete Jakob die Rückkehr seiner Söhne. Als sie ankamen, scharte sich das ganze Lager ungeduldig um sie, während sie dem Vater alles berichteten, was sich ereignet hatte. Furcht und Schrecken erfüllte sie alle. Das Verhalten des ägyptischen Regenten schien auf böse Absichten aus zu sein. Und ihre Befürchtungen wurden bestätigt, als sie die Säcke öffneten und in jedem das eigene Geld fanden. Kummervoll rief der alte Vater: „Ihr beraubt mich meiner Kinder! Joseph ist nicht mehr da, Simeon ist nicht mehr da, Benjamin wollt ihr auch wegnehmen; es geht alles über mich.“ Ruben antwortete darauf: „Wenn ich ihn dir nicht wiederbringe, so töte meine zwei Söhne. Gib ihn nur in meine Hand, ich will ihn dir wiederbringen.“ 1.Mose 42,36.37. Aber mit solchen voreiligen Worten war Jakobs Sorge nicht zu beheben. Seine Antwort lautete: „Mein Sohn soll nicht mit euch hinabziehen; denn sein Bruder ist tot, und er ist allein übriggeblieben. Wenn ihm ein Unfall auf dem Wege begegnete, den ihr reist, würdet ihr meine grauen Haare mit Herzeleid hinunter zu den Toten bringen.“ 1.Mose 42,38. DPa.171.2 Teilen

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Aber die Dürre hielt an, und im Laufe der Zeit war der Vorrat an Korn, das sie aus Ägypten mitgebracht hatten, fast aufgebraucht. Jakobs Söhne wussten nur zu gut, dass es nutzlos sein würde, ohne Benjamin nach Ägypten zurückzukehren. Und weil sie wenig Hoffnung hatten, dass sie ihres Vaters Entschluss ändern könnten, warteten sie stillschweigend auf einen Ausweg. Immer drückender machte sich die Hungersnot bemerkbar. Aus den sorgenvollen Gesichtern aller Lagerbewohner erkannte der alte Mann die Not, und schließlich sagte er: „Zieht wieder hin und kauft uns ein wenig Getreide.“ 1.Mose 43,2. DPa.172.1 Teilen

Juda antwortete ihm: „Der Mann schärfte uns das hart ein und sprach: Ihr sollt mein Angesicht nicht sehen, es sei denn euer Bruder mit euch. Willst du nun unsern Bruder mit uns senden, so wollen wir hinabziehen und dir zu essen kaufen. Willst du ihn aber nicht senden, so ziehen wir nicht hinab. Denn der Mann hat zu uns gesagt: Ihr sollt mein Angesicht nicht sehen, euer Bruder sei denn mit euch.“ 1.Mose 43,3-5. Als er merkte, dass der Vater in seinem Entschluss schwankend wurde, fügte er hinzu: „Lass den Knaben mit mir ziehen, dass wir uns aufmachen und reisen und leben und nicht sterben, wir und du und unsere Kinder.“ 1.Mose 43,8. Er bot sich als Bürge für den Bruder an und wollte für immer schuldig bleiben, falls er Benjamin seinem Vater nicht wiederbrächte. DPa.172.2 Teilen

Schließlich konnte Jakob seine Zustimmung nicht länger versagen und gebot seinen Söhnen, sich auf die Reise vorzubereiten. Er riet ihnen auch, dem Herrscher ein Geschenk von den Gütern mitzunehmen, die das vom Hunger heimgesuchte Land noch aufbrachte, „ein wenig Balsam und Honig, Harz und Myrrhe, Nüsse und Mandeln“ und auch den doppelten Geldbetrag. „Dazu nehmt euren Bruder“, sagte er, „macht euch auf und geht wieder zu dem Mann.“ 1.Mose 43,11.13. Als seine Söhne ihre ungewisse Reise antraten, richtete sich der greise Vater auf, erhob seine Hände zum Himmel und betete: „Aber der allmächtige Gott gebe euch Barmherzigkeit vor dem Manne, dass er mit euch ziehen lasse euren andern Bruder und Benjamin. Ich aber muss sein wie einer, der seiner Kinder ganz und gar beraubt ist.“ 1.Mose 43,14. DPa.172.3 Teilen

Wieder zogen sie nach Ägypten und meldeten sich bei Joseph an. Als dessen Auge auf Benjamin fiel, den Sohn seiner eigenen Mutter, wurde er tief bewegt. Doch verbarg er seine Gefühle und befahl, sie in sein Haus zu führen und ein gemeinsames Mittagsmahl vorzubereiten. Als die Brüder in den Palast des Regenten geführt wurden, befürchteten sie, das sei wegen des Geldes angeordnet, das sie in ihren Säcken gefunden hatten und sie nun zur Rechenschaft gezogen würden. Die Vermutung lag nahe, dass man es absichtlich wieder hineingetan hatte, um einen Vorwand zu haben, sie zu Sklaven zu machen. In ihrer Angst wandten sie sich an den Verwalter des Hauses und erklärten ihm die Umstände ihrer Ägyptenreise. Zum Beweis ihrer Unschuld erklärten sie ihm, sie hätten das in den Säcken gefundene Geld wieder mitgebracht und noch anderes dazu, um Nahrung zu kaufen. Und sie fügten hinzu: „Wir wissen aber nicht, wer uns unser Geld in unsere Säcke gesteckt hat.“ Der Mann erwiderte: „Seid guten Mutes, fürchtet euch nicht! Euer Gott und eures Vaters Gott hat euch einen Schatz gegeben in eure Säcke. Euer Geld habe ich erhalten.“ 1.Mose 43,22.23. Nun waren sie ihrer Sorge enthoben, und als Simeon, den man aus dem Gefängnis entlassen hatte, wieder zu ihnen kam, begriffen sie, dass Gott mit ihnen gewesen war. DPa.172.4 Teilen

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Als der Regent erneut mit ihnen zusammenkam, überreichten sie ihm ihre Geschenke und „fielen vor ihm nieder zur Erde“. 1.Mose 43,26. Wieder kamen ihm die Träume in den Sinn, und nachdem er seine Gäste begrüßt hatte, fragte er hastig: „Geht es eurem alten Vater gut, von dem ihr mir sagtet? Lebt er noch?“ Sie antworteten ihm: „Es geht deinem Knecht, unserm Vater, gut, und er lebt noch.“ 1.Mose 43,27.28. Danach verneigten sie sich wieder vor ihm. Als sein Blick auf Benjamin fiel, fragte er: „Ist das euer jüngster Bruder, von dem ihr mir sagtet?“ Dann fügte er hinzu: „Gott sei dir gnädig, mein Sohn!“ Von seinen Gefühlen überwältigt, konnte er nicht weiter sprechen; er eilte hinaus, „er ging in sein Gemach und weinte dort.“ 1.Mose 43,29.30. DPa.173.1 Teilen

Nachdem er seine Selbstbeherrschung wiedergewonnen hatte, kehrte er zurück, und für alle begann ein Festmahl. Nach den Gesetzen ihrer Kaste war es Ägyptern verboten, gemeinsam mit den Angehörigen eines anderen Volkes zu essen. Deshalb saßen Jakobs Söhne an einer Tafel für sich, während der Regent mit Rücksicht auf seinen Rang allein aß und auch die Ägypter an besonderen Tischen speisten. Als sie Platz genommen hatten, stellten die Brüder überrascht fest, dass sie alle in der genauen Reihenfolge ihres Alters saßen. „Und man trug ihnen Essen auf von seinem Tisch, aber Benjamin bekam fünfmal mehr als die andern.“ 1.Mose 43,34. Durch diese Bevorzugung Benjamins hoffte Joseph sich darüber Gewissheit zu verschaffen, ob sie ihrem jüngsten Bruder ebenso wie einst ihm selbst gegenüber Hass und Missgunst bewiesen. Da die Brüder noch immer annahmen, Joseph verstünde ihre Sprache nicht, unterhielten sie sich frei miteinander. So hatte er gute Möglichkeit, ihre wahren Gefühle kennenzulernen. Doch wollte er sie noch weiter prüfen und befahl vor ihrem Aufbruch, seinen eigenen silbernen Trinkbecher in dem Sack des Jüngsten zu verstecken. DPa.173.2 Teilen

Freudig traten sie die Heimreise an. Simeon und Benjamin waren bei ihnen, ihre Tiere mit Getreide beladen, und alle hatten das Gefühl, den Gefahren entronnen zu sein, von denen sie anscheinend umgeben gewesen waren. Aber sie hatten kaum die Stadtgrenze erreicht, als der Hausverwalter des Herrschers sie einholte und ihnen die vernichtende Frage stellte: „Warum habt ihr Gutes mit Bösem vergolten? Warum habt ihr den silbernen Becher gestohlen? Ist das nicht der, aus dem mein Herr trinkt und aus dem er wahrsagt? Ihr habt übel getan.“ 1.Mose 44,4.5. Dieser Becher hatte angeblich die Kraft, Gift zu entdecken, das man möglicherweise hineingetan hatte. In jener Zeit bewertete man solche Becher als Sicherung gegen Giftmord sehr hoch. Auf die Beschuldigung des Hausverwalters antworteten die Reisenden: „Warum redet mein Herr solche Worte? Es sei ferne von deinen Knechten, solches zu tun. Siehe, das Geld, das wir fanden oben in unsern Säcken, haben wir wiedergebracht zu dir aus dem Lande Kanaan. Wie sollten wir da aus deines Herrn Hause Silber oder Gold gestohlen haben? Bei wem er gefunden wird unter deinen Knechten, der sei des Todes; dazu wollen auch wir meines Herrn Sklaven sein.“ 1.Mose 44,7-9. DPa.173.3 Teilen

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„Ja, es sei, wie ihr geredet habt“, sprach der Hausverwalter, „bei wem er gefunden wird, der sei mein Sklave, ihr aber sollt frei sein.“ 1.Mose 44,10. DPa.174.1 Teilen

Sogleich begann die Durchsuchung. „Und sie legten eilends ein jeder seinen Sack ab auf die Erde“ (1.Mose 44,11), und der Hausverwalter untersuchte alle, indem er mit Ruben anfing und in der Reihenfolge bis zum Jüngsten weiterging. In Benjamins Sack fand er den Becher. DPa.174.2 Teilen

Zum Zeichen unaussprechlichen Jammers zerrissen die Brüder ihre Gewänder. Langsam kehrten sie in die Stadt zurück. Durch ihr eigenes Wort war Benjamin zur Sklaverei verdammt. Sie folgten dem Hausverwalter zum Palast, und da sie den Regenten dort noch vorfanden, fielen sie vor ihm nieder. „Wie habt ihr das tun können?“ fragte er. „Wusstet ihr nicht, dass ein solcher Mann, wie ich bin, wahrsagen kann?“ 1.Mose 44,15. Joseph wollte damit erreichen, dass sie sich schuldig bekennen würden. Zwar hatte er nie behauptet, die Gabe der Weissagung zu haben, aber er wollte sie glauben lassen, dass er die Geheimnisse ihres Lebens durchschauen könnte. DPa.174.3 Teilen

Juda antwortete: „Was sollen wir meinem Herrn sagen, oder wie sollen wir reden und womit können wir uns rechtfertigen? Gott hat die Missetat deiner Knechte gefunden. Siehe, wir und der, bei dem der Becher gefunden ist, sind meines Herrn Sklaven.“ 1.Mose 44,16. DPa.174.4 Teilen

„Das sei ferne von mir, solches zu tun!“ entgegnete er. „Der, bei dem der Becher gefunden ist, soll mein Sklave sein; ihr aber zieht hinauf mit Frieden zu eurem Vater.“ 1.Mose 44,17. DPa.174.5 Teilen

In seiner großen Not trat Juda dem Herrscher näher und rief aus: „Mein Herr, lass deinen Knecht ein Wort reden vor den Ohren meines Herrn, und dein Zorn entbrenne nicht über deinen Knecht, denn du bist wie der Pharao.“ 1.Mose 44,18. Mit rührender Beredsamkeit schilderte er des Vaters Kummer beim Verlust Josephs und sein Widerstreben, Benjamin mit nach Ägypten ziehen zu lassen, weil er der einzige Sohn seiner Mutter Rahel sei, die Jakob so sehr geliebt hatte. „Nun“, sagte er, „wenn ich heimkäme zu deinem Knecht, meinem Vater, und der Knabe wäre nicht mit uns, an dem er mit ganzer Seele hängt, so wird’s geschehen, dass er stirbt, wenn er sieht, dass der Knabe nicht da ist. So würden wir, deine Knechte, die grauen Haare deines Knechtes, unseres Vaters, mit Herzeleid hinunter zu den Toten bringen. Denn ich, dein Knecht, bin Bürge geworden für den Knaben vor meinem Vater und sprach: Bringe ich ihn dir nicht wieder, so will ich mein Leben lang die Schuld tragen. Darum lass deinen Knecht hierbleiben an des Knaben Statt als Sklaven meines Herrn und den Knaben mit seinen Brüdern hinaufziehen. Denn wie soll ich hinaufziehen zu meinem Vater, wenn der Knabe nicht mit mir ist? Ich könnte den Jammer nicht sehen, der über meinen Vater kommen würde.“ 1.Mose 44,30-34. DPa.174.6 Teilen

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Jetzt hatte Joseph Gewissheit. Er sah bei den Brüdern die Frucht echter Reue. Als er Judas edles Anerbieten hörte, befahl er deshalb allen Männern außer den Brüdern, den Raum zu verlassen. Dann rief er laut weinend: „Ich bin Joseph. Lebt mein Vater noch?“ 1.Mose 45,3. DPa.175.1 Teilen

Seine Brüder standen regungslos, stumm vor Furcht und Staunen. Der Herrscher Ägyptens war ihr Bruder Joseph, den sie beneidet hatten und umbringen wollten und schließlich als Sklaven verkauft hatten. Sie dachten daran, wie sie ihn behandelt hatten. Sie erinnerten sich, wie sie ihn um seiner Träume willen geschmäht und sich angestrengt hatten, deren Erfüllung zu verhindern. Und doch hatten sie ihr Teil dazu beigetragen, diese Träume zu erfüllen. Da sie nun vollständig in seiner Gewalt waren, würde er sich zweifellos für alle erlittene Ungerechtigkeit rächen. DPa.175.2 Teilen

Als er ihre Bestürzung sah, sagte er gütig: „Tretet doch her zu mir!“ Als sie näherkamen, fuhr er fort: „Ich bin Joseph, euer Bruder, den ihr nach Ägypten verkauft habt. Und nun bekümmert euch nicht und denkt nicht, dass ich darum zürne, dass ihr mich hierher verkauft habt; denn um eures Lebens willen hat mich Gott vor euch hergesandt.“ 1.Mose 45,4.5. Er fand, dass sie nun ihrer Grausamkeit wegen genug gelitten hatten, und so suchte er edel gesinnt, ihre Furcht zu vertreiben und die Bitterkeit ihrer Selbstvorwürfe zu mildern. DPa.175.3 Teilen

„Denn es sind nun zwei Jahre“, fuhr er fort, „dass Hungersnot im Lande ist, und sind noch fünf Jahre, dass weder Pflügen noch Ernten sein wird. Aber Gott hat mich vor euch hergesandt, dass er euch übriglasse auf Erden und euer Leben erhalte zu einer großen Errettung. Und nun, ihr habt mich nicht hergesandt, sondern Gott; der hat mich dem Pharao zum Vater gesetzt und zum Herrn über sein ganzes Haus und zum Herrscher über ganz Ägyptenland. Eilt nun und zieht hinauf zu meinem Vater und sagt ihm: Das lässt dir Joseph, dein Sohn, sagen: Gott hat mich zum Herrn über ganz Ägypten gesetzt; komm herab zu mir, säume nicht! Du sollst im Lande Gosen wohnen und nahe bei mir sein, du und deine Kinder und deine Kindeskinder, dein Kleinvieh und Großvieh und alles, was du hast. Ich will dich dort versorgen, denn es sind noch fünf Jahre Hungersnot, damit du nicht verarmst mit deinem Hause und allem, was du hast. Siehe, eure Augen sehen es und die Augen meines Bruders Benjamin, dass ich leibhaftig mit euch rede.“ 1.Mose 45,6-12. Nach diesen Worten fiel er „seinem Bruder Benjamin um den Hals und weinte, und Benjamin weinte auch an seinem Hals, und er küsste alle seine Brüder und weinte an ihrer Brust. Danach redeten seine Brüder mit ihm.“ 1.Mose 45,14.15. Demütig bekannten sie Joseph ihre Schuld und baten ihn um Vergebung. Sie hatten seinetwegen lange genug Angst und Gewissensnöte erduldet und waren nun froh, dass er noch am Leben war. DPa.175.4 Teilen

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Die Nachricht über das eben Vorgefallene gelangte schnell zum König, dem sehr daran lag, sich Joseph dankbar zu erweisen. Deshalb bestätigte er auch die Einladung an dessen Familie. Er sagte: „Das Beste des ganzen Landes Ägypten soll euer sein.“ 1.Mose 45,20. Überreich versehen mit Nahrung, Wagen und allem Notwendigen für den Umzug ihrer Familien und Begleitung nach Ägypten, wurden die Brüder heimgesandt. Benjamin aber beschenkte Joseph mit noch wertvolleren Gaben als die anderen Brüder. Weil er aber fürchtete, es könnten sich auf der Heimreise Streitigkeiten erheben, mahnte er sie beim Aufbruch: „Zankt nicht auf dem Wege!“ 1.Mose 45,24. DPa.176.1 Teilen

Die Söhne Jakobs kamen mit der freudigen Nachricht: „Joseph lebt noch und ist Herr über ganz Ägyptenland!“ (1.Mose 45,26) zu ihrem Vater zurück. Der alte Mann war zunächst überwältigt; er konnte nicht glauben, was er hörte. Aber als er den langen Zug der Wagen und Lasttiere sah und er Benjamin wieder bei sich hatte, war er überzeugt, und in übergroßer Freude rief er aus: „Mir ist genug, dass mein Sohn Joseph noch lebt; ich will hin und ihn sehen, ehe ich sterbe.“ 1.Mose 45,28. DPa.176.2 Teilen

Aber noch eine Demütigung blieb den zehn Brüdern nicht erspart. Sie bekannten nun dem Vater ihre Täuschung und Grausamkeit, die sein und ihr Leben so viele Jahre verbittert hatten. Jakob hätte solch gemeine Sünde bei ihnen nicht für möglich gehalten, aber er sah ein, dass sich alles zum Guten gewandt hatte. Er vergab seinen Kindern, die so Schlimmes getan hatten, und segnete sie. DPa.176.3 Teilen

Bald waren der Vater und seine Söhne mit ihren Familien, ihren Herden und dem zahlreichen Gesinde auf dem Weg nach Ägypten. Mit Freude im Herzen reisten sie zurück; und als sie nach Beerseba kamen, brachte der Patriarch ein Dankopfer dar. Er flehte dort den Herrn an, ihnen Gewissheit zu geben, dass er mit ihnen gehen würde. In einem Nachtgesicht kam das Wort Gottes zu ihm: „Fürchte dich nicht, nach Ägypten hinabzuziehen, denn daselbst will ich dich zum großen Volk machen. Ich will mit dir hinab nach Ägypten ziehen und will dich auch wieder heraufführen.“ 1.Mose 46,3.4. DPa.176.4 Teilen

Die Zusicherung „Fürchte dich nicht, nach Ägypten hinabzuziehen, denn daselbst will ich dich zum großen Volk machen“, war bedeutungsvoll. Abraham war eine Nachkommenschaft verheißen worden, die zahllos wie die Sterne sein sollte. Aber bis dahin war das erwählte Volk nur langsam gewachsen. Und das Land Kanaan war gerade jetzt kein Boden, auf dem sich ein Volk der Verheißung entsprechend hätte entwickeln können. Es war im Besitz mächtiger heidnischer Stämme, die erst „nach vier Generationen“ (1.Mose 15,16) vertrieben werden sollten. Wenn die Nachkommen Israels hier ein zahlreiches Volk werden sollten, mussten sie entweder die Einwohner des Landes verjagen oder sich unter sie zerstreuen. Das erstere konnten sie nicht, weil es nicht der Anordnung Gottes entsprach. Und vermischten sie sich mit den Kanaanitern, gerieten sie in Gefahr, zur Abgötterei verführt zu werden. In Ägypten aber waren die Bedingungen zur Erfüllung der göttlichen Absicht gegeben. Dort stand ihnen ein gut bewässerter, fruchtbarer Teil des Landes offen und bot günstige Gelegenheit für ihr schnelles Wachstum. Und die Abneigung, der sie auf Grund ihrer Beschäftigung begegnen mussten — „denn alle Viehhirten sind den Ägyptern ein Gräuel“ (1.Mose 46,34) — würde ihnen helfen, ein abgesondertes, für sich lebendes Volk zu bleiben und sich vom Götzendienst Ägyptens fernzuhalten. DPa.176.5 Teilen

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Als sie Ägypten erreichten, zogen sie direkt in das Land Gosen. Dorthin kam Joseph in seinem Staatswagen in Begleitung fürstlichen Gefolges. Aber vergessen waren gleich der Prunk seiner Umgebung und die Würde seiner Stellung. Ihn erfüllte nur ein Gedanke, nur ein Verlangen bewegte sein Herz. Als er die Reisenden herankommen sah, konnte er seine sehnsüchtige Liebe, die er so viele Jahre hatte unterdrücken müssen, nicht mehr bezwingen. Er sprang vom Wagen und lief seinem Vater entgegen, um ihn zu begrüßen. „Und als er ihn sah, fiel er ihm um den Hals und weinte lange an seinem Halse. Da sprach Israel zu Joseph: Ich will nun gerne sterben, nachdem ich dein Angesicht gesehen habe, dass du noch lebst.“ 1.Mose 46,30. DPa.177.1 Teilen

Joseph ließ sich von fünf seiner Brüder begleiten, um sie Pharao vorzustellen und von ihm die Verleihung des Landes ihrer zukünftigen Heimat zu erhalten. Aus Dankbarkeit gegenüber seinem obersten Verwalter hätte der Monarch sie wohl mit der Ernennung zu Staatsbeamten geehrt. Aber Joseph, der treue Anbeter Jahwes, wollte seine Brüder vor den Versuchungen bewahren, denen sie an einem heidnischen Hof ausgesetzt gewesen wären. Deshalb riet er ihnen, dem König frei und offen ihre Beschäftigung zu nennen, wenn er danach fragen würde. Jakobs Söhne folgten diesem Rat. Sie waren auch so vorsichtig zu erklären, dass sie nur als Gäste im Land verweilen und keine ständigen Bewohner werden möchten. Damit behielten sie sich das Recht vor, wegzuziehen, wann sie wollten. Der König wies ihnen eine Heimat zu und gab ihnen, wie versprochen, das Land Gosen, den „besten Ort des Landes“. 1.Mose 47,6. Nicht lange nach ihrer Ankunft stellte Joseph dem König auch seinen Vater vor. Dem Patriarchen war der Umgang an Königshöfen fremd, aber inmitten großartiger Landschaften hatte er mit einem Mächtigeren gesprochen. Und so erhob er jetzt im Bewusstsein seiner Überlegenheit die Hände und segnete Pharao. DPa.177.2 Teilen

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Bei der ersten Begrüßung Josephs hatte Jakob gesprochen, als ob er nach dem erfreulichen Ende seiner langen Angst und Sorge bereitwillig sterben wolle. Aber ihm waren noch siebzehn Jahre in der friedlichen Zurückgezogenheit Gosens vergönnt. Diese Jahre standen in glücklichem Gegensatz zu den vorangegangenen. Er erlebte an seinen Söhnen Beweise wahrer Reue und verstand, dass seine Familie hier von allen Bedingungen umgeben war, die für die Entwicklung zu einem großen Volk notwendig waren. Aber im Glauben hielt er fest an der sicheren Verheißung einer künftigen Niederlassung in Kanaan. Man umgab ihn mit allen Zeichen der Liebe und Verehrung, die der erste Minister Ägyptens ihm erweisen konnte. So verbrachte er, innerlich glücklich, in der Gesellschaft des so lange verloren geglaubten Sohnes ruhige und friedliche Lebensjahre. DPa.178.1 Teilen

Als er spürte, dass sein Ende nahte, ließ er nach Joseph rufen. Noch immer hielt er sich an Gottes Verheißung, dass sie Kanaan besitzen sollten, und sagte: „Lege deine Hand unter meine Hüfte, dass du die Liebe und Treue an mir tust und begräbst mich nicht in Ägypten, sondern ich will liegen bei meinen Vätern, und du sollst mich aus Ägypten führen und in ihrem Grab begraben.“ 1.Mose 47,29.30. Joseph versprach es, aber Jakob gab sich damit noch nicht zufrieden. Er verlangte einen feierlichen Eid, ihn an der Seite seiner Väter in der Höhle von Machpela beizusetzen. DPa.178.2 Teilen

Aber ihm lag noch an einer anderen Sache von großer Tragweite. Josephs Söhne sollten in aller Form in die Reihen der Kinder Israel aufgenommen werden. Als Joseph zur letzten Begegnung mit seinem Vater kam, brachte er Ephraim und Manasse mit. Diese jungen Männer hatten durch ihre Mutter Beziehungen zum höchsten Stand der ägyptischen Priesterschaft. Zudem eröffnete ihnen die Stellung ihres Vaters den Zugang zu Reichtum und Würden, wenn sie die Verbindung mit den Ägyptern vorzogen. Josephs Wunsch aber war, dass sie mit ihrem eigenen Volk verwachsen sollten. Er bekundete seinen Glauben an die Bundesverheißung auch im Namen seiner Söhne, indem er für sie auf alle Ehren verzichtete, die der ägyptische Hof ihnen bot und erwählte statt dessen den Dienst unter den verachteten Hirtenstämmen, denen Gottes lebendiges Wort anvertraut worden war. DPa.178.3 Teilen

Da sagte Jakob: „So sollen nun deine beiden Söhne Ephraim und Manasse, die dir geboren sind in Ägyptenland, ehe ich hergekommen bin zu dir, mein sein gleich wie Ruben und Simeon.“ 1.Mose 48,5. Sie sollten so an Kindes Statt angenommen und die Häupter eigener Stämme werden. Damit fiel eins der Erstgeburtsrechte, die Ruben verwirkt hatte, Joseph zu — ein doppelter Anteil in Israel. Jakob sah nicht so gut wegen seines Alters, darum hatte er die jungen Männer nicht bemerkt. Als er aber jetzt die Umrisse ihrer Gestalten wahrnahm, fragte er: „Wer sind die?“ Als man es ihm sagte, fügte er hinzu: „Bringe sie her zu mir, dass ich sie segne.“ 1.Mose 48,8.9. Als sie näher traten, umarmte sie der Patriarch, küsste sie und legte mit feierlichem Ernst segnend seine Hände auf ihre Häupter. Dann betete er: „Der Gott, vor dem meine Väter Abraham und Isaak gewandelt sind, der Gott, der mein Hirte gewesen ist mein Leben lang bis auf diesen Tag, der Engel, der mich erlöst hat von allem Übel, der segne die Knaben.“ 1.Mose 48,15.16. Daraus sprach keineswegs Überheblichkeit; das war kein Vertrauen auf menschliche Kraft oder Klugheit. Gott war sein Schützer und Helfer gewesen. Er klagte nicht über die bösen Tage der Vergangenheit. Seine Anfechtungen und Sorgen waren für ihn nicht mehr Ereignisse, von denen er sagte: „Es geht alles über mich.“ 1.Mose 42,36.37. In der Erinnerung rief er sich nur noch Gottes Barmherzigkeit und Liebe ins Gedächtnis zurück, die ihn auf seiner ganzen Pilgerreise begleitet hatten. DPa.178.4 Teilen

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Nachdem die Erteilung des Segens beendet war, versicherte Jakob seinem Sohn: „Siehe ich sterbe; aber Gott wird mit euch sein und wird euch zurückbringen in das Land eurer Väter.“ 1.Mose 48,21. Damit hinterließ er den künftigen Generationen in den langen Jahren der Knechtschaft und des Leides sein persönliches Glaubenszeugnis. DPa.179.1 Teilen

Schließlich wurden alle Söhne an Jakobs Sterbebett geholt. Jakob rief seine Söhne und sprach: „Versammelt euch, dass ich euch verkünde, was euch begegnen wird in künftigen Zeiten. Kommt zuhauf und höret zu, ihr Söhne Jakobs, und hört euren Vater Israel.“ 1.Mose 49,1.2. Wie oft hatte er voller Sorge an ihre Zukunft gedacht und sich die Geschichte der verschiedenen Stämme auszumalen versucht. Als seine Kinder jetzt den letzten Segen von ihm erwarteten, ruhte der Geist der Weissagung auf ihm, und im prophetischen Gesicht enthüllte sich ihm die Zukunft seiner Nachkommen. Nacheinander führte er die Namen der Söhne an, beschrieb den Charakter eines jeden und sagte in Kürze die künftige Geschichte des Stammes voraus. „Ruben, mein erster Sohn bist du, meine Kraft und der Erstling meiner Stärke, der Oberste in der Würde und der Oberste in der Macht.“ 1.Mose 49,3. So schilderte der Vater, wie der Sohn in seiner Stellung als Erstgeborener hätte sein sollen. Aber seine schwere Sünde bei Edar hatte ihn für den Erstgeburtssegen unwürdig gemacht. Jakob fuhr fort: „Weil du aufwalltest wie Wasser, sollst du nicht der Oberste sein.“ 1.Mose 49,4. DPa.179.2 Teilen

Das Priestertum wurde später Levi zugeteilt, das Königtum und die messianische Verheißung erhielt Juda, und den doppelten Anteil des Erbes empfing Joseph. Der Stamm Ruben gelangte nie zu irgendwelcher Bedeutung in Israel. Er war nicht so zahlreich wie Juda, Joseph oder Dan und gehörte mit zu den ersten, die in die Gefangenschaft geführt wurden. DPa.179.3 Teilen

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Dem Alter nach folgten auf Ruben Simeon und Levi. Sie waren sich einig gewesen in ihrer Grausamkeit gegen die Einwohner von Sichem und trugen auch die meiste Schuld am Verkauf Josephs. Über sie sagte Jakob: „Ich will sie versprengen in Jakob und zerstreuen in Israel.“ 1.Mose 49,7. Bei der Zählung des Volkes Israel kurz vor dem Einzug ins Land Kanaan war Simeon der kleinste Stamm. Und Mose erwähnte Simeon in seinem letzten Segen überhaupt nicht. Bei der Ansiedlung in Kanaan erhielt dieser Stamm nur einen kleinen Teil von Judas Anteil. Und wo einzelne seiner Familien später mächtig wurden, bildeten sie ganz verschiedenartige Gruppen und siedelten sich außerhalb des Heiligen Landes an. Auch Levi erhielt kein Erbe, ausgenommen 48 Städte, die über das ganze Land verstreut waren. In diesem Fall jedoch wurde der Fluch zum Segen, weil der Stamm Levi Gott die Treue hielt, als die anderen abfielen. Das sicherte ihre Berufung zum Dienst am Heiligtum. DPa.180.1 Teilen

Den krönenden Segen des Erstgeburtsrechts aber erhielt Juda. Die Bedeutung seines Namens — das Lob andeutet — offenbart sich in der geweissagten Geschichte dieses Stammes: „Juda, du bist’s! Dich werden deine Brüder preisen. Deine Hand wird deinen Feinden auf dem Nacken sein, vor dir werden deines Vaters Söhne sich verneigen. Juda ist ein junger Löwe. Du bist hochgekommen, mein Sohn, vom Raub. Wie ein Löwe hat er sich hingestreckt und wie eine Löwin sich gelagert. Wer will ihn aufstören? Es wird das Zepter von Juda nicht weichen noch der Stab des Herrschers von seinen Füßen, bis dass der Held komme, und ihm werden die Völker anhangen.“ 1.Mose 49,8-10. Der Löwe, der König der Wüste, ist ein passendes Sinnbild für diesen Stamm, aus dem David kam und der Sohn Davids, der wahre „Löwe aus dem Stamm Juda“, dem sich endlich alle Gewalten beugen und alle Völker huldigen sollen. DPa.180.2 Teilen

Den meisten seiner Kinder sagte Jakob eine glückliche Zukunft voraus. Zuletzt kam er zu Joseph, und des Vaters Herz floss über, als er Segen herabflehte auf den, der von seinen Brüdern getrennt war: „Joseph wird wachsen, er wird wachsen wie ein Baum an der Quelle, dass die Zweige emporsteigen über die Mauer. Und wiewohl ihn die Schützen erzürnen und gegen ihn kämpfen und ihn verfolgen, so bleibt doch sein Bogen fest, und seine Arme und Hände stark durch die Hände des Mächtigen in Jakob, den Hirten und Fels Israels. Von deines Vaters Gott werde dir geholfen, und von dem Allmächtigen seist du gesegnet mit Segen oben vom Himmel herab, mit Segen von der Flut, die drunten liegt, mit Segen der Brüste und des Mutterleibes. Die Segnungen deines Vaters waren stärker als die Segnungen der ewigen Berge, die köstlichen Güter der ewigen Hügel. Mögen sie kommen auf das Haupt Josephs und auf den Scheitel des Geweihten unter seinen Brüdern!“ 1.Mose 49,22-26. Jakob war immer ein Mann tiefer und heftiger Gemütsbewegungen gewesen. Die Liebe zu seinen Söhnen war stark und zugleich zart, und sein letztes Vermächtnis an sie enthielt keine Äußerung von Parteilichkeit oder Groll. Er hatte allen vergeben, und er liebte sie bis zuletzt. Seine väterlichen Gefühle hätten nur Worte der Hoffnung und Ermutigung gefunden, aber die Kraft Gottes ruhte auf ihm, und unter dem Einfluss seines Geistes musste er die Wahrheit mitteilen, auch wenn sie schmerzlich war. DPa.180.3 Teilen

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Nach den letzten Segenssprüchen wiederholte Jakob die Anweisung über seinen Begräbnisplatz: „Ich werde versammelt zu meinem Volk; begrabt mich bei meinen Vätern ... in der Höhle auf dem Felde von Machpela ... Da haben sie Abraham begraben und Sara, seine Frau. Da haben sie auch Isaak begraben und Rebekka, seine Frau. Da habe ich auch Lea begraben.“ 1.Mose 49,29-31. So zeigte die letzte Handlung seines Lebens den Glauben an Gottes Verheißung. DPa.181.1 Teilen

Seine letzten Jahre brachten Jakob nach leidvoller, mühseliger Lebenszeit einen ruhigen, heiteren Lebensabend. Dunkle Wolken hatten sich über seinem Lebensweg zusammengezogen, aber seine Sonne ging leuchtend unter, und Himmelsstrahlen verklärten die Abschiedsstunden. Die Schrift sagt: „Um den Abend wird es licht sein.“ Sacharja 14,7. — „Bleibe fromm und halte dich recht; denn einem solchen wird es zuletzt gut gehen.“ Psalm 37,37. DPa.181.2 Teilen

Jakob hatte gesündigt und dafür sehr gelitten. Viele Jahre mühseliger Arbeit voll Sorge und Kummer waren vergangen, seitdem er wegen seiner großen Schuld aus dem Zelt seines Vaters hatte fliehen müssen. Ein heimatloser Flüchtling war er gewesen, getrennt von seiner Mutter, die er nie wiedersah. Sieben Jahre arbeitete er um das Mädchen, das er liebte, und wurde dann doch hinterhältig betrogen. Zwanzig Jahre arbeitete er schwer für einen geizigen, habsüchtigen Verwandten. Zwar sah er den eigenen zunehmenden Wohlstand und um sich her seine heranwachsenden Söhne, aber er erlebte wenig Freude in der uneinigen, streitsüchtigen Familie. Er war bekümmert über die Schande seiner Tochter, die Rache ihrer Brüder, den Tod Rahels, Rubens Frevel, Judas Sünde, die grausam hinterlistige, böse Art, wie man mit Joseph verfahren war. Wie lang und düster ist doch die schlimme Liste, wenn man sie vor Augen sieht! Immer und immer wieder hatte er die Frucht seiner ersten unrechten Tat geerntet. Und darüber hinaus hatte er erlebt, wie sich bei seinen Söhnen die Sünden wiederholten, deren er sich bereits schuldig gemacht hatte. Aber so bitter die Lehre auch gewesen war, sie war nicht vergebens gewesen. Die Züchtigung hatte, wenn sie auch schmerzhaft war, „eine friedsame Frucht der Gerechtigkeit“ (Hebräer 12,11) gewirkt. DPa.181.3 Teilen

Das geisterfüllte Wort berichtet gewissenhaft auch die Mängel der Frommen, die Gottes Gnade in besonderem Maß erlebten. Ihre Fehler werden tatsächlich ausführlicher berichtet als ihre Vorzüge. Darüber haben sich viele gewundert, und den Ungläubigen bot es Anlass, über die Bibel zu spotten. Aber es ist gerade einer der stärksten Beweise für die Wahrheit der Heiligen Schrift, dass Tatsachen nicht beschönigt und die Sünden führender Persönlichkeiten nicht verheimlicht werden. Der menschliche Verstand ist dermaßen dem Vorurteil unterworfen, dass menschliche Berichterstattung nicht völlig unparteiisch sein kann. Wäre die Bibel nicht von geisterfüllten Menschen geschrieben worden, dann wären deshalb die Wesenszüge ihrer verdienten Männer sicher in einem schmeichelhafteren Licht dargestellt worden. So aber haben wir einen korrekten Bericht ihrer Erlebnisse. DPa.181.4 Teilen

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Auch gottbegnadete Menschen mit großer Verantwortung wurden manchmal in der Versuchung überwältigt und sündigten, genauso wie wir uns heute bemühen und doch oft schwanken und in Irrtum verfallen. Ihr Leben mit allen Fehlern und Torheiten liegt offen vor uns, einmal zur Ermutigung, zum andern zur Warnung. Wären sie ohne Schwächen dargestellt worden, müssten wir mit unserer sündigen Natur nach Irrtümern und Misserfolgen verzweifeln. Aber wenn wir erfahren, wie sich andere bei Schwierigkeiten hindurchkämpften, die den eigenen ähneln, und wenn wir wahrnehmen, wie sie in Versuchung fielen wie auch wir und doch wieder Mut fassten und durch Gottes Gnade ihrer Herr wurden, ermutigt uns das in unserm Ringen um Gerechtigkeit. So wie sie nach Rückschlägen doch wieder Grund fassten und von Gott gesegnet wurden, so können auch wir in der Kraft Jesu Überwinder werden. Andererseits kann uns ihre Lebensgeschichte zur Warnung dienen. Sie zeigt, dass Gott dem Schuldigen nichts durchgehen lässt. Er sieht auch bei den besonders Begnadeten auf die Sünde und geht mit ihnen strenger um als mit denen, die weniger Erkenntnis und Verantwortung erhalten haben. DPa.182.1 Teilen

Nach Jakobs Begräbnis begannen sich Josephs Brüder wieder zu fürchten. Trotz seiner Freundlichkeit machte sie ihr Schuldbewusstsein argwöhnisch und misstrauisch. Es konnte ja sein, dass er seine Rache mit Rücksicht auf den Vater nur aufgeschoben hatte und nun die so lange verzögerte Bestrafung ihrer Verbrechen vollziehen würde. Sie wagten darum nicht, persönlich vor ihm zu erscheinen, sondern sandten ihm eine Botschaft: „Dein Vater befahl vor seinem Tod und sprach: So sollt ihr zu Joseph sagen: Vergib doch deinen Brüdern die Missetat und ihre Sünde, dass sie so übel an dir getan haben. Nun vergib doch diese Missetat uns, den Dienern des Gottes deines Vaters!“ 1.Mose 50,16.17. Diese Botschaft rührte Joseph zu Tränen, und dadurch ermutigt, kamen seine Brüder und fielen vor ihm nieder mit den Worten: „Siehe wir sind deine Knechte.“ 1.Mose 50,18. Josephs Liebe zu seinen Brüdern war tief und selbstlos. Der Gedanke, dass sie ihm Rachsucht zutrauten, schmerzte ihn. „Fürchtet euch nicht!“ sagte er. „Stehe ich denn an Gottes Statt? Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen, aber Gott gedachte es gut zu machen, um zu tun, was jetzt am Tage ist, nämlich am Leben zu erhalten ein großes Volk. So fürchtet euch nun nicht; ich will euch und eure Kinder versorgen.“ 1.Mose 50,19-21. DPa.182.2 Teilen

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Josephs Lebenslauf veranschaulicht auch Christi Leben. Neid bewog Josephs Brüder, ihn als Sklaven zu verkaufen. Sie hofften dadurch zu verhindern, dass er mächtiger würde als sie. Und als er nach Ägypten verschleppt war, bildeten sie sich ein, er könnte ihnen mit seinen Träumen nun nicht mehr Verdruss bereiten, weil sie alle Möglichkeiten für ihre Erfüllung beseitigt hätten. Aber Gott durchkreuzte ihren selbst erdachten Weg und ließ genau das zustandekommen, was sie verhindern wollten. In ähnlicher Weise waren die jüdischen Priester und Ältesten eifersüchtig auf Christus, weil sie befürchteten, dass er das Volk von ihnen ablenken und für sich gewinnen würde. Sie brachten ihn um, damit er nicht König würde, aber gerade das hatte ihr Tun zur Folge. DPa.183.1 Teilen

Durch seine Knechtschaft in Ägypten wurde Joseph zum Retter der Familie. Doch dies verringerte keineswegs die Schuld seiner Brüder. In ähnlicher Weise wiederum machte die Tatsache, dass er durch seine Feinde gekreuzigt wurde, Christus zwar zum Erlöser der Menschheit, zum Heiland der Verlorenen und zum Herrscher über die ganze Welt; aber das Verbrechen seiner Mörder war deshalb genauso verabscheuungswürdig, als wenn Gottes Hand die Ereignisse zu seinem Ruhm und zum Heil der Menschen nicht gelenkt hätte. DPa.183.2 Teilen

Wie die eigenen Brüder Joseph an die Heiden, so verkaufte einer der Jünger Christus an seine bittersten Feinde. Joseph wurde wegen seiner Keuschheit fälschlich angeklagt und ins Gefängnis geworfen. So verachtete und schmähte man Christus, weil er durch sein gerechtes, selbstverleugnendes Leben die Sünder verurteilte. Obwohl er nichts Unrechtes getan hatte, wurde er durch die Aussage falscher Zeugen verurteilt. Josephs Geduld und Sanftmut trotz Ungerechtigkeit und Bedrückung, seine Vergebungsbereitschaft und Güte gegenüber solchen unnatürlichen Brüdern sind ein Bild des Heilandes, der Hass und Misshandlung durch böse Menschen ohne zu klagen erduldete, der nicht nur seinen Mördern vergab, sondern allen, die zu ihm kamen, ihre Sünden bekannten und Vergebung suchten. DPa.183.3 Teilen

Joseph überlebte seinen Vater um 54 Jahre. Er „sah Ephraims Kinder bis ins dritte Glied. Auch die Söhne von Machir, Manasses Sohn, wurden dem Hause Josephs zugerechnet.“ 1.Mose 50,23. Er erlebte Wachstum und Wohlstand seines Volkes, und in all den Jahren wurde er in dem Glauben nicht wankend, dass Gott Israel ins Land der Verheißung zurückführen werde. DPa.183.4 Teilen

Als er spürte, dass sein Ende nahe war, ließ er seine Angehörigen zu sich rufen. So sehr er im Land der Pharaonen geehrt worden war, bedeutete Ägypten für ihn doch nur Verbannung. Und so sollte das letzte Geschehen mit ihm bekunden, dass er zu Israel gehörte. Seine letzten Worte waren: „Gott wird euch gnädig heimsuchen und aus diesem Land führen in das Land, das er Abraham, Isaak und Jakob zu geben geschworen hat.“ 1.Mose 50,24. Und er nahm den Kindern Israel einen feierlichen Eid ab, dass sie seine Gebeine mit ins Land Kanaan nähmen. „Joseph starb, als er hundertundzehn Jahre alt war. Und sie salbten ihn und legten ihn in einen Sarg in Ägypten.“ 1.Mose 50,26. In den folgenden Jahrhunderten der Mühsal war jener Sarg eine Erinnerung an die Worte des sterbenden Joseph. Er bezeugte Israel, dass sie nur Fremdlinge in Ägypten waren, und er gebot ihnen, ihre Hoffnung auf das Land der Verheißung zu richten, weil die Zeit der Befreiung ganz gewiss kommen würde. DPa.183.5 Teilen

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